Wahrheit, weil Dichtung

Wolfgang Koeppens vollendetes Fragment „Jugend“ – Eine Würdigung vor 40 Jahren

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Die Frage, wozu wir die Dichtung brauchen, wird mit Vorliebe dann gestellt, wenn wir nicht ganz sicher sind, ob wir eine zeitgenössische Literatur überhaupt noch haben. Daher scheint diese unbequeme Frage bei uns seit mindestens zehn Jahren dringlicher denn je. Aber sie ist uralt, vermutlich kaum jünger als die Literatur selber.

Gleichwohl muß diese Frage stets wiederholt werden, sie darf schon deshalb nie in Vergessenheit geraten, weil der Zweifel an der Nützlichkeit, ja sogar an der Notwendigkeit der Literatur ihr nie geschadet und häufig geholfen hat. Diesem Ast bekommt es gut, wenn man an ihm sägt: Die Diskussion um den Sinn und den Zweck der Literatur trägt oft zu einem Klima bei, das die Entstehung neuer literarischer Werke anregt und begünstigt.

Dabei ist offenbar belanglos, daß diese Diskussion noch nie zu einem rechten Ergebnis geführt hat. Denn die Frage, um die es hier geht, läßt eine abschließende Antwort gar nicht zu. Die Kunst ist engagiert und zwecklos zugleich. Sie ist nicht mehr als ein Spaß (freilich ein erhabener) und ein Spiel, dem es allerdings am tiefsten Ernst nicht mangelt. Und sie ist nicht weniger als ein Zeichen des Strebens nach Vollendung und der höchste Ausdruck aller menschlichen Bemühungen. Jener Poet, der vor Jahrtausenden kühn und, wie wir längst wissen, nicht zu Unrecht erklärte, er habe ein Monument errichtet, das dauerhafter sei als Erz, deutete den geheimsten Wunsch aller Künstler an: Nicht die Welt zu verändern (obwohl dies ein Vergnügen ist, auf das man so schnell nicht verzichtet), sondern zu schaffen, was bleibt.

Damit mag es zusammenhängen, daß die beunruhigende Frage nach der Daseinsberechtigung der Literatur nie die Kritik, die Wissenschaft, die Theorie beantworten kann. Denn alle Argumente jener, die sich der Verteidigung der guten Sache annehmen, sind vergeblich, wo dem literarischen Text, und sei er noch so gescheit und weise, die Kraft und die Aura der Kunst fehlen. Und alle Fragen und alle Zweifel werden gegenstandslos angesichts der authentischen Poesie.

Anders ausgedrückt: Die Antwort, was und wozu Literatur denn sei, kann immer nur von der Literatur kommen, sie verteidigt sich am wirkungsvollsten durch sich selbst. So kann ein einziges kleines Buch genügen, um die Frage nach dem Nutzen, den wir hier und heute von der Literatur haben, gleichsam vom Tisch zu fegen. Ein solches Buch ist Wolfgang Koeppens „Jugend“.

Einordnen läßt sich dieses Prosawerk kaum. Es ist weder ein Bericht noch eine Chronik, weder eine Skizze noch eine Erzählung. Auch bietet es weder ein Selbstporträt noch eine Autobiographie. Nur eine Dichtung ist es und nicht mehr als ein Fragment. Doch sind damit bereits die beiden wichtigsten Elemente der „Jugend“ bezeichnet: das Poetische, das auf jeder Seite dieser Prosa spürbar ist, und das Bruchstückhafte, hinter dem sich ein ästhetisches Programm verbirgt. Koeppens Buch ist nicht Dichtung und Wahrheit, sondern Wahrheit weil Dichtung. Und es ist auf seine Weise vollendet, nicht obwohl, sondern weil es als Fragment konzipiert war und es glücklicherweise auch geblieben ist.

Dieser Rückblick auf eine Jugend täuscht keine formale Ganzheit vor: Er hat weder einen Anfang noch ein Ende, er ist offen. Und wie in jedem Fragment, das als solches beabsichtigt war, deutet die offene Form jenes Suchen an, das sich nie erfolgreich beenden läßt: Die Form signalisiert die Unmöglichkeit, eine Lösung zu finden. Wenn Koeppen in einem vor bald drei Jahren geführten, doch erst unlängst publizierten Gespräch das „Geheimnis des Fragments“ erwähnt, so ist damit letztlich wohl nichts anderes gemeint als die Unendlichkeit des Stoffes, auf die jedes Fragment wie von selbst verweist, nämlich schon dank seiner Existenz.

Im selben Gespräch beruft sich Koeppen auf Novalis, in dessen Notizen und Aufzeichnungen er eine „innere Autobiographie“ sieht. In der Tat ist das Buch „Jugend“ in weit höherem Maße als die vorangegangenen Werke Koeppens der deutschen Romantik verpflichtet. Hierbei geht es weniger um Vorbilder als vor allem um das Lebensgefühl, das diese Prosa auf ebenso diskrete wie unverkennbare Weise formuliert.

Romantisch ist Koeppens souveräner Individualismus, den der Zeitgeist nie zu beeinträchtigen vermochte, romantisch ist sein herausfordernder und gleichwohl demütiger Subjektivismus, romantisch ist die paradoxe Verbindung von Weltflucht und Lebenshunger: Er möchte der Welt den Rücken kehren und sie dennoch genießen. Und was er ablehnt oder doch anzweifelt, muß er auch bewundern, was ihn schaudern läßt, fasziniert ihn zugleich. Das Land der Jugend mit der Seele suchend, findet er den Schatten des Todes; die Bettlaken, die seine Mutter ausbessert, vergleicht er mit Leichentüchern; die graue See scheint ihm „eine unendliche Grabplatte“, die Orte seiner Zuflucht sind Friedhöfe.

Romantisch schließlich ist Koeppens, des Schwermütigen und Hoffnungslosen, stille und dunkle Ahnung von der großen Vergeblichkeit. Die Engel, die jene erlösen können, die immer strebend sich bemühen, kennt Koeppen nicht. Seine Engel sind Todesboten. Wenn in diesem Buch von Fahnen die Rede ist, dann sind es die weißen Fahnen der Niederlage und die schwarzen Fahnen der Anarchie. Es gibt keinen Sieg, es kann keinen geben. Denn: „Wir sind von Anbeginn verurteilt.“

Aber Koeppen hat kein philosophisches Buch geschrieben. Seine Wahrheit geht vom Konkreten aus und bewährt sich am Konkreten, seine Dichtung lebt vom Sinnlichen. Was hier metaphysisch gemeint sein mag, ist zugleich gegenständlich und anschaulich. Und das Gegenständliche und Anschauliche verweist immer auch auf eine andere Ebene, es hat noch einen zweiten Sinn, einen doppelten Boden: In seiner Prosa gewinnen die Realien die Qualität poetischer Symbole und die poetischen Symbole haben die Gegenwärtigkeit der greifbaren Realität. Mit anderen Worten: Was immer Koeppen erzählt, es gerät ihm, ob er es will oder nicht, zum Gleichnis.

Indes: ein Gleichnis wovon und wofür? Müßte man den Inhalt des Buches mit wenigen Worten wiedergeben, dann könnte man vielleicht sagen, in ihm gehe es um die Einsamkeit des Individuums innerhalb der Gesellschaft und um das Los des Außenseiters, der sich weder einfügen noch anpassen will, der sich vielmehr der überkommenen moralischen Ordnung mit ihren längst ausgehöhlten Regeln, Geboten und Konventionen auf seine Weise, halb rebellierend und halb fliehend, zu entziehen versucht, und dies, ließe sich hinzufügen, vor dem Hintergrund einer norddeutschen Universitätsstadt in der Zeit etwa von 1913 bis 1925.

Doch was eine solche dürre Wiedergabe suggeriert, bietet das Buch „Jugend“ gerade nicht: Koeppen verzichtet auf eine zusammenhängende Geschichte. Er mißtraut der Fabel, die dem Romancier zwar die übersichtliche Präsentation des Stoffes erleichtert, ihn aber gleichzeitig zu einer vereinfachenden oder gar verfälschenden Darstellung verführen kann. Die traditionelle Fabel empfindet Koeppen inzwischen, so scheint es, als eine Art Korsett, in das sich das Leben nicht zwängen läßt, oder vielleicht auch als ein Hilfsmittel, eine Krücke, deren er nicht mehr bedarf. Jedenfalls ist sein Buch ein Fragment aus Fragmenten.

Daß es gleichwohl ein Ganzes ist, verdankt es seinem Stil, was auf die Sprache dieser Prosa ebenso abzielt wie auf ihre (fast makellos durchgehaltene) Stimmung. Eine derartige Unterscheidung ist eigentlich schon unzulässig. Denn Diktion und Atmosphäre bedingen und erzeugen sich hier gegenseitig, Sprache und Stimmung bilden bei Koeppen eine unzertrennliche Einheit.

„Ich glaubte damals, aufzuwachen“, heißt es in dem Buch „Jugend“, „aber die Wahrheit ist wohl, daß mein Schlaf sich in einem Traum verlor. Ich sah mich in diesem Traum agieren …“ Der Koeppen der siebziger Jahre ist, um ein berühmtes Wort von Friedrich Schlegel abzuwandeln, ein rückwärts gekehrter Träumer. Die einzelnen Fragmente sind Wachträume voller Realität und doch immer auch an der Grenze der Realität.

Und wie in einem Traum ist die Welt, die Koeppens Dichtung beschwört, in weite Ferne gerückt und trotzdem scharf und genau sichtbar. Ein Anhänger der in der deutschen Literatur allzu beliebten Dämmerung war Koeppen nie: Das Licht, in das er die Figuren und Vorgänge in dem Buch „Jugend“ taucht, ist hell und überhell und bisweilen auch unbarmherzig.

Nur wenn er von seiner Mutter spricht, dämpft und mildert Koeppen das Licht. Die Linien verfließen und das Porträt wird, was es sein soll: verschwiegen und doch vielsagend, sehr zart und überhaupt nicht sentimental. Der Mutter ist der erste Satz des Buches gewidmet ebenso wie der letzte. In ihrer lediglich in vagen Umrissen erkennbaren Geschichte paraphrasiert Koeppen das im Mittelpunkt des Fragments „Jugend“ stehende Außenseitermotiv, ihr Schicksal dient, wenn der technisch anmutende Ausdruck erlaubt ist, als Folie, die den späteren Weg des Sohnes in die Isolation verständlich macht: Er ist das Kind „eines in die Luft Gestiegenen, in Wolken Entschwundenen“, und die junge Mutter, „gebrandmarkt auf dem Altar der hämischen Göttin Sitte, Untertan der einsichtslosen gebärsüchtigen Natur“, begreift sofort, was ihr in der wilhelminischen Kleinstadt bevorsteht:

„Der Schrei in ihr wurde nicht laut, sie unterdrückte ihn, er erstickte sie, denn ihr war gewiß, daß sie nun werde flüstern müssen ihr Leben lang, sie faßte es nicht, ertrug es nicht, daß dies ihr Leben war, sie wehrte sich, sie schlug sich, aber es war nicht abzuschütteln, dies was ihr auferlegt war, das Entsetzen das in ihr war, in ihrem Leib wuchs und mit ihr ging und bei ihr blieb und bleiben würde, und überall in der Stadt, auf jeder Straße, hinter jedem Fenster, in allen Stuben waren Augen die sie maßen, Finger die auf sie wiesen, Münder die sie höhnten.“

Die Bitterheit der Mutter schlägt beim Sohn in Aggressivität um, der Schmerz in Empörung, die Leiden in Wut und Haß. Der Junge will nicht mitmachen, er sieht „in allen möglichen Daseinsformen nur Verkleidungen“, und jede scheint ihm verwerflich: „Ich hatte mir nichts vorgenommen, nicht einmal die Ziellosigkeit; nur steuerte ich beharrlich von den anderen fort, und das war es, worauf es mir ankam.“ Und: „Ich ging absichtlich gebeugt. Ich wünschte mir einen Buckel. Ich wollte ausgestoßen sein.“

Aus der Sicht eines Ausgestoßenen, einer Sicht, die Nähe und Distanz zu verbinden weiß, schildert Koeppen eine Welt, in der „die Ordnung streng und die Sitte auf eine wiederum von der Sitte gebilligte Weise gefährdet ist“. Er skizziert, oft nur mit wenigen Sätzen, die Orte, die für diese Welt (vor dem Krieg, während des Krieges und auch noch später) charakteristisch sind : einen Herrensitz, den Kasernenhof, ein anrüchiges Lokal, eine militärische Erziehungsanstalt, eine Theatergarderobe, Läden und Kinos, Straßen und Plätze, er beschreibt eine Beerdigung und eine Theaterprobe, einen deutschen Professor und einen deutschen Richter. Und immer wieder wird an die drei außerhalb der Stadt gelegenen Institutionen erinnert: an das Gefängnis, die Irrenanstalt und den Friedhof. Das Buch zeigt auch – in prägnant-eindringlichen Abschnitten – die Faszination, die auf die junge Generation der frühen zwanziger Jahre die neuen Parolen ausgeübt haben: der Schrei des Expressionismus und die Visionen des Kommunismus.

Koeppen hat sein ganzes Werk als den Versuch „eines Monologs gegen die Welt“ bezeichnet. Das gilt erst recht für das Fragment „Jugend“. Aber es läßt auch, ähnlich wie alle vorangegangenen Bücher dieses großen Schriftstellers, die Antinomie als Grundzug seines Wesens erkennen: Diese bittere Elegie ist insgeheim auch ein Plädoyer für die Schönheit des Lebens, die verzweifelte Klage geht unmerklich in eine verzückte Hymne über, im empörten Protest gegen die Ungerechtigkeit verbirgt sich ein leidenschaftliches Preislied auf den Reiz des Daseins. Der Monolog gegen die Welt ist schließlich doch ein Monolog für die Welt.

In dem Buch „Jugend“ wird einmal beiläufig der „drängende Atem der Liebenden unter dem Gebüsch in den Ruderbooten des Sommers“ erwähnt. Mit dieser Wendung könnte man vielleicht auch andeuten, was Koeppens heftige, rhythmische Sätze, seine fortreißenden Wortkaskaden auszeichnet: Sie lassen den „drängenden Atem der Liebenden“ spüren. Dies ist erotische Prosa in des Begriffes tiefster Bedeutung. Mit Koeppens vollendetem Fragment „Jugend“ hat die (leider nicht zu Unrecht) vielgeschmähte deutsche Gegenwartsliteratur einen überraschenden Höhepunkt erreicht. Ein neuer Maßstab ist gesetzt – für die Dichter ebenso wie für uns, die Kritiker.

„Ich nehme es für mich als ganz selbstverständlich hin – sagte Koeppen in dem vorher zitierten Gespräch –, daß ich einen Publikumserfolg im Sinne eines Bestsellers niemals haben werde.“ Das trifft leider zu. Aber das muß nicht so bleiben. Das hängt von den deutschen Lesern ab und auch von den Buchhändlern. In ihrer Macht ist es, Wolfgang Koeppens Befund zu widerlegen.

 

Anmerkung der Redaktion (TA): Der Beitrag ist unter diesem Titel zuerst in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.11.1976 erschienen und zwanzig Jahre später nur mit dem Obertitel in einer geringfügig überarbeiteten Version in Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen. Aufsätze und Reden. Ammann Verlag, Zürich 1996 (Taschenbuchausgabe: S. Fischer, Frankfurt a.M 1998). S. 63-71.  Eine erweiterte Neuauflage des vergriffenen Bandes erscheint zu Koeppens 110. Geburtstag am 23. Juni 2016 im Verlag LiteraturWissenschaft.de. Sie enthält auch eine Übersetzung des ersten Artikels von Reich-Ranicki über Koeppen, den er 1957 in Polen publizierte. Zu Koeppens 20. Todestag wurde in der April-Ausgabe 2016 von literaturkritik wiederveröffentlicht: Marcel Reich-Ranicki: Der Dichter unserer Niederlagen. Zum Tod des großen deutschen Schriftstellers Wolfgang Koeppen. Ein umfangreicher Aufsatz von 1963 über Koeppen ist 2015 nachgedruckt worden in Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945. Koeppens „Jugend“ erscheint, herausgegeben von Eckhard Schumacher, am 13. Juni 2016 als Band 7 der „Werke in 16 Bänden“. Siehe dazu den Beitrag von Schumacher in dieser Ausgabe. – Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung des Artikels an dieser Stelle.