Deutsch-kosovarische Beziehungen

Jan Böttcher versucht sich in seinem Roman „Y“ an großen Fragen, aber zu vielen

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Stoffe, die Jan Böttcher für seinen dritten Roman Y gewählt hat, wecken große Erwartungen: Er erzählt von einer in den späten 90er Jahren beginnende Liebe zwischen einem Flüchtlingsmädchen aus dem Kosovo und einem Berliner Computernerd; von dem Aufeinandertreffen kriegsversehrter Familien und biederer deutscher Mittelschicht und von dem Gegensatz zwischen politisch engagierter Aktionskunst und kommerziell genutzter Kreativität in der boomenden IT-Branche. Solche Themen versprechen Anregungen für brisante und wichtige Fragen unserer Gegenwart. Leider bleibt ein Großteil der Hoffnungen uneingelöst: wegen der schlicht zu großen Zahl angedeuteter Konflikte, Figuren und Schauplätze, aber auch der zu konstruiert wirkenden Versuche des Erzählers, zwischen Ländern und Menschen Parallelen herzustellen und aus den Schicksalen der Figuren einfachen Lebensweisheiten abzuleiten.

Im ersten Teil knüpft Böttcher noch auf vielversprechende Weise an die Stärken seiner früheren Romane an. In betont lockerem Erzählstil vorgetragen, sind die Beschreibungen der Begegnung zwischen Arjeta Neziri und Jakob Schütte dennoch eine ernste und einfühlsame Auseinandersetzung mit den Besonderheiten ihrer jeweiligen kulturellen Zugehörigkeit und den Problemen, die deren Verschiedenheit mit sich bringt. Die beiden kannten sich schon während ihrer Schulzeit in Lüneburg. Wie für die anderen Schüler bleibt Arjeta auch für Jakob lange die unsichtbare Ausländerin; wird von ihm erst bemerkt, als sie sich hörbar an den Gesprächen beteiligen kann. Dass Arjeta sich ihre Deutschkenntnisse hart erarbeiten musste, tagelang „Märchen, Comics und die Bravo“ studiert hat, um die Lebenswelt ihrer Mitschüler im Ansatz begreifen zu können, geht an ihm vorbei. Auch die kurze Liebe der zwei, später in Hamburg, ist von Jakobs Ignoranz überschattet. Arjetas Mutter duldet keine Übernachtungsbesuche von ihm, was er nur lächerlich findet. Das Engagement seiner Freundin in der Flüchtlingshilfe erregt in ihm weniger Bewunderung als vielmehr Neid; spätestens nach Ausbruch des Kosovo-Krieges und angesichts der starken Reaktionen der Familie Neziri hat sein Verständnis ein Ende: „Sie lag bei ihm und redete über nichts anderes als den Krieg und ihren Vater.“ Für Nikola, Arjetas Vater, wird Jakob zudem nach und nach zur Projektionsfläche seiner Frustration über den Verlust seiner Heimat und der misslungenen Integration in Deutschland. Als er nach Ende der Kampfhandlungen beschließt, in den Kosovo zurückzukehren, gehorcht Arjeta seinem Wunsch, die Familie zu begleiten und die Beziehung zu Jakob zu beenden.

Der Beginn von Y ähnelt den Ausgangspunkten seiner beiden früheren Romane. Geld oder Leben (2006) handelte von der Inszenierung eines Terrorangriffs durch den Überfall einer Provinzsparkasse, mit dem RAF-Ängste heraufbeschworen und kuriert werden sollten. Nachglühen (2008), für dessen erstes Kapitel Böttcher beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den Ernst-Willner-Preis gewann, erzählt von einem Dorf im früheren Grenzgebiet der DDR: Als zwei ehemalige Freunde einander wiederbegegnen, wird deutlich, dass politische Spannungen und Erfahrungen von Verrat auch fünfzehn Jahre später keineswegs überwunden sind.

Y setzt mit einer ähnlich minimalistisch angelegten Milieustudie ein, in der anhand eines kleinen Figurenensembles in beschaulicher Vorstadtkulisse eine von Geschichte und Politik aufgeladene Situation gespiegelt wird. Wieder stellt der Roman die Frage nach den Auswirkungen politischer Konflikte auf die nächste Generation: In der kosovarischen Hauptstadt Pristina angekommen, bringt Arjeta Leka zur Welt, das Kind Jakobs, den sie trotz seiner Bemühungen sie zurückzugewinnen und für seinen Sohn zu sorgen als Vater nicht anerkennen will. Der titelgebende Buchstabe, das Ypsilon, verbildlicht vor allem einen schematischen Stammbaum und verweist auf die Abhängigkeit Lekas von Mutter und Vater, seiner Zerrissenheit zwischen ihren Kulturen und darauf, dass die Konflikte sich fortsetzen werden. Leka ist der Haupt-Leidtragende der deutsch-kosovarischen Konstellation. Sein Vater hört niemals auf, sich an seinen Rachegefühlen den Neziris gegenüber abzuarbeiten. Er entwickelt auf Basis der Familie und des Kosovo-Krieges ein PC-Spiel, neben der Arbeitswut bleibt für den Sohn kein Platz. Arjeta lässt den Jungen mit seinem depressiven Stiefvater zurück und widmet sich ganz einer künstlerischen Vereinigung namens „Schule der fehlenden Identität“, die sich mit Ausstellungen und Performances dem nicht enden wollenden Zwischenzustand ihres nicht einmal eindeutig als eigener Staat definierten Landes.

Sehr weit hergeholt wirkt die Parallele der Vater-Sohn-Beziehung zwischen Jakob und Leka und der zwischen dem erzählenden Schriftsteller-Ich und seinem Sohn Benji. Überhaupt fragt man sich immer wieder, worin das Interesse des Ich-Erzählers an der verstrickten Geschichte bestehen mag, zu der er nur zufällig Zugang erhält, weil sein Sohn sich mit Leka anfreundet.  Weshalb sollte er denn sogar selbst irgendwann in den Kosovo reisen, um Arjeta zu befragen? Regelrecht peinlich wirken dann die Selbstauskünfte am Ende: „Ich sah, wie sehr mich meine Frau und mein Kind glücklich machten, aber ich spürte zugleich, worunter ich litt und weshalb ich mit meinem Sohn dort hinuntergeflogen war. Ein Defizit an Fremde.“ Nur, um hinterher doch wieder eine Parallele zwischen der eigenen und fremden Geschichte herzustellen: „Ich hatte eine glückliche Kindheit, weil mich meine Eltern in Ruhe ließen. Ich hatte eine unglückliche Kindheit, weil mich meine Eltern in Ruhe ließen.“ Wenn hier versucht wird, die Notwendigkeit der Kenntnis anderer Kulturen zur Erkenntnis der eigenen zu veranschaulichen, so gerät das außerordentlich vereinfachend und platt. Hätte die Einsicht aus der Erzählung des Romans selbst ersichtlich werden können, so wäre es wohl kaum nötig gewesen, sie in solchen Platituden aufzuschlüsseln. Dann man hätte sie getrost dem Leser überlassen können.

Jan Böttcher hat ursprünglich als Sänger und Songschreiber der Band Herr Nilsson angefangen; das 1998 von ihm mitbegründete Musiknetzwerk und Platten-Label KOOKmusic wurde 2000 um den Verlag kookbooks erweitert, in dem auch seine erste Erzählung Lina oder: Das kalte Moor erschienen ist. Mit der Bedeutung von Musik- und Künstlerkollektiven setzt er sich auch in Y wieder auseinander. Als Arjeta nach ihrer Ankunft in Pristina nichts vorfindet außer Chaos und Orientierungslosigkeit und sich die bis heute drängende Frage stellt, was aus diesem scheinselbstständigen, zerrütteten Staat werden solle, trifft sie nur wenige Menschen, deren Tätigkeit ihr sinnvoll erscheint: den Musikern und DJs des improvisierten Radiosenders „Urban FM“. Insgesamt sind die kreativen, engagierten, und auf positive Weise  rätselhaften Arten und Weisen der verschiedenen kosovarischen Künstler- und Aktivistengruppierungen, denen Arjeta begegnet, das Interessanteste an Böttchers Roman – wie auch die Tatsache, dass ihnen die selbstbezogene, gewinnorientierte Spieleentwicklung des Einzelgängers Jakob entgegengestellt wird. Schade nur, dass der Erzähler wiederum selbst und zu eindeutig Stellung bezieht und durch dieses einfache Gut-Böse-Schema eine differenzierte Auseinandersetzung einfach abgeschnitten wird.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jan Böttcher: Y. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
255 Seiten, 25,95 EUR.
ISBN-13: 9783351036409

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