Nebel der Geschichte
Anthony Doerr und Thomas Martini erzählen vom Selbstverlust
Von Britta Caspers
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJournalistische und literarische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen neurogenerativer Demenzerkrankungen, die zu Defiziten im Bereich der kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten führen, haben derzeit Hochkonjunktur. Man denke nur an Elfriede Jelineks Theatertext Winterreise, Arno Geigers Roman Der alte König in seinem Exil oder an das jüngst erschienene Buch Ein halber Held, in dem der Journalist Andreas Wenderoth vom langsamen Abschied von seinem demenzkranken Vater erzählt. Das erzählende Berichten von der anhaltenden Ausnahmesituation, die längst zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden ist, häufig aus der Perspektive von Angehörigen, kann das individuelle Leiden an der Krankheit sichtbar machen; es deutet jedoch auch auf die sozialen, ethischen und ökonomischen Herausforderungen, vor die sich die Gesellschaft unserer Tage gestellt sieht, zeichnet sich doch bereits deutlich das Ansteigen der Zahl der Menschen ab, die an dementiellen Erkrankungen leiden.
Tilman Jens‘ 2009 erschienenes Buch Demenz. Abschied von meinem Vater gab zu der heftig geführten Diskussion der Frage Anlass, wo die ethischen Grenzen literarischer Darstellung verlaufen. Von kritischen Stimmen wurde das Buch als Begräbnis des Vaters zu Lebzeiten gescholten – eines Vaters, der als Altphilologe und Literaturhistoriker bis ins hohe Alter eine wichtige Stimme des wissenschaftlichen und politischen Diskurses darstellte und als „Star des linksliberalen westdeutschen Bildungsbürgertums“ (Hammelehle) galt. Besondere Brisanz ist den Ausführungen von Tilman Jens aber nicht zuletzt deshalb zuzuschreiben, weil er in seinem Buch einen Zusammenhang zwischen dem 2003 bekannt gewordenen Umstand, Walter Jens habe als Jugendlicher der NSDAP angehört, und dessen kurz darauf einsetzender Demenzerkrankung herstellt.
Auch in der Novelle Memory Wall von Anthony Doerr – einer Erzählung, die im englischen Original im Kontext noch weiterer Erzählungen des US-amerikanischen Autors publiziert wurde, in der deutschen Übersetzung aber leider als Solitär erscheint – geht es, jedenfalls vordergründig, um die an Demenz erkrankte 74jährige Witwe Alma Konachek. Doch im Grunde ist Doerrs Erzählung ein Versuch über die Frage, was geschieht, wenn das Erinnern (nicht nur für die sich immer mehr selbst entgleitende Alma) zum eigentlichen Lebensinhalt wird – und das, obwohl Alma tatsächlich allen Grund zum Vergessen (oder sollte man sagen: Verdrängen?) hat.
Alma lebt in einem Vorort von Kapstadt, der den täuschend friedvollen Namen Vredehoek (übersetzt etwa: ‚Friedenseck‘) trägt. Dort, am Fuße des Tafelberges und an der Küste des atlantischen Ozeans, wohnen die Reichen und Weißen – diejenigen, die es niemals nötig hatten, eine andere Sprache als Afrikaans und Englisch zu lernen, wie es an einer Stelle der Novelle heißt. Man könnte, spielt die Geschichte doch offenbar in einer nahen Zukunft, Memory Wall für eine literarische Dystopie halten, wäre da nicht die ebenso unübersehbare Nähe zu den sozialen und politischen Verhältnissen, die das heutige Südafrika prägen. Die Strukturen der Apartheid, die sich nicht zuletzt sozialtopographisch geltend machen, sind ebenso wenig überwunden wie die krasse Teilung in Arm und Reich. Das ist bekannt, dennoch ist Doerrs Buch schon allein deswegen lesenswert, weil es diese Strukturen im ganzen Ausmaß ihrer Grausamkeit zum alles Geschehen bedingenden Hintergrund seiner fiktiven Welt und damit sichtbar macht.
Im Grunde ist es letztlich nur der schwarze und bis zur Absurdität getreue „Hausdiener“ Pheko, der Alma am Ende ihres Lebens und in einer Situation großer Bedürftigkeit noch bleibt. Der Buchhalter, der die Villa der alten Frau eines Tages aufsucht, erklärt Pheko ohne Umschweife und Mitgefühl, es sei an der Zeit, das Haus zu verkaufen und Alma ins Altenheim zu bringen. Pheko, der sein halbes Leben im Dienste Almas und ihres verstorbenen Mannes Harold verbracht hat und allein für seinen kleinen Sohn Temba sorgt, lebt selbst unter ärmlichsten Verhältnissen in einer der Townships von Kapstadt, verliert damit seine Aufgabe und seinen kümmerlichen Lebensunterhalt. Pheko führt ein Doppelleben. In aller Frühe verlässt er seine Hütte, um zu Alma nach Vredehoek zu fahren, wo sich eigentlich immer der Nebel um Haus und Garten legt. Am Abend kehrt er aus der mit verchromtem Geländer einhegten Sauberkeit nach Khayelitsha in sein Leben als Schwarzer zurück, wo der Regen aufs Blech der Hütte mit sandigem Boden trommelt. Im Bus dorthin vervielfachen sich die Sprachen, hört er die Frauen wieder Xhosa, Shoto und Tswana sprechen.
Eines Nachts taucht in Almas Haus plötzlich ein großer Mann namens Roger auf; er ist ebenfalls ein Schwarzer, der mehr schlecht als recht vom Handel mit Fossilien lebt. Roger dringt Nacht für Nacht in Almas Haus ein, Nacht für Nacht vergisst Alma wieder, dass sie Roger bereits unten in der Küche überrascht hat. Manchmal droht sie damit, die Polizei zu rufen, manchmal agiert sie ihre rassistischen Vorurteile an ihm aus. Doch sie ruft nicht die Polizei, eine nicht zu beendende Partie scheint in Gang. Mit jeder Schilderung der Begegnung zwischen Roger und Alma wird die spiegelverkehrte Figurenkonstellation erkennbar. Stück für Stück erschließt sich dem Leser Almas Vergangenheit. Denn Roger ist nicht allein, sondern hat Luvo bei sich, seinen „Erinnerungszapfer“.
Luvo also sitzt während der nächtlichen Begegnungen zwischen Roger und Alma in ihrem Schlafzimmer und schaut sich ihre auf Kassetten aufgezeichneten Erinnerungen an, durchforscht diese Bänder auf der Suche nach einer ganz bestimmten Erinnerung. Alma unterzieht sich seit Jahren einer Behandlung bei Dr. Amnesty, der ihr erklärt, die „Basis alter Erinnerungen“ befinde sich im extrazellulären Raum. „Hier in dieser Klinik“, so erklärt ihr der Arzt, „zielen wir auf diese Räume, färben sie und schreiben sie in elektronische Modelle ein. In der Hoffnung, beschädigte Neuronen zu lehren, tauglichen Ersatz zu schaffen. Neue Wege zu bahnen. Sich an das Erinnern zu erinnern.“ Mittels eines Stimulators, der mit den im Kopf Almas implantierten Rezeptoren verbunden wird, kann sie die in diesem Verfahren aufgezeichneten Erinnerungen wieder erleben, kann sich im vollen Bewusstsein ihres Alters und ihrer Lebensumstände in Körper und Geist der fünfzig Jahre jüngeren Alma zurückversetzen, das von ihr Erinnerte also nicht nur in Bildern erneut durchleben, sondern emotional und physisch nachempfinden, was im Akt des Erinnerns, mit Ausnahme von Träumen, nicht geschehen kann.
Doerrs Memory Wall legt dem Leser viele Spuren; für das Erzählen von der auf diese Weise konservierten Erinnerung schafft er eine eigene Metaphernwelt (das Fossil als versteinertes, nicht seiner selbst bewusstes Leben), die zur erneuten Lektüre des Textes auffordert. Aber der Autor treibt kein leeres Spiel mit metonymischen Verschiebungen, sondern rückt seine Auseinandersetzung mit dem Selbstverlust Almas in den konkreten Zusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse, die von Segregation und Klassengegensätzen geprägt sind, für die Menschen wie Alma die Verantwortung tragen. Der Ausgang der Novelle, die eigentlich ‚unerhörte Begebenheit‘, ist geradezu märchenhaft – und im wahrsten Sinne des Wortes: zu schön, um wahr zu sein.
Auch Thomas Martinis als ‚Novelle‘ bezeichneter Text Das Kind mit dem Spiegel mit dem verschnörkelten Unteruntertitel Ein Lichtspiel handelt vom Verlust des Gedächtnisses. Grund dafür ist aber offenbar nicht fortschreitende Demenz, sondern die psychische Zerrüttung der Hauptfigur Todo. Der gutgemeinte Klappentext macht sich anheischig, ein wenig Licht ins Dunkel von Martinis – sei’s drum: Novelle zu bringen, so etwas wie einen krisenhaft umschlagenden Handlungsfaden mit gesellschaftskritischer Botschaft. Hier werde gegen eine Welt angeschrieben, „in der alles wahnhaft nach Wohlstand, Wachstum und Fortschritt strebt, eine Moderne, die an Selbstoptimierung und die Macht der Maschine glaubt und doch unaufhaltsam auf einen dunklen Kulminationspunkt zusteuert.“ Selbst wenn man das als Intention des Autors, der mit Das Kind im Spiegel sein zweites Buch nach dem 2013 erschienenen Debütroman Der Clown ohne Ort veröffentlicht, anerkennen will, auf die Handlung und ihre Darstellung wird man es indes schwerlich beziehen können.
Das erste, durch eigenwillige Kapitelzählung in konstruierte Unordnung gebrachte Drittel der Erzählung eröffnet den Beziehungsreigen einer Gruppe junger Leute, die sich in Paris einem Leben hingeben, das mit gesellschaftlichen und sexuellen Konventionen bricht, dabei jedoch nichts weiter als die Beliebigkeit der Wahl der Sexual- und Kurzfristlebenspartner und einen allzu widerspruchs- und reibungslosen Hedonismus offenbart, der nicht nur Todo zu langweilen beginnt. Der nämlich sehnt sich nach der aufgeweckten und rätselhaften Manon, die sich nach der Trennung von ihm allein in fernen Teilen der Welt aufhält und während ihrer gemeinsamen Zeit immer öfter in Zustände geistiger Abwesenheit abgedriftet war (man kann hier nicht anders als sich an André Bretons Nadja zu erinnern). Todo tut es ihr schließlich gleich, verliert offenbar nicht nur sein Gedächtnis, sondern durchleidet so etwas wie eine dissoziative Identitätsstörung, was Martini in der inhaltlichen und formalen Auflösung der Text- und Erzählstruktur zu veranschaulichen sucht. Wie es aber zu dieser Zerrüttung kommt, macht der Text nicht plausibel, er zeigt nicht die allmähliche Loslösung der Hauptfigur von einer mit anderen geteilten Wirklichkeit, sondern verliert sich schließlich auch selbst noch in einer sich selbst genügenden Bildsprache, die auf rhythmische (allerdings in diesem Fall enervierende) Wiederholung setzt. Der Versuch, die Grenzen zwischen den Gattungen aufzubrechen, erscheint hier als bloßes Surrogat der ernsthaften literarischen Ausgestaltung des Selbstverlustes.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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