Die „New Freud Studies“ als notwendige Forschungsrichtung

Andreas Mayer zeigt auf die Dynamik einer zeitgenössischen Freud-Rezeption

Von Bernd SchneidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Schneid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die neue Ausgabe zu Sigmund Freud des für Einführungen bekannten Junius-Verlags soll die bisherige Version von 1986 des kürzlich verstorbenen Hans-Martin Lohmann, immerhin langjähriger Chefredakteur der Psyche, einer der wichtigsten Psychoanalyse-Zeitschriften in Deutschland, ersetzen. Das erscheint zunächst als längst fälliges Projekt. Zwar war Lohmanns Version schlank, dafür aber mit unter 100 Seiten Haupttext sehr kurz und mit dem Fokus auf wenige Schriften zwar übersichtlich, aber auch sehr knapp. Man könnte denken, dass über Freud schon unzählige Einführungen existieren, dem ist qualitativ leider nicht ganz so. Als hochwertig ist sicher in jüngerer Zeit Jean-Michel Quinodoz mit „Freud lesen: Eine chronologische Entdeckungsreise durch sein Werk“ zu nennen. Zu viele aber versumpfen in Allgemeinplätzen oder Heiligenverehrung versus Heiligendemontage, die sicherlich Michel Onfray mit seinem „Anti-Freud“ am weitesten getrieben hat. Andreas Mayer legt nun als Wissenschaftshistoriker mit weitreichenden Publikationen zur historisch-wissenschaftlichen Linie der Psychoanalyse die neue Einführung zu Freud vor. Mayer folgt als Vertreter der leider nicht so bekannten „New Freud Studies“ dem Anliegen, die Psychoanalyse als großes und kulturell bedeutendes Narrativ anzuerkennen, das über Freud allein hinausgeht. Diese namentliche Einordnung findet dezidiert leider nur in den Fußnoten Erwähnung. Was sehr schade ist, da sich die „New Freud Studies“ doch gerade in zeitgemäßer Abgrenzung gegen die polemischen und idealisierend-abwertenden „Freud Wars“ in den USA aus den 1980er und 90er Jahren stellen, die in Europa die Medien immer noch zu bestimmen scheinen. Die Erwartung an den Einführungsband war also groß. Und Mayer hat sie weitgehend erfüllt, wenn auch mit einem Wermutstropfen, da der Text als „Einführung“ für diejenigen, die mit Freuds Werk bislang wenig vertraut sind etwas komplex bleibt.

Mayers Text ist gerade dort hochaktuell und am aussagekräftigsten, wo das herausragende historische Wissen des Autors mit dem scheinbar bereits bekannten zusammentrifft. Am Beispiel der „Traumdeutung“, die hier ebenfalls als damaliges Zeitphänomen eingeordnet wird, bekommt Freuds Werk eine so noch nicht allgemein bekannte Basis und zeitgeschichtliche Kontextualisierung. Freud wird dann nicht als unumstößliches Idol dargestellt, sondern als ein in seiner Zeit lebender Forscher. Der Aufbau zeigt zunächst Freuds Entwicklung aus seiner wichtigen Frühphase, über die Hysterie-Studien direkt hin zur Deutung der Träume. Danach folgen Sexualität, Fallberichte, analytische Grundbegriffe und die zentralen Objektbeziehungen. Ab der Hälfte des Textes werden dann, vielleicht etwas zu früh, Freuds kulturkritische Schriften behandelt, was für Historiker, Philosophen und Kulturwissenschaftler vielleicht werkimmanent schlüssig ist, aber Freud als Erfinder und Gründer einer psychoanalytisch fundierten und staatlich approbierten Therapieform im 20. Jahrhundert etwas ausspart. Die weltweite Bewegung wird hier als etwas zu selbstverständlich beschrieben. Denn ohne Freuds Methode, die eben nicht allein mehr nur aus der Hypnose herleitbar ist, sondern mit den Begriffen der Übertragung und der Bindung weitreichender kontextualisiert werden muss, wäre die heutige Psychotherapie als über die Krankenkasse abrechenbare Leistung im Gesundheitssystem gar nicht denkbar. Gerade Mayers Vergleich der psychoanalytischen Praxis als „kurioses Privatmuseum“ ist hier nicht mehr schlüssig, im Gegensatz zur tatsächlichen Praxis und der Couch als zentralem Bestandteil des Settings, wie es z.B. in Alf Gerlachs Sammelband „Psychoanalyse mit und ohne Couch. Haltung und Methode“ herausgearbeitet und abgewogen wird.

Die Dynamik von Freuds Schule also nur historisch-kritisch auf seine eigenen Schriften zu beschränken, ist auch hier schon kaum mehr möglich und so gerät die Übersichtlichkeit einer Einführung etwas aus dem Ruder. Eine kurze Zusammenfassung von Freuds Instanzenmodell, dem therapeutischen Setting und einigen grundlegenden Begriffen per se wäre hier wünschenswert gewesen, auch wenn das vom Autor nicht intendiert scheint, da er eben „Ansätze zu einer kritisch-historischen Auseinandersetzung mit seinem Werk“ anstrebt. In diesem Zusammenhang kommen die Entdeckung und Benennung des Unbewussten, wohl Freuds größte Errungenschaft, und die Statuierung der analytischen Situation in der „Redekur“ als wissenschaftlich fundierte und funktionable Therapieform etwas zu kurz.

Allerdings bleibt auch in Mayers Ausführungen das Unbewusste als „neuralgische Stelle des Freud’schen Unternehmens“ stets im Zentrum. Der „Dienst eines Lesbarmachens“ von Freuds Texten ist als roter Faden in Mayers Narrativ ständig zu spüren und vor allem das Anliegen, dass es sich bei der Psychoanalyse tatsächlich, wie in den Medien so oft behauptet, um „keine neue Weltanschauung und kein geschlossenes theoretisches System“ handelt, sondern um ein Feld, „das von zahlreichen Unbekannten beherrscht wird.“ Hier muss man Mayer und seiner Fürsprache für die Dynamik der Psychoanalyse immer wieder zustimmen. Gerade in den Kapiteln zur „Archaischen Erbschaft“ in Beziehung zur Massenpsychologie, zu „Eros und Thanatos“ in Verbindung mit Narzissmus und Kultur wird diese Position deutlich. Aber auch die kontroversen Thesen Freuds über die weibliche Sexualität öffnet Mayer zu einer modernen Lesart jenseits des bloßen „Penisneids“ und zeigt vor allem, dass Freud hier an seine Grenzen kam und irgendwann „nicht mehr gewillt war, weiter dazu beizutragen“. Zuletzt bringt Mayer auch Freuds Positionen zum „Unbewussten der Geschichte“, das Freud bekanntlich ebenfalls mehr als weit trieb, zu einem sinnvollen Ergebnis, da er Freuds Projekt der Psychoanalyse als hoffnungsvolles Gegenstück der historischen Krisenzeit für eine „Bewahrung seines geistigen Erbes durch die Schrift und seine Schule“ beschreibt, „allen Spaltungen und Zerwürfnissen zum Trotz.“ Hier leuchtet das auf, was als „New Freud Studies“ vielleicht gelesen werden kann, schon ganz in der Tradition von Jacques Derrida und seinem Aufsatz zu „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in dem dieser ebenfalls für eine ursprüngliche Schriftlichkeit gegen die alleinig historisch-biographische Lesart und Interpretation plädiert.

Festzuhalten bleibt, dass es sich hier um ein sehr kluges und weitreichendes Einführungsnarrativ zu Freud handelt, auch wenn es sicherlich den Rahmen an eine erste Heranführung sprengt. Der Versuch, die Anforderungen an eine erste Begegnung von Studenten mit Freud zu erfüllen, wie es im Falle des Junius-Verlags ja meist der Fall ist, wird allerdings nicht erfüllt. Insgesamt würde man sich wünschen, der Junius-Verlag, wie auch der Autor, wären vielleicht mutiger gewesen und hätten den Text unter dem Titel „New Freud Studies“ als zusätzlichen Zweig einer Freud-Einführung angelegt und ausgebaut. Vielleicht wäre für die Zukunft eine Publikation hierzu denkbar, die interdisziplinär sicher notwendig ist, um die „New Freud Studies“ weiterhin zu stärken. Insgesamt bietet Mayers Buch gerade wegen der sehr differenzierten Lesart der kulturtheoretischen Kontroversen um die ewigen Schlagworte wie den Ödipuskomplex, den Narzissmus oder das Tabu ein spannendes und an der Gegenwart ausgerichtetes Verhältnis zu Freud in seinen und um seine Schriften, das noch zu entdecken ist. Der mit vielen historischen Details und Auseinandersetzungen reiche Text richtet sich allerdings vielleicht eher (zunächst noch) an Historiker, Philosophen und Kulturwissenschaftler als an Mediziner, Pädagogen und Psychologen, da das zentrale Modell, die Theorie und die Struktur von Freuds Jahrhundertwerk, oft anderen Diskursen weichen muss und etwas mosaikhaft zwischen den Kapiteln mäandert. Doch eines bleibt hier festzuhalten: Vielleicht steht diese Einführung am Ende wirklich an einer Art Gelenkstelle der zukünftigen Forschungsrichtung mit Freud und der Psychoanalyse. Gerade die polemischen Kontroversen um Freuds Person zwischen Kokain- und Sexsucht, wie auch die Idealisierung seines Theoriegebäudes zwischen Unbewusstem und Allheilmittel, sind so noch gar nicht ganz zu greifen und bedürfen nach wie vor wissenschaftlicher Beschäftigung. Dies scheint auch nötig, da es noch immer keine tatsächlich kritische und fundierte Edition seiner Schriften gibt. Andreas Mayer betritt jedenfalls den Weg einer kommenden Rezeption, sollte aber für die „New Freud Studies“ weiterhin eine Lanze brechen und diese nachhaltig fundieren.

Titelbild

Andreas Mayer: Sigmund Freud zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2016.
192 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885060901

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch