Singende Revolutionen
Urs Büttner hat eine ebenso anspruchsvolle wie anregende Studie über die gemeinschaftsstiftende Kraft von Poesie und Philologie seit der Heidelberger Romantik vorgelegt
Von Kaspar Renner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUrs Büttner beginnt seine überaus lesenswerte Dissertationsschrift mit dem Titel Poiesis des ‚Sozialen‘. Achim von Arnims frühe Poetik bis zur Heidelberger Romantik (1800–1808) mit einem kurzen Rückblick auf die sogenannte „Singende Revolution“, die sich am Ende der Sowjetherrschaft vor allem im heutigen Estland und Lettland vollzog: „Die verbotene Nationalflagge wurde wieder geschwenkt“, beschreibt Büttner diese Revolution mit Blick auf Estland, „und als großer Chor versammelte sich die Nation zu einem einzigen, gemeinsam singenden Klangkörper. Die Bilder dieses Sängerfestes flimmerten über die Fernseher in aller Welt.“ Und schließlich: „Was mit der Singenden Revolution begonnen hatte, erreichte gut drei Jahre später sein Ziel: Am 20. August 1991 erklärte sich Estland erneut zur unabhängigen Republik.“
Ausgehend von dieser Szene entfaltet Büttner in seiner Arbeit eine doppelte Perspektive, eine historische und eine methodologische. So fragt er zunächst nach den historischen Voraussetzungen, die eine solche Nationswerdung im Medium des Volkslieds allererst als denkbar erscheinen ließen. Verwiesen wird dabei auf Johann Gottfried Herders Projekt der Volkslieder von 1778/79, das seine Wirksamkeit im Baltikum vor allem in Gestalt der postumen Sammlung der Stimmen der Völker in Liedern von 1807 entfaltete, die insbesondere auch lettische, litauische und estnische Lieder in eigenen Kapiteln boten und daher entsprechende, nationalsprachlich gebundene Nachfolgesammlungen anregten. Vor allem geht es Büttner jedoch um die auf Herder folgenden Generationen der Romantiker, nämlich um Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn von 1805/06, die im abschließenden Kapitel einer gründlichen Relektüre unterzogen wird.
Diese historische Neuperspektivierung des Sammlungsprojekts erfolgt vor dem Hintergrund anspruchsvoller methodologischer Reflexionen, die in den ersten Kapiteln der Arbeit entwickelt werden. Hier verfolgt Büttner das Ziel, die Produktions- und Rezeptionsgeschichte von Projekten wie Des Knaben Wunderhorn in einer neuen Terminologie beschreibbar zu machen. Der Schlüsselbegriff ist die titelgebende Poiesis des ‚Sozialen‘. Ein klug gewählter Begriff, da er verschiedene Forschungsansätze in sich integriert und zu einer höheren Synthese zu führen vermag: So geht es Büttner um spezifisch poetische, poetologische und philologische Verfahren, die eine Produktion des Sozialen als gesellschaftlichen Handlungs- und Möglichkeitsraum bedingen. Dabei kombiniert Büttner begriffs- und diskursgeschichtliche Perspektiven: Das Soziale gewinnt seine Bedeutung demgemäß zuallererst durch gemeinschaftliche Handlungen; es konstituiert sich, wie im Fall der beschriebenen „Singenden Revolution“, in kollektiv vollzogenen Sprech- beziehungsweise Singakten.
In einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Romantikforschung, in deren Kontext Büttners Arbeit sich verortet, wird dieser Forschungsansatz präzisiert und zugleich weiter ausgestaltet: So greift die Arbeit neuere Ansätze auf, die, in kritischer Abwandlung von Carl Schmitts Diskussion der Politischen Romantik (so der Titel der bis in die 1960er-Jahre mehrfach neu aufgelegten Schrift) nach dem „Politischen der Romantik“ gefragt haben. Die Fokussierung auf das ‚Soziale‘, die Büttner davon ausgehend vorschlägt, ist insofern sinnvoll und produktiv, als damit die für das romantische Politik-Verständnis entscheidende Vorstellung einer Gemeinschaft jenseits der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft noch deutlicher in den Blickpunkt rückt. Konzeptuell fruchtbar ist Büttners Ansatz darüber hinaus, da er neben poetischen auch dezidiert philologische Verfahren der Gemeinschaftskonstitution berücksichtigt; das gilt insbesondere mit Blick auf das Projekt Des Knaben Wunderhorn von 1805-1808: Welche Lieder für diese Sammlung ausgewählt wurden, auf welche Weise sie bearbeitet wurden und wie sich die beiden Herausgeber Arnim und Brentano dabei ins Verhältnis zu ihrem als Volk imaginiertem Lesepublikum setzen – all das gehört in den Einzugsbereich einer politischen Romantikforschung, wie Büttner sie skizziert.
Als sinnvolle Vorentscheidung erweist es sich dabei, die eher diskursgeschichtliche Perspektive, die sich mit der Frage nach der „Politischen Romantik“ eröffnet, autor- und werkphilologisch zu fundieren: Achim von Arnims frühe Poetik bis zur Heidelberger Romantik (1800–1808) lautet daher der Untertitel der Studie. Das Projekt Des Knaben Wunderhorn wird also primär von Arnims Beitrag her in den Blick genommen. In gründlicher Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Stand der Arnim-Forschung, gerade mit Blick auf die umfangreich kommentierte Weimarer Arnim-Ausgabe, skizziert Büttner also zunächst Arnims Lebens-, Bildungs- und Lesegeschichte, die auf seine Autor- und Herausgeberschaft hinführt: Der Leser verfolgt mithin die Konstitution eines Autors, in dem sich die poetischen, wissenschaftlichen und politischen Diskurse der Romantik auf eine charakteristische Weise verschränken – was in Arnims Notiz- und Reisetagebüchern besonders deutlich wird –, um sich zu Fragen zu verdichten, die das Verhältnis von Staat, Individuum und Gesellschaft betreffen. Büttners These lautet, dass Arnim diese Probleme nicht nur durchlebt – so argumentiert das Kapitel zu Arnims Bildungsreise von 1801 bis 1804 –, sondern zugleich schreibend bearbeitet habe, und zwar quer durch verschiedene Medien, Formen und Gattungen: Mit dem Briefroman Hollin’s Liebeleben von 1800/01 beginnend, der die Vielheit individueller Stimmen noch durch eine Herausgeberfiktion zur Einheit führt, und in Des Knaben Wunderhorn von 1805/06 kulminierend, das ein neues Modell der poeto-philologischen Vergemeinschaftung implementieren soll.
Die inhärente Spannung des Wunderhorn-Projekts, die auch die weitere Rezeptionsgeschichte bestimmen wird, arbeitet Büttner im abschließenden Kapitel sehr gut nachvollziehbar heraus. Man könnte hier von einer typisch romantischen Gleichursprünglichkeit des „Sozialen“ und des „Nationalen“ sprechen, einer doppelten Poiesis also: Gleichsam als Transzendenzformel für eine künftige Gesellschaft, in der ständische Unterscheidungen aufgehoben sind, erscheint die Nation, jedoch nicht nur die Kultur-, sondern zugleich auch die institutionell verfasste Staats- und Kriegsnation. Büttner rückt Des Knaben Wunderhorn daher bereits in den Horizont der antinapoleonischen Befreiungskriege von 1806 bis 1808, insbesondere mit Blick auf Arnims Entwicklung, ohne den gängigen Kurzschluss zwischen Volkslied und allgemeiner Mobilmachung zu reproduzieren; „dass patriotische Gesänge keine Kanonen ersetzen können“, stellt Büttner nüchtern fest, dürfte auch Arnim klar gewesen sein. Ganz zutreffend wird jedoch auf die enge Beziehung zwischen Volksliedprojekt und nationalpatriotischer Publizistik hingewiesen, die in Arnims Vorrede Von Volksliedern bereits anklingt. So verdichtet sich in Des Knaben Wunderhorn gleichsam die Spannungsintensität zwischen progressiver Öffnung und restaurativer Schließung, welche die politische Romantik als Gesamtbewegung kennzeichnet. Zum differenzierteren Verständnis dieser Bewegung hat Urs Büttner mit seiner gleichermaßen methodisch reflektierten wie historisch fundierten Arbeit einen wichtigen Beitrag geleistet.
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