In der Postdemokratie

Über Akteure und Motivationen von Bürgerinitiativen

Von Marlies JansenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marlies Jansen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem 2004 veröffentlichten Buch Post-Democracy (deutsch: Postdemokratie, 2008) macht der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch für die Gegenwart eine massive Krise der liberalen repräsentativen Demokratie aus. Demokratie würde nicht (mehr?) wirklich gelebt. Dabei bestehe diese doch darin, dass in ihr eine große Zahl von Menschen lebhaft, ernsthaft und sachverständig debattiere und sich so an der Gestaltung der politischen Agenda beteilige. Anders heute: Wahlen würden zwar noch abgehalten, aber sie seien bloß formaler Natur, denn es gehe dabei lediglich um Themen, die zuvor in elitären Zirkeln festgelegt worden seien. Die relevanten Entscheidungen fielen hinter verschlossenen Türen in Hinterzimmern und würden von Politikern getroffen, die unter dem Einfluss von wirtschaftlichen Interessengruppen stünden und sich wenig um die Wünsche ihrer Parteimitglieder und Belange der Wählerklientel scherten. Die Folge sei, dass die Eliten wie die Demokratie allgemein an Ansehen und Legitimität einbüßten, während sich in der Mehrheit der Bevölkerung Langeweile, Frustration und Desillusionierung ausbreiteten.

Crouchs Analyse ist unter Fachkollegen auf erhebliche Resonanz gestoßen, und auch der hier zu besprechende Band, Frucht einer von der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützten „(Doktoranden-)Tagung“ über − dem allgemeinen Trend scheinbar zuwiderlaufende – neuerliche Erscheinungen der Bürgerbeteiligung, nutzt sie als Kontext für seine Fragestellung. Diese gilt indes nicht den von Crouch festgestellten ökonomischen Faktoren der Einflussnahme auf die Politik, sondern „politisch engagierte[n] Menschen in den unterschiedlichen Bereichen: engagierte[n] Bürger[n] und politische[n] Aktivisten, […] deren Aktivitäten in der Zivilgesellschaft wurzeln und gleichermaßen politischen Charakter haben“. Die meisten der insgesamt zwanzig Beiträger ringen mit der Frage, inwieweit beispielsweise der gegen Großprojekte wie „Stuttgart 21“ protestierende „Wutbürger“ der „Generation Joschka“ ein Problem der (repräsentativen) Demokratie ist – oder ein Teil der Lösung, sprich: der von Crouch erhofften „Vitalisierung“ der Demokratie. Durchgängig wird letzteres bejaht, wenn auch gelegentlich Unbehagen gegen Phänomene wie Pegida geäußert oder auf die NIMBY-Haltung (Not In My Backyard – Nicht in meinem Hinterhof), beispielsweise gegen Windmühlen oder Hochspannungsleitungen, hingewiesen wird.

Der Band ist in fünf Hauptabschnitte gegliedert, deren Komposition, ebenso wie die Anlage jedes der einzelnen Beiträge, auf eine strikte ‚Stabführung‘ der drei Herausgeber schließen lässt. Am Beispiel sinkender Wahlbeteiligung, des Rückgangs der Mitgliederzahlen in den etablierten Parteien und des zunehmenden Ungleichgewichts in der Vermögensverteilung wird zunächst das „postdemokratische“ Umfeld näher ausgeleuchtet. Es folgen sodann: Der politische Mensch „zwischen Kommunikation und Manipulation“, im „Ringen um Organisation und Beteiligung“ und seine „Praktiken von Engagement und Protest“ sowie „zwischen traditionellen und innovativen Ansätzen politischen Handelns“. Wenn auch die Lektüre zuweilen etwas mühselig ist – die persönliche Qualifikationsphase manches Beiträgers macht sich bemerkbar –, erfährt der Leser viel Wissenswertes über neue, vorwiegend lokale Beteiligungsräume und Protestpraktiken, über Mobilisierungsstrategien im Netz („Produser“) oder Formen der digitalen Bürgerbeteiligung (Piraten) während der „beiden letzten Dekaden“ – die starke Welle der ehrenamtlichen Hilfsbereitschaft, die mit dem Flüchtlingszustrom ab dem Spätsommer 2015 aufkam, konnte offensichtlich aus Zeitgründen nicht mehr erfasst werden.

Das allerdings hat ungewollte und (nicht vorhersehbare) Folgen für die aktuelle Relevanz der unternommenen intellektuellen Anstrengung, denn der politische Einzelne, den die Beiträge, nicht selten auf hohem theoretischen Niveau, in seinem Bemühen um die Gestaltung „individueller und kollektiver Lebenswelten“ reflektieren, wird von der neuen gesamtgesellschaftlichen Problemlage schlechthin relativiert, um nicht zu sagen: von der Dynamik und Dimension der laufenden Ereignisse überrollt. Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass wesentliche Merkmale der parteiübergreifenden und ideologiefreien „postdemokratischen“ Bürgerinitiativen, wie die Erweiterung des soziokulturellen Spektrums um (bildungs-)bürgerliche Menschen älterer Jahrgänge, auch unter den Scharen der ehrenamtlichen Helfer zu finden sind, die sich um die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge bemühen. Und dass sich daneben ebenso viele Jugendliche (wieder) engagieren, stimmt mit dem Befund überein, dass sie, wiewohl bei „postdemokratischen“ Protestaktionen in der Regel unterrepräsentiert, projektbezogen durchaus immer bereitwillig und ansprechbar sind.

War respektive ist also die praxisnahe „Bürgerinitiativbewegung“ (Bertram) der letzten zwanzig Jahre, die die vorangegangen großen sozialen Bewegungen für universale Werte wie Frieden und Umwelt ablöste, nicht zuletzt eine Vorschule für die große Anstrengung der Zivilgesellschaft zur Integration der Flüchtlinge und Migranten ab Herbst 2015? Die Frage wird sich früher oder später einmal stellen. Zu ihrer Beantwortung wird man auf das Buch dann dankbar zurückgreifen können.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag / Lars Winterberg (Hg.): Der politische Mensch. Akteure gesellschaftlicher Partizipation im Übergang zum 21. Jahrhundert.
Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2015.
462 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783801242329

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