Klassentreffen

34 Hildesheimer SchreibstudentInnen stellen ihr Können unter Beweis

Von Julian IngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Ingelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hildesheim ist ein 100.000-Seelen-Städtchen in der Nähe von Hannover, das sich laut einer Heimathymne der Band Phrasenmäher besonders „durch das Fehlen einer Attraktion“ auszeichnet. Dass Hildesheim trotzdem vielen Literaturinteressierten ein Begriff ist, liegt am Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“, den die dortige Universität seit 1999 anbietet. Hier können hoffnungsvolle Nachwuchstalente lernen, wie man Buchstaben zu Worten und Worte zu Sätzen webt, und wie aus diesen Sätzen am Ende Literatur entsteht. 2005 versammelten die dortigen StudentInnen ihre Texte erstmals in einer Anthologie – ein Projekt, das prompt zur Tradition wurde: Mit Landpartie 16 erscheint dieses Jahr bereits die elfte Hildesheimer Werkschau. Unter der Ägide von Christian Schärf, dem Leiter des Instituts für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft, stellen sich 34 JungschriftstellerInnen einer schwierigen Aufgabe: Auf jeweils zwei bis sechs Druckseiten müssen sie ihre LeserInnen davon überzeugen, dass sie zur Zukunft des deutschsprachigen Literaturbetriebs gehören. Einigen von ihnen gelingt das mit Bravour.

Besonders vielversprechend ist der Text Die Pillengesellschaft von Julia Rüegger. In diesem Auszug aus einem Erzählzyklus schildert eine namenlose Protagonistin, wie die echten oder eingebildeten Krankheiten ihrer Eltern das Familienleben zerstören. Einfühlsam berichtet sie von der Depression ihres Vaters und den Versuchen ihrer Mutter, damit umzugehen. Schließlich begreift der Leser, wie der Medikamentenmissbrauch der Eltern auch die Tochter in die Hypochondrie treibt: „Ich behaupte zu spüren, dass ich einmal unfruchtbar sein werde. Es kommt mir gar nicht so abwegig vor. Je seltener eine Störung oder Krankheit vorkommt, desto wahrscheinlicher ist sie für mich. Das hatte ich irgendwann entschieden. Meine Eltern finden es aber nicht gut. Mit so was spasst [sic!] man nicht.“ Die lakonische Melancholie dieser Sätze prägt Rüeggers gesamten Text und sorgt dafür, dass Die Pillengesellschaft in Erinnerung bleibt. Das gilt auch für die Texte von Tim Schauenberg und Dana Junge. Während sich Schauenbergs rätselhafte Kurzgeschichte Appartement 58 auf Andeutungen beschränkt und bravourös eine bedrohliche Atmosphäre erschafft, vermittelt Junges Romanauszug 69er und so die Geschehnisse einer ungewöhnlichen WG-Besichtigung so anschaulich, dass man am liebsten gleich das ganze Buch lesen würde.

Bevor sich der interessierte Leser jedoch auf die vielen gelungenen Texte dieser Sammlung einlassen kann, sticht ihm die ungewöhnliche äußere Gestaltung der Landpartie ins Auge: Das Buch besitzt keinen Umschlag und kommt als notdürftig zusammengeklebte Loseblattsammlung daher. Das Layout greift diese Idee auf und präsentiert die versammelten Erzählungen in der optischen Aufmachung einer Normseite: Große Seitenränder umrahmen die Texte, die in einer nichtproportionalen Schriftart ohne Serifen gesetzt sind. Dieses Design charakterisiert zwar die Vorläufigkeit einer studentischen Werkschau, ist aber allzu deutlich am Schreibtisch konzipiert worden. Was als Idee funktioniert, entpuppt sich in der gedruckten Realität als zu leserunfreundlich: Einem Exemplar sieht man schnell an, wie häufig es auf einer Bahnreise in den Rucksack gestopft wurde oder wie oft es als improvisiertes Kopfkissen herhalten musste, weil der Leser bei der Lektüre vom Schlaf übermannt wurde. Das Design der Landpartie 16 ist also charmant, aber unpraktisch.

Umso überzeugender ist ihr Inhalt. Die durchschnittliche Qualität der versammelten Texte beeindruckt ebenso wie ihr stilistischer und thematischer Variantenreichtum. Die AutorInnen beschäftigen sich mit der Flüchtlingskrise, einer Drogensucht oder dem Weltuntergang; sie literarisieren den Tod naher Verwandter ebenso wie das Leben und die Ansichten eines alternden Fußballspielers. Von universitätssprachlicher Glattbügelei oder hochschulischer Kreativitätsgleichschaltung findet sich also keine Spur. Zwar verfolgen einige Texte ihre sprachliche Grundidee ein wenig zu zielstrebig, andere sind unverständlich kryptisch oder bis zur Unleserlichkeit prätentiös, doch die Highlights überwiegen.

So stellt etwa Michael Wolf in seiner Erzählung Nach das dubiose Unternehmen „LifeEx“ vor, das seinen Kunden einen ganz besonderen Service bietet: Als eine Art privatwirtschaftliches Zeugenschutzprogramm organisiert die Firma das spurlose Verschwinden ihrer Klienten. Der Leser folgt dem Protagonisten in die neue Anonymität und stellt sich bald selbst die Frage, was ihn zu einem solch radikalen Schritt bewegen könnte. Wolf schafft es, seine Idee in eine spannende literarische Erzählung zu verwandeln und weckt Lust auf mehr. Das gilt auch für Fabian Neidhardts beunruhigende Ein-Satz-Story Das Andererseits der Erkenntnis, die einen Ich-Erzähler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten präsentiert: Er kann Tote zum Leben erwecken und muss nun herausfinden, ob dieses Talent Fluch oder Segen ist. Ähnlich unkonventionell kommt auch der Beitrag von Jan Tuhl daher. Für Freunde des schwarzen Humors beantwortet er in seinem Text die Titelfrage Was tun, wenn die Mutter deiner Freundin ihre Drogen findet. Sein Lösungsansatz beruht auf Folter als Ablenkungsmanöver. Der Feststellung „Gewalt schockt heutzutage keinen mehr“ folgt ein Text, der das Ausreißen von Zähnen und das Abziehen von Haut in grausamen Details ausmalt.

Zum Glück gestaltet sich die Lektüre der Landpartie 16 deutlich angenehmer als die in Thuls Text beschriebenen Praktiken. Die Werkschau beweist zwar nicht, dass man literarisches Schreiben lernen kann; aber sie zeigt, dass die Hildesheimer Verantwortlichen ein großes Talent dafür besitzen, begabte und vielversprechende NachwuchsschriftstellerInnen zu versammeln. Oder um es in den Worten Maxim Billers zu sagen, der die Anthologie um ein Vorwort bereichert: „Sie können schreiben“.

Titelbild

Elinor Brandi / Achim Jäger / Judith Martin / Lisa Paetow (Hg.): Landpartie 16. Eine literarische Werkschau.
zu Klampen Verlag, Springe 2016.
200 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783866745308

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