Ein Spaziergang durchs Leben

Naomi Schenck begibt sich in ihrem ersten Roman „Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12“ auf Spurensuche

Von Nadja WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadja Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wann versteht man einen Menschen wirklich? Wenn man ihm nahe steht oder wenn man alle Fakten seines Lebens kennt? Mit diesen Fragen sieht sich Naomi Schenck konfrontiert, die sich der Biographie ihres Großvaters widmet. Günther Otto Schenck war ein deutscher Chemiker, der das Strahleninstitut in Mülheim an der Ruhr leitete. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte er erfolgreich ein Mittel gegen den häufig auftretenden Wurmbefall, engagierte sich gegen das Chloren des Trinkwassers, forschte über das Waldsterben und war ein Pionier auf dem Gebiet der Photochemie. Von all diesen Dingen schweigt der Wikipedia-Artikel über Günther Otto Schenck. Was er jedoch anführt, ist dessen NSDAP- und SA-Mitgliedschaft. Genau dieser Eintrag veranlasst seine Enkelin, sich zehn Jahre nach dem Tode Schencks endlich an das Projekt einer Biographie zu wagen. Sie beginnt, an dem politischen Desinteresse, das ihm nachgesagt wurde, zu zweifeln. Um der Frage auf den Grund zu gehen, inwiefern er sich in der NS-Zeit schuldig gemacht hat, begibt sie sich auf Spurensuche in die Vergangenheit: Sie reist ins Universitätsarchiv nach Heidelberg, spricht mit Günthers Freunden und Verwandten sowie mit relevanten Zeitzeugen und sichtet überlieferte Dokumente.

Schenck erzählt die Lebensgeschichte ihres Großvaters nicht chronologisch; jedes Kapitel setzt sich mit einem wichtigen Bereich seines Lebens auseinander, beispielsweise mit dem Familienwohnsitz, seiner Kindheit oder mit seinem Freundeskreis. Dabei berichtet sie nicht nur von wichtigen Ereignissen und Wendepunkten, sondern auch von seinen kleinen Eigenarten und bezeichnenden Charaktereigenschaften. Zudem flicht die Autorin immer wieder Familienanekdoten und Szenen aus ihrem eigenen Leben in die Darstellung mit ein. Ein stetiger Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit sowie ein dialogisch geprägter Schreibstil gestalten die Lektüre lebendig und vielseitig. Die naturgemäß eingeschränkte Sichtweise der persönlich involvierten Erzählerin wird durch die Einschätzungen weiterer Beteiligter angereichert. Bei einem Treffen mit einem Vertrauten Günther Schencks erfährt sie, dass ihr Großvater nicht sehr umgänglich war, wenn er nachdenken wollte: „‚Genauso, wenn er schlafen wollte‘, sagt Leferenz. ‚Er hatte sich ja so einen bestimmten Schlafrhythmus ausgedacht, nach da Vinci oder so. Vier Stunden schlafen, sechs Stunden wachen, dann wieder vier Stunden schlafen.‘“      

Günther Schenck lässt sich in das Klischee des verrückten Wissenschaftlers einordnen. Er besitzt ein geniehaftes Wesen und zeichnet sich zugleich durch bizarre Anwandlungen aus. Diese reichen von wissenschaftlichen Erklärungen für die Sinnhaftigkeit des Schlürfens bis hin zu der spontanen Eingebung, das Duell um seine Herzensdame durch Blutspenden auszufechten. Amüsante Geschichten liefert auch sein Jugendclub, der „Wildwest“, dem der Chemiker bis ins hohe Alter angehörte. Er machte Enid Blytons Fünf Freunden wahrhaft Konkurrenz und teilte sich zu acht ein gemeinsames Auto mit einer eigenwilligen Absprache: Wer es findet, darf es fahren. Auch wenn die Kapitel, in denen Schencks akademischer Werdegang und seine beruflichen Verdienste geschildert werden, diese humoristische und lockere Erzählweise einbüßen, werden die teilweise trockenen Themen dennoch verständlich erklärt. Dies mag nicht zuletzt an Naomi Schencks Erzählperspektive liegen. Auf sympathische Art und Weise versucht sie nicht nur dem/der LeserIn, sondern auch sich selbst den Lebensweg ihres Großvaters näherzubringen. Zäh und langatmig wird es erst, wenn sie im Familienstammbaum bis ins 15. Jh. zurückgeht und sich so immer mehr von Günther Schenck und ihrer eigenen Familie entfernt. Darüber hinaus überwiegt in ihrer Recherche die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Während sie anfangs noch auf rationale Weise versucht, die Taten und Beweggründe des Chemikers zu rekonstruieren, verliert sie sich später zunehmend in ihren eigenen Gedanken und Befürchtungen. Widersprüchliche Beurteilungen der Zeitzeugen und die Tatsache, dass sich nicht immer eindeutige Aussagen treffen lassen, führen zu Informationen, deren Relevanz sich nicht immer erschließen mag – etwa dass ein Waggon in Auschwitz aus ihrer Heimatstadt Mülheim stammt. Dabei rückt die Schuldfrage der Deutschen immer mehr in den Fokus der Betrachtung. Dass Günther seine Kinder geschlagen und eines von ihnen bis kurz vor seinem Tod verheimlicht hat, wird nur am Rande erwähnt.     

Der Schreibstil des Romans ist teilweise sprunghaft und assoziativ, überwiegend jedoch flüssig. Durch eine besonders anschauliche Sprache werden die Schauplätze der Handlung für den/die LeserIn lebendig gehalten. Die Autorin ist hauptberuflich als Szenenbildnerin tätig und veröffentlichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Kolumne zum Thema ‚Inneneinrichtung‘. Dieses spezifische Interesse beeinflusst augenscheinlich auch ihr literarisches Schaffen: Spielerisch fängt sie Atmosphären ein und zeichnet Orte und Räume detailgetreu nach. Naomi Schenck begibt sich auf eine Reise durch die Zeit, durch das Leben ihres Großvaters, um letztendlich etwas über sich selbst zu erfahren. Nach und nach entwirft sie ein Mosaik ihrer Familiengeschichte, auch wenn sie sich diesem Anspruch nicht gewachsen fühlt. Zu vieles bleibt ungesagt. „Ich merkte […], dass es keine Biographie werden würde und erst recht keine Familienchronik. Was ist es geworden? Als ich Frau Koerner von Gustorf das Kapitel zu lesen gab […], sagte sie erstaunt: ‚Es ist ja ein Spaziergang durch Ihr Leben, nicht nur durch das Leben Ihres Großvaters!‘“

Letztlich bleibt Günther Otto Schenck in diesem Roman eine zwiespältige Persönlichkeit. Der sperrige Buchtitel, der auf einem Traum basiert, spiegelt nicht nur Günthers Hang zur Selbstdarstellung, sondern auch die kindliche Sichtweise der Erzählerin wider, für die ihr Großvater stets unnahbar und mysteriös bleiben wird. Während die Bachmannpreisträgerin Katja Petrowskaja 2013 ihre Familiengeschichte – eine Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus – erzählte, nimmt die diesjährige Neuerscheinung von Naomi Schenck die Sichtweise der Täterfamilien ein. Dabei gelingt es der Autorin sich diesem gewichtigen Thema zu widmen und dennoch ein unterhaltsames und sicherlich lesenswertes Debüt hervorzubringen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Naomi Schenck: Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
336 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783446250789

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