Aus dem Leben gefallen

Daniela Danzʼ Roman „Lange Fluchten“ handelt vom ausweglosen Sog tiefer Traurigkeit

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Constantin, ein ehemaliger Zeitsoldat, ist aus dem Leben gefallen. Seit er sich unerlaubt aus der Kaserne entfernt und drei Tage im Wald verbracht hat, entgleitet ihm sein Leben. Sein Aussetzer, sein Scheitern als Soldat ist der Beginn einer Flucht vor sich selbst. Der neue Roman „Lange Fluchten“ von Daniela Danz handelt von den Abgründen der Traurigkeit, dem Alkohol und der Erkenntnis der Ziellosigkeit – jenem Punkt im Leben, „von dem aus man sich aus den Angeln heben kann“. Constantin, der stets nur Cons genannt wird, wohnt im unteren Bereich eines Doppelstockcontainers neben dem Rohbau des Hauses, das er eigentlich für seine Familie bauen wollte. Über ihm wohnen seine Frau Anne und seine beiden Söhne. Die gemeinsamen Abendessen werden selten; Cons verschanzt sich rauchend und trinkend auf seinem Sofa – mal wütend, mal gleichgültig seinem scheinbar ausweglosen Schicksal gegenüber.

Der Protagonist erreicht immer wieder Punkte, „wo es genauso gut weitergehen wie aufhören“ könnte. Die Geduld seiner Frau, die über Jahre die Treue hält, sich um die gemeinsamen Kinder kümmert und ihren Mann verteidigt, stößt ihn ab. Es ist, als ekele er sich vor ihrer Schönheit, Kraft und Perfektion. Seine Gefühle sterben, „als stürben allmählich alle Nerven, alle Empfindungen in ihm ab“. Ziellos fährt er in seinem Geländewagen umher und verbringt die Nächte im Wald. Seine Frau bittet ihn, von seinen Streifzügen eine Tüte Milch mitzubringen. Erst nach zwei Tagen kommt er mit dieser nach Hause. Cons bringt die Kraft nicht auf, nach einer neuen Arbeit zu suchen. Den Termin zur Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung lässt er platzen, er rennt zitternd aus dem Bürogebäude. Obwohl Anne unermüdlich seine Nähe sucht – als sie ihm beispielsweise ein Schwalbennest im Rohbau zeigt, flammt in Cons für einen kurzen Moment die Erinnerung an die Liebe auf –, sucht er den Kontakt zu fremden Frauen: „Ich brauch das nicht mehr, dass mich jemand umarmt oder sonst was, schon gar nicht von Anne, bei fremden Frauen gibt es wenigstens noch einen Kick“, schimpft er vor seinem krebskranken Jugendfreund Henning. Dabei hatte er zuvor noch vor seiner traurig lächelnden Frau gestanden und gedacht: „Er möchte sie umarmen, doch sie ist zu weit weg.“ Cons reflektiert seine eigene Situation, denkt über das gemeinsame Leben mit seiner schönen Frau nach: „Rücken an Rücken hatten sie sich als kleines Kommando die Aufgaben geteilt“. Er fragt sich, wie es zu all dem kommen konnte, wo all die gemeinsamen Jahre geblieben sind, weshalb er „zu oft nicht zur Stelle gewesen“ ist, wenn seine Familie ihn brauchte, und warum er keine Kraft mehr hat, zu kämpfen. Cons findet keine Antwort: „Es gibt nichts dahinter, keinen Grund, keine Erwartung, keine Hoffnung“.

In einer Fernsehsendung hört er: „Die Welt ist noch da, man kann in sie zurückgelangen“. Doch Cons ist zutiefst hoffnungslos, Stück für Stück wird das Leben zur täglichen Last. Constantins Freund Henning weiß, dass er bald sterben wird, dass er vergessen wird und seine Eltern es ihm „übelnehmen“ werden, „dass ich vor ihnen gestorben bin“. Es bricht aus ihm heraus: „Die machen doch alle so weiter, die wollen alle nichts als es abschütteln, aufwachen und alles wieder gut. Ist ja verständlich, ich will mich auch abschütteln, loswerden will ich mich, abschaffen. Geht aber nicht, es dauert eben, es dauert sinnlos lange“. Alles wird mühselig. Cons will nichts mehr. Die Traurigkeit über sich selbst und das langsame Sterben des Freundes verstärken den Sog. Das Leben verengt sich immer mehr auf das Warten auf den Tod.

Selten verblüfft der knappe Klappentext eines Buches wegen seiner Absurdität und Banalität, doch das ist hier anders: Auf dem Rücken heißt es, Danzʼ Roman sei eine „Abenteuergeschichte“, „eine moderne Legende“, die vom „Sog des Scheiterns“ handle. Das ist jedoch viel zu kurz gegriffen. Nicht das berufliche und private Scheitern steht im Mittelpunkt, sondern das Scheitern liegt noch vor dem Beginn der Handlung des Romans. Der Sog der schweren Depression Constantins entfaltet sich in einer den Leser bezwingenden Härte; Daniela Danz hat die Entwicklung der psychischen Störung ihres Protagonisten in einer unter die Haut gehenden Perfektion beschrieben. Welches Ereignis einen Menschen aus der Bahn wirft, ist völlig unerheblich. Die Autorin führt dem Leser vor Augen, dass es seelische Wunden gibt, die nicht von alleine verheilen. Zeit ist für Cons ein irrelevanter Faktor. Er erkennt, dass seine Vergangenheit unwiederbringlich verloren ist, Zukunftspläne unmöglich sind und der Augenblick zu einem reinen Aushalten geworden ist. „Das Ziel, das ständig vor einem lag, liegt plötzlich hinter einem, und man weiß nicht mehr, wohin“.

Wie schwer es ist, einen neuen Weg einzuschlagen und sich einer Depression zu stellen, stellt Danz in ihrem Roman nachvollziehbar dar. Der Leser sieht die Welt mit den Augen des Protagonisten. Das macht die Figur nahbar und bietet ein gewisses Identifikationspotenzial. Danz schickt ihre Leser mit Cons auf eine albtraumhafte Achterbahnfahrt, vor deren ausweglosem Ende sich die Furcht kontinuierlich steigert. In Erwartung des Abgrundes beschleunigen sich die Ereignisse, Traum und Realität wechseln sich ab. Henning erhängt sich, Cons muss seinen Sarg tragen. Weinend läuft er durch den Wald und schreit gegen den Regen an. Und schließlich wagt er einen letzten Versuch der Annäherung an seine Familie. Daniela Danz hat mit „Lange Fluchten“ ein ungewöhnlich intensives Buch geschrieben, das sicherlich niemand so schnell vergessen wird.

Titelbild

Daniela Danz: Lange Fluchten. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
147 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783835318410

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