Luther kompakt

Zentrale Luther-Texte auf 200 Seiten

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Martin Luther ist in der Dekade, die dem Reformationsjubiläum 2017 vorausgeht, viel gesagt, geschrieben und geforscht worden. Vita, Credo und Lehre des gelehrten Kirchenmannes scheinen restlos erzählt und aufgeklärt. Ob der Wittenberger immer verständlicher geworden ist, muss offen bleiben. Nun sind im Prozess der Totalerforschung und Vereinnahmung des streitbaren wie widersprüchlichen Reformators zwar umfangreiche Editionen mit Luther-Egodokumenten erschienen, seine Original-Texte wurden aber nicht unbedingt in Ausgaben bereitgestellt, die auch eine breite Leserschaft adressieren. Ebenso wenig wurde der selbstbewusste Querdenker immer wortwörtlich und ausführlich zitiert, sondern oft nur selektiv paraphrasiert. Der von Martin H. Jung besorgte Band will Abhilfe schaffen und bietet eine Auswahl zentraler Luther-Texte im fast-Original, versehen mit knappen Kommentaren.

Warum Luther im Original lesen? Neben dem unbedingten Gottesglauben war es die Heilige Schrift, die für Luther den Maßstab christlicher Existenz und Heilsgewissheit bedeutete. Jeder Christenmensch sollte sich selbst mit dem authentischen Wort Gottes beschäftigen. Nicht umsonst investierte der Wittenberger so viel Energie, Zeit und Talent in die Übersetzung der Bibel in ein lebendiges Deutsch mit klarer Orientierung am Sprachstand des gemeinen Mannes. Seine eigenen Kommentare und Schriften wurden indessen häufig abgekürzt, ihre vermeintliche Essenz gern in Anekdoten, derben Sprüchen oder prägnanten Redewendungen und Wortschöpfungen präsentiert und popularisiert. Die denkerische Spannbreite des dialektischen Theologen ist dabei oft auf der Strecke geblieben und sein fragmentarisch überliefertes Gottes- und Weltbild unzureichend ausgelegt worden. Luther zu lesen, zumal im Original, bedeutet Arbeit. Die muss sich machen, wer den ganzen und echten Luther, den zum Teil rabiaten, den fehlerhaften wie den hellsichtigen und kenntnisreichen verstehen will. So wie Luther die Selbstlektüre der Heiligen Schriften anmahnte, so wahrhaftig wird er nur in vollständigen O-Tonausgaben fassbar.

Der Band wählt bekannte und wichtige Texte des Hauptreformators aus, die auch heute noch von Relevanz sind. Die Titel sind entweder mehrheitlich bekannt, sind häufig Thema, etwa weil sie über den oder das Andere/Fremde kontrovers diskutieren, oder es wird in ihnen das Denken und Streiten Luthers in gleichsam typischer Weise erfahrbar. Aufgenommen sind 27 Dokumente, wobei sich der Reigen an die Biographie Luthers anlehnt, aber nicht streng chronologisch angeordnet ist. Zu den Erinnerungen, Sermonen, Thesen, Mahnungen, Anleitungen und Disputen gehören unter anderem die Tischrede, die das Gewitter-Erlebnis von 1505 zum Besten gibt, die 95 Thesen zum Ablass von 1517, Ausschnitte aus den drei bekannten Reform- und Kritikschriften des Jahres 1520 (An den christlichen Adel, Von der Freiheit eines Christenmenschen, Über die babylonische Gefangenschaft der Kirche), Stellungnahmen für und wider die römische Kirche, die Juden und Moslems, auch die Radikalverurteilung der Bauern und schließlich ein Vademekum in 20 Punkten, wie sich der Christenmensch am besten auf den Tod vorbereite. Gerahmt wird das Repertorium durch Zeugnisse zweier Weggefährten, und zwar die von Philipp Melanchthon angefertigte Kurzbiografie am Anfang und Justus Jonas‘ Bericht über Luthers Sterben und Tod am Ende.

Der Band will einen authentischen, aber auch leicht lesbaren Luther präsentieren. Beides unter einen Hut zu bekommen, ist schwierig. Sicherlich ist diese Zielsetzung durch das Bandformat und das Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) als Herausgeber mit vorgegeben. Wie dem auch sei, der Originalitäts-Anspruch wird nur halb eingelöst. Zum einen sind viele Texte in Auszügen bereitgestellt, zum anderen liegt ein ins Neuhochdeutsche übersetzter Luther vor. Der schrieb lateinisch oder in einer am Meißner Kanzleideutsch orientierten Ausgleichssprache, die zwar auch heute verständlich, aber nicht ohne Tücken ist. Martin H. Jung greift auf die große Lutherquellenausgabe „Luther deutsch“ von Kurt Aland zurück, übersetzt und formuliert aber vielfach neu. Wer die vollständigen und (originalen) Originaltexte lesen möchte, muss auf die diversen Quelleneditionen zurückgreifen, die angegeben und übersichtlich mit den jeweiligen Passagen verlinkt sind.

Ist der Band empfehlenswert? Unbedingt, es wird viel mehr als in einem unkritischen Luther-Verschnitt geboten. Der Band ist handlich und die Stücke-Auswahl ist vielseitig, darüber hinaus leisten die prägnanten Kommentare, die jedem Text vorangehen und zusätzlich an neuralgischen Stellen in den umfangreichen Schriften eingefügt sind, wertvolle Verständnishilfe. Soviel wird klar: Luther fühlte sich als Werkzeug Gottes, seine Denk- und Redeweise entpuppt sich als totalitär in ihrem Anspruch, die Bibel wahrhaftig auszulegen. Das unverhandelbare Insistieren auf dem Prinzip „sola scriptura“, mit dem das von Gott offenbarte Wort absolut gesetzt wird, zeigt zum einen die Argumentationsfestigkeit und Logik Luthers. Zum anderen kommt seine Unnachgiebigkeit, mit der er die eigenen Überzeugungen verteidigte, zum Ausdruck. Seine scharfsinnigen, wortgenauen aber auch auslegungsfreien, nicht selten besserwisserischen Deutungen der Heiligen Texte, die er flexibel auf die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen verstand, vernachlässigten nie das Diesseits und die bestehenden Machtverhältnissen. Den Bauern, um nur ein bekanntes und extremes Beispiel zu nennen, fiel er nach Versuchen, sie von ihren radikalen (aus heutiger Sicher vollauf legitimen) Forderungen abzubringen, mit einem modifizierten Rückbezug auf Argumente in den Rücken, die diese zuallererst ermutigt hatten, von ihrer Freiheit als Christenmenschen Gebrauch zu machen. Dass Luther sich hier nicht vollkommen selbst widersprach und unglaubwürdig machte, liegt erstens am Raffinement, vielleicht auch an der Perfidie seiner Gedanken, und zweitens an seinem immer betonten Realitätssinn: So hatte er in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) zwar formuliert, dass ein Christ ein freier Herr über alle Dinge sei und niemand untertan, dem aber unmittelbar hinzugefügt, dass ein Christ ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan sei. Die schon in sich komplizierte Freiheit, von der er spricht, ist nur inklusive des Dienstes am Nächsten zu haben. Dem stehen die Ordnung auch im weltlichen Reich und die Souveränität der Obrigkeit zur Seite, die Luther zufolge unbedingt aufrechterhalten werden müssen, weshalb er den Umschlag der Bauernproteste in eine gewalttätige Massenerhebung nicht tolerieren konnte. Die Vernichtungsrhetorik offenbart allerdings seine mehrfach anzutreffenden polemischen und apodiktischen Maßlosigkeiten.

Die Synopse des bereitgestellten Pensums zeigt Luther als voraussetzungsreichen, mutigen und oft systematisch in Schrittreihenfolge denkenden Prediger-Beschwörer. Von den nahe beieinander liegenden Polen einer fürsorglichen Mäeutik und paternalistischen Unbeirrbarkeit, wenn nicht Klugscheißerei geht eine eigentümliche Faszination aus. Der schmale Band eignet sich gut, Luther kompakt vorzustellen, und weniger, seine komplizierten Gedankengänge auch kompakt zu erklären. Luther fordert den Leser heraus, sei er Christ und auf der Suche nach theologischer Unterweisung, sei er nicht-christlicher Interessent und auf der Suche nach Quellenverständnis. Wenn man nach der Lektüre den Eindruck hat, dem anspruchsvollen Denken des Reformationsmatadors näher gekommen zu sein, hat der Band viel erreicht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Martin Jung: Luther lesen. Die zentralen Texte.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016.
213 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783525690031

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