Unendliche Verzweigungen und Verflechtungen

Auf tausend Seiten erzählt Guntram Vesper in seinem Roman „Frohburg“ tausend Geschichten mit tausend Abwegen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Städtchen Frohburg liegt in einem Epizentrum des 20. Jahrhunderts. Mehrfach wurde die idyllische Landschaft zwischen Leipzig und der strahlenden Wismut-Zone an der tschechischen Grenze von historischen Umwälzungen heimgesucht: Das Kaiserreich verging, die Weimarer Republik scheiterte, die braune Diktatur brachte Krieg und wurde von der Sowjetherrschaft weggefegt. Den Menschen in Frohburg haben sich diese ideologischen Umbrüche bis in die feinsten biografischen Verästelungen einbeschrieben. Einer von ihnen ist der Autor Guntram Vesper, der hier vor 75 Jahren, am 28. Mai 1941, in eine Arztfamilie hineingeboren wurde, die im Städtchen wohl gelitten war, bis sie im Herbst 1957 in den Westen floh. Der in den 1960er-Jahren zum Autor gewordene Vesper behielt die alte Heimat freilich weiter im Blick. Er sammelte ein Leben lang Materialien und hob Erinnerungen auf, um sie in Jahre währender Arbeit zu einem dickleibigen Roman zusammenzufügen: Frohburg.

Er berichtet darin mit einer Erzähllust, die kein Innehalten und Atemholen kennt. Er entwirft ein breites Simultanbild, in dem sich die große Politik und der dörfliche Tratsch miteinander verquicken. Alles hängt mit allem zusammen, was es nicht leicht macht, wie er seinem Vater in den Mund legt, „aus dem unendlich breiten Strom der Ereignisse Einzelnes herauszulösen und mit Worten nachzuzeichnen und weiterzugeben“, denn „das ist kinderleicht nur dann, wenn man zu kurz zielt“. Vesper aber zielt ins Weite, wenn er den eng gestrickten, verwobenen Knäuel von Gehörtem und Erlebtem erzählend entwirrt und dabei stets der Gefahr begegnet, „den Faden zu verlieren“.

Genau so liest sich Frohburg: als ein lebhaftes, oft plauderndes Erzählen, das von einer Geschichte zur nächsten hüpft und dabei den situativen Anlass immer wieder mal aus den Augen zu verlieren droht. Doch Vesper erweist sich als ebenso virtuoser wie kluger Kolporteur, der nur dem Scheine nach die Zügel schleifen lässt. Unterschwellig verfolgt er konsequent ein Programm des Abirrens. Er lässt es zu, dass sich seine Erzählerfiguren – der Vater beispielsweise oder der Wohnungsnachbar Schlingeschön – von einer der „unendlichen Verästelungen, Verzweigungen und Verflechtungen, der vielen Verdeckungen und Verschüttungen“ auf Abwege (ver)führen lassen, um sie bei Gelegenheit mit einem „Zurück zu …“ oder „um auf ihn zurückzukommen …“ wieder zur Räson zu rufen, damit sie den ursprünglich ausgelegten roten Faden bis zur nächsten Abzweigung weiterspinnen. Der Autor erzeugt auf diese Weise eine sinnlich assoziative Spur, die situativ häufig an Spaziergänge durch das Städtchen oder an Motorradfahrten über Land gebunden ist. Beim Vorübergehen oder -fahren ergibt sich das eine logisch aus dem anderen: von Fritz Wolf, den Vater von früher her kennt, über die tot aufgefundene Tante zum Arztkollegen Reibrich, der in Haft war und nun mit dem Motorrad durch die Wismut-Zone knattert, wo sein Schwiegervater als Kantor wirkte, bis er, Reibrich, bei der verarmten Pestleiche anlangt und so weiter. 55 Seiten ohne Absatz oder Pause.

Das wäre quälend zu lesen, könnten wir uns nicht ganz natürlich von diesem ungekünstelten Erzählstrom mittragen lassen. Guntram Vesper, der bisher kürzere Prosa und Gedichte (nebst Hörstücken) schrieb, kümmert sich offenkundig nicht um die Romanökonomie. Dieser Mangel ist eine der Stärken seines Buches. Es wird förmlich spürbar, wie dem Autor und mit ihm seinen Erzählerstimmen, das Herz überquillt beim Erinnern nach dem Motto, wie es eine Zeitzeugin ausspricht: „wer will es mir verdenken, wenn ich mir die ganze Geschichte nach meinem Gusto zurechtbiege, die wird nicht weniger wahr als jede andere, ganz wahr ist keine.“

Innerhalb dieses immensen Erzählkosmos, der sich um das Epizentrum Frohburg ausfaltet, finden sich mehrere Kristallisationskerne und „Verwüstungszonen“, die der Vielfalt Halt verleihen. Guntram Vesper berichtet Anekdoten aus der eigenen Familiengeschichte, in der sich die periodischen Verwerfungen und Umbrüche spiegeln. Die Frohburger wandelten und wendeten sich mit – oder sie verschwanden in Bautzen und im Ausland, je nachdem. Es geht im Roman immer auch um Flucht und Vertreibung. Die Grenzen zwischen braun und rot wurden streng gezogen und blieben zugleich höchst diffus. Manch einer machte zweimal Karriere, während andere unbescholten in Haft kamen. Schuld oder Unschuld – wer wusste schon, was wann Gültigkeit besaß. Unterschwellig, so deutet Vesper an, schwelte eine Unrast, die sich teils in einer „Schwarmgeisterei“ ausdrückte, wofür das Erzgebirge seit je bekannt sei; teils brach sie in einer verdorbenen Geilheit durch, der Vergewaltigung näher stand als erotisches Spiel. Gewalt ist allenthalben spürbar.

Vesper zeichnet lebhafte Figuren und eine geliebte Landschaft voller Geheimnisse und Schönheiten. Die geschilderte Atmosphäre ist von einem Kokon des Ahnens und des Mutmaßens eingehüllt. Der Autor nährt die Unsicherheit, indem er chronologisch immer wieder vor- und zurückspringt, Ereignisse aus der braunen Epoche unvermittelt neben solche der roten Jahre stellt. Mehrere Mord- und Räubergeschichten verleihen dem Roman ein (freilich gebrochenes) Element der Spannung. So wurde der Vater Vesper Ende der 1940er-Jahre ärztlicher Zeuge eines Doppelmords an zwei Mädchen, dessen Aufklärung sich im Dunstkreis von ländlicher Dumpfheit und sowjetischer Besatzung verflüchtigt.

Subtil streut Guntram Vesper Figuren und Motive ein, die quer durch das Buch immer wieder auftauchen und so ein feinstoffliches Netz darüber legen. Dazu zählen vor allem auch Lektüren und Bücher, die den jungen Guntram früh schon faszinierten und denen er bis heute in Antiquariaten nachspürt. Allem voran die Werke Karl Mays, der aus dem nahe gelegenen Hohenstein-Ernstthal stammt, begleiten ihn die ganze Zeit über – im drangsalierten Helden aus dem Roman Das Buschgespenst erkennt sich der  Junge selbst wieder.

So engmaschig er erzählt, und so sehr er versucht, alle Lücken zu schließen, es tun sich doch immer neue auf, wie der Autor selbst eingesteht: „Jetzt muss ich mit dieser Lücke wie mit hundert anderen Lücken zurechtkommen und aus den Bruchstücken das Ganze erraten.“ Tatsächlich machen einen all die Figuren und Begebenheiten, die kommen und bleiben oder gehen, beim Lesen etwas schwindeln. Am Ende behält immer die subjektive Wahrnehmung des Autors das letzte Wort. Es sind diese Subjektivität und Vespers Leidenschaft, die dem verästelten Erzählgefüge eine Kompaktheit verleihen, die sich formal in den seitenlangen, absatzlosen Textblöcken widerspiegelt. Diese erinnern sehr an den wiederholt erwähnten Peter Weiss und seine Ästhetik des Widerstands. Guntram Vesper erzählt farbiger, quirliger als Weiss, gemeinsam ist beiden, dass sie eine ausufernde Totalität prosaisch zu bewältigen versuchen. Einen konkreten Berührungspunkt zwischen den beiden Autoren bildet Harro von Schulze-Boysen respektive dessen Frau Libertas Schulze-Boysen, geborene Libertas Viktoria Haas-Heye, deren Mutter eine geborene Fürstin zu Eulenburg war: obersächsischer Uradel aus dem weiteren Umfeld von Frohburg und somit Teil von Vespers Universum.

Frohburg ist ein lebhaft erzähltes, vor Erzähllust geradezu überquellendes Buch, das einen kaum innehalten lässt. Letzteres lässt sich als Schwierigkeit nicht hinwegreden. Wie diesen 1.000-seitigen Wälzer bewältigen? Der anekdotische Reichtum lässt eine gestaffelte Lektüre angenehm erscheinen, doch dagegen stellen sich die formale Strenge und die sich unendlich verschlingenden Erzählfäden mit all den feinen Übergängen. Wer immer sich in das Buch vertieft, hat für sich diesen Widerspruch zu lösen. Das ist der Preis für eine Literatur, die in sich ruht und deren Autor nicht voreilig aufs Lesepublikum schielt.

Dass Guntram Vesper für seinen Roman mit dem Leipziger Buchpreis 2016 ausgezeichnet wurde, ist ebenso verdient wie auch ein wenig überraschend.

Titelbild

Guntram Vesper: Frohburg. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
1008 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783895616334

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