Die Vielfalt der Einfalt

Ein von Sabine Hark und Paula-Irene Villa herausgegebener Sammelband zu „Anti-Genderismus“ lässt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ebendiesem weitgehend vermissen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Diffamierung der Gender Studies mit den Mitteln sprachlicher Gewalt“ sei „nicht dem Verfall der öffentlichen Debattenkultur geschuldet, sondern vielmehr eine inhärente Konsequenz der Position des Anti-Genderismus“, konstatiert Steffen K. Herrmann in einem Aufsatz mit dem Titel „Politischer Antagonismus und sprachliche Gewalt“. Dies ist Herrmann zufolge keineswegs zufällig so, sondern vielmehr dem „Fundamentalismus“ des Anti-Genderismus inhärent, der „nicht dazu in der Lage ist, mit seinen politischen Opponenten in einen radikaldemokratischen Austausch zu treten“. Dieses Unvermögen habe zwei miteinander zusammenhängende Ursachen. Zum einen treffe bei der „Auseinandersetzung zwischen Anti-Genderismus und Gender Studies“ eine „fundamentalistische“ auf eine „postfundamentalistische“ Position; zum anderen bilde „die Pluralität von Geschlecht, Begehren und Sexualität das verworfene Andere des politischen Diskurses des Anti-Genderismus“. Beides führe zu einem „destruktiven politischen Antagonismus“, den eine der beiden Seiten, nämlich der Anti-Genderismus, „mit den Mitteln der sprachlichen Gewalt“ zu „überwinden“ versuche. Herrmann zitiert für seine Argumentation einige namhafte Gewährsleute wie etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ernesto Laclau, Chantal  Mouffe und Judith Butler. Zwar gelingt es ihm, seine These zu plausibilisieren, dennoch ist festzuhalten, dass es durchaus fundamental(istisch)e Gegenpositionen zu den Gender Studies gibt, die zwar nicht unbedingt auf sprachliche Diffamierung verzichten, doch ihre biologischen Erklärungen geschlechterspezifischen Verhaltens – wenn auch meist wenig überzeugend – argumentativ zu begründen suchen, wie etwa die Psychologin Doris Bischof-Köhler in ihrem Buch 2002 erschienener Monographie „Von Natur aus anders“.

Nachzulesen sind Hermanns Ausführungen in dem von Sabine Hark und Paula-Irene Villa  herausgegebenen Band „Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen“, der auf Vorträge des 2014 in Trier abgehaltenen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zurückgeht. Während Hark und Villa die Aufsätze in ihrem einleitenden Text „‚Anti-Genderismus‘ – Warum dieses Buch?“ nach thematischen Gemeinsamkeiten zusammenstellen, verzichtet das Inhaltsverzeichnis auf eine ähnliche Anordnung. Warum dort eine solche Rubrizierung fehlt, bleibt jedoch unklar.

Der um einige zusätzliche Beitrage erweiterte Tagungsband unternimmt „eine erste Zusammenstellung sozial- und kulturwissenschaftlicher Analysen des sogenannten ‚Anti-Genderismus‘“ in der Bundesrepublik Deutschland, blickt aber auch über die Grenzen hinweg nach Frankreich, Polen und die Schweiz. So stellen Andrea Maihofer und Franziska Schutzbach am Beispiel der Schweiz eine „zeitdiagnostische Betrachtung“ über die Entwicklung „[v]om Antifeminismus zum ‚Anti-Genderismus‘“ an, während  Bożena Chołuj den Ausdruck Gender-Ideologie als „Schlüsselbegriff“ des polnischen Anti-Genderismus nachweist.

Hark und Villa konzedieren den „Kritiker_innen von Gender“ in den einleitenden Ausführungen zwar, „gewissermaßen verstanden“ zu haben, „dass der Begriff auf die – im weitesten Sinne – soziale Beschaffenheit von Geschlecht zielt“, und stellen darüber hinaus fest, dass „der ‚Anti-Genderismus‘ im Kern verstanden“ habe, „wofür der Begriff Gender steht“. Doch steht dieses Zugeständnis in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihrer Feststellung, „die derzeit intensive Auseinandersetzung […] mit Gender und sexueller Vielfalt“ verharre „meistens“ in „kenntnisloser Diffamierung“. Auch wenn sie in einem zweiten Beitrag auf „absichtsvolle Verkehrungen“, „systematisch produzierte Missverständnisse und Irreführungen“ der „selbst ernannten Gender-Allianz“ hinweisen, in denen „gleichsam ein ‚richtiger‘ Kern“ stecke, löst dies das Spannungsverhältnis nicht. Denn wie Hark und Villa auch hier ausführen, haben diejenigen, „die die diffamierende Rede führen“, „durchaus verstanden, was der gender turn impliziert, nämlich in der Tat ein post-naturalistisches beziehungsweise post-essentialistisches Verständnis von Geschlecht“. Zudem verbirgt sich eine gewisse, nicht wirklich subtile Polemik in ihrer Rede von der „selbst ernannten Anti-Gender-Allianz“ und den „selbst ernannten ‚Anti-Genderisten‘“. Insinuiert wird damit, dass es sich bei der Selbstbezeichnung um eine unrechtmäßige Usurpation handle. Doch wer oder welche Institution könnte die (von den beiden Verfechterinnen des linguistischen Gender Gap hier offenbar nur männlich gedachten) Anti-GenderistInnen rechtmäßig zu solchen ernennen? Selbstverständlich aber ist die Wendung nur eine weithin gebräuchliche pejorative rhetorische Figur. Dabei ist sie harmlos, verglichen mit den Verbalinjurien, denen sich der Anti-Genderismus zur Verunglimpfung der Gender Studies und den in diesen tätigen WissenschaftlerInnen bedient. Da ist nicht selten von „pseudo-religiöser Dogmatik“, „Gender-Unfug“, „Gender-Wahn“ und „Profilierungssucht“ die Rede oder auch von „Pseudowissenschaft“ und „Hokuspokus“.

Den beiden Texten von Hark und Villa folgen „neun prekarisierungstheoretische Thesen zu Diskursen gegen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung“. Christine Wimbauer, Mona Motakaf und Julia Teschlade haben sie zusammengestellt. Ihrer Argumentation zufolge werden „Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung“ von den gegen sie gerichteten Diskursen zu Unrecht für gegenwärtige „Prekarisierungsprozesse“ verantwortlich gemacht. Solche Schuldzuweisung dienten dazu, „Erfahrungen der Prekarität und der Prekarisierung in den Griff zu bekommen“. Ähnlich wie Hermann entwickeln sie ihre Argumentation inhaltlich weithin nachvollziehbar, doch leidet ihr Text gelegentlich an zweifelhaften Formulierungen. Der Vorwurf des Anti-Genderismus etwa lautet gerade nicht, wie in dem Text behauptet, „eine neue Herrschaft von Gleichstellungspolitiker_innen und Geschlechterforscher_innen“ würde „Frauen und Homosexuelle übervorteil[en]“. Gemeint ist selbstverständlich das Gegenteil, nämlich dass Frauen und Homosexuelle so in den Genuss ungerechtfertigter Vorteile gelangen. Denn zweifellos hat nur eine nachlässige Formulierung zu diesem dennoch eklatanten Fauxpas geführt.

Kathrin Ganz und Anna Katharina Meßmer wenden sich den Auswüchsen des Anti-Genderismus im Internet zu und machen die digitalen Öffentlichkeiten „als Labor eines neuen Kulturkampfes“ aus. Ihr Beitrag beleuchtet vier „Aussageformen“, in denen sich der Anti-Genderismus im Netz manifestiert: „mansplaining, antifeministische Argumentation, Trolling und  Hate Speech“. Nicht eben neu ist ihr Befund, dass „Geschlechterverhältnisse und Feminismus […] zu den Themen im Internet“ gehören, „bei denen sich die ‚Enthemmtheit‘ der Diskussionskultur mit besonderer Intensität zeigt“.

Innovativer ist hingegen Imke Schminckes Beitrag „Das Kind als Chiffre politischer Auseinandersetzung“. An verschiedenen Beispielen jüngerer konservativer Bewegungen in Deutschland und Frankreich weist sie die „unschlagbare Macht“ nach, die der „argumentativen Referenz auf die Kinder und mehr noch das Kindswohl“ innewohnt, mit deren Hilfe nicht nur die Position der Gender-KritikerInnen gestärkt werde, sondern die darüber hinaus – und das ist vielleicht das Wichtigste – „alternative Positionen zum Verstummen bringt“, indem sie „die Chiffre Kind als moralische Waffe in Anschlag“ bringt. Konstruieren „konservative Protestgruppen“ das Kind als schützenswerten „Teil einer biologisch definierten Familieneinheit“, kaschieren sie zudem, dass es ihnen tatsächlich „primär um die Verteidigung bestimmter und letztlich partikularer Werte, Normen und also auch um Privilegien und Deutungshoheiten geht“. Daher „muss der Einsatz der Chiffre Kind als moralischer Waffe im Kampf gegen Gleichstellung durch konservative Protestgruppen auch als instrumentell gedeutet werden“. Katrin M. Kempf zeigt in ihrem Beitrag „Eine ‚Büchse der Pandora‘?“, wie die Chiffre ‚das Kind‘ im Rahmen der „Pädophilie-Argumentationen“ von anti-genderistischer Seite zudem dem heteronormativen Eheprivileg dienstbar gemacht wird.

Auch rechtsextreme Diskurse rekurrieren bekanntlich häufig auf die Familie und stellen sie mit einem zweiten, für sie ebenfalls denkbar positiv konnotierten Begriff, dem des Vaterlandes, zusammen. In ihrem Beitrag „Familie und Vaterland in der Krise“ attestiert Juliane Lang diesen Diskursen „weitgehende Unkenntnis tatsächlicher Gender-Politiken“. Ob tatsächlich zumeist schiere Unkenntnis vorherrscht oder aber absichtsvolle Verzerrung, wird sich zwar im Detail nicht immer abschließend ausmachen lassen, doch sind dies ja keine einander ausschließenden Alternativen. Jedenfalls zeigt Lang auf, dass und wie Geschlecht im rechtsextremen Diskurs als „zentral identitätsstiftende Kategorie innerhalb des ideologischen Überbaus“ konstruiert und die „verheißene Volksgemeinschaft“ so „direkt an das Funktionieren der ihr inhärenten (zwei)geschlechtlichen Ordnung gebunden“ wird.

Ebenfalls aufschlussreich ist der Beitrag von Kathleen Heft. Unter dem Titel „Der Osten Deutschlands als (negative) Avantgarde / Vom Kommunismus zum Anti-Genderismus“ bietet sie eine „Materialsammlung“, die einerseits Gemeinsamkeiten zwischen dem westdeutschen Antikommunismus vor 1989 und dem gegenwärtigen deutschen Anti-Genderismus hervortreten lässt, andererseits aber auch eine „post- bzw. antifeministische Abgrenzung“ sowohl von der bundesrepublikanischen Frauenbewegung der 1970er-Jahre als auch von „aktuellen feministischen Debatten und Kämpfen“ deutlich macht.

Zwei weitere Texte gelten dem Anti-Genderismus in christlichen Religionen. Barbara Thiessen unternimmt eine „Analyse und Standortbestimmung“  des evangelischen und evangelikalen Anti-Genderismus in der BRD, während David Paternotte die katholische Mobilisierung gegen Gender in Europa in den Blick nimmt. Jasmin Siri zeigt abschließend einige Paradoxien konservativen Protests am „Beispiel der Bewegung gegen Gleichstellung in der BRD“ auf.

Insgesamt setzen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes weniger mit der möglichen Stichhaltigkeit von Argumenten der untersuchten Beispiele des Anti-Genderismus auseinander. Dies wäre aufgrund der argumentativen Dürftigkeit der ausgewählten Anti-Genderismen allerdings wohl auch wenig ergiebig. Jedenfalls fragen die Beitragenden in erster Linie nach den anti-genderistischen Argumenten zugrundeliegenden Ursachen und den hinter ihnen stehenden Motiven. Anti-genderistische Argumente auf diese Weise zu erklären, widerlegt die kaum Thesen oder gar Theorien zu nennenden Annahmen der im Band untersuchten Varianten des Anti-Genderismus allerdings noch nicht. Dafür bedürfte es schon der inhaltlichen Auseinandersetzung. Immerhin aber macht der vorliegende Band deutlich, auf welchen Gebieten sich die in den einzelnen Beiträgen beleuchteten Anti-Genderismen verschiedener Provenienz überschneiden, worin sie sich gleichen und worin sie sich unterscheiden. Dabei entsteht der von den AutorInnen vermutlich absichtlich evozierte Eindruck, dass sich der Anti-Genderismus trotz der Vielfalt seiner Manifestationsformen als recht einfältig erweist. Womöglich ist die besondere Auswahl der untersuchten Anti-Genderismen an ebendiesem Eindruck allerdings auch nicht ganz unschuldig. Sicher ist hingegen, dass nicht alle Beiträge des vorliegenden Bandes wirklich lesenswert sind.

Titelbild

Sabine Hark / Paula-Irene Villa (Hg.): Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
260 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783837631449

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