Es bleibt spannend

Marc Caduff widmet sich in „Revision und Revolte“ den dichtungstheoretischen Prinzipien im Frühwerk Robert Walsers

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Walser hat keinen dezidiert dichtungstheoretischen Text hinterlassen, aus dem die poetologischen Grundsätze seines Schaffens oder werkprägende Gestaltungsprinzipien hervorgingen. Allerdings lässt er die Figuren, einschließlich der Ich-Erzähler, in vielen seiner Texte über das Schreiben, Schreibmotivationen und Versprachlichungsprozesse reflektieren.  Wollte man Walsers poetologisches Programm allein aus diesen Textzeugnissen gewinnen, würde man nicht nur Erzähler und Autor in unzulässiger Weise gleichsetzen. Zugleich würde man die von Walser unbewusst entwickelten poetologischen Leitlinien übersehen, denn der Autor war (zumeist) ein intuitiver und im klassischen Sinne ungebildeter Schreiber. Anzuwenden wäre also ein textanalytisches Verfahren, bei dem möglichst viele seiner Texte auf gemeinsame Gestaltungsprinzipien untersucht werden, die eher in der Substruktur der Texte verborgen liegen, aber durch eine präzise hermeneutische Untersuchung aufgedeckt werden können.

Eben diesen Ansatz verfolgt Marc Caduff in seiner Untersuchung „Revision und Revolte“ des Frühwerks Robert Walsers. Er geht dem poetologischen Konzept in den frühen Texten des Dichters nach. Diese verortet er in der Phase von 1898 bis 1907, somit ist der Roman „Geschwister Tanner“ im Untersuchungszeitraum enthalten. An den Anfang seiner Studie stellt Caduff ein frühes, zu Lebzeiten Walsers unveröffentlichtes Gedicht: „Begebenheiten winken / aus meinem blühenden Willen / wohl, doch im zu stillen / Teich meiner Jugend blinken / die vielen Versunkenheiten. – / der Tag fängt an zu streiten!“

Caduff sieht in diesem frühen, mit „Anfang“ betitelten Gedicht bereits das poetologische Grundprogramm Walsers angelegt: das „Agonale als Produktivfaktor“, Widerstreit und Kontroverse als Grundthema sowie als „fundamentale Konzeption des literarischen Schreibens“. Walsers Erzähler sind eigenwillige Außenseiter, unstete Büroangestellte oder entrückte Künstler, die gegen gesellschaftliche Konventionen, Vorgaben einer repressiven, sinnentleerten Arbeitswelt oder die literarische Tradition opponieren, um aus dieser kritisch-aufsässigen Haltung heraus ihren erzählerischen Impetus zu schöpfen.

Mögen Repression und Normenkorsett auch die Entwicklung der Figuren hemmen und mag ihr Revoltieren eher in den Rückzug führen, produktionsästhetisch fungiert diese Konstellation jedoch als „Generator poetischer Kreativität“ und wird, so Caduff, zum bestimmenden Motiv in der frühwerklichen Poetik Robert Walsers. Oder anders ausgedrückt: Die Auflehnung gegen Konventionen, Vorgaben oder literarische Vorbilder führt nicht zu deren Überwindung, sondern zu poetischen Reflexionen der Protagonisten, Reflexionen, die ihr Ziel in sich selbst haben und nicht auf Veränderung drängen.

Die beständige Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskursen und der literarischen Tradition, die Walser über seine Figuren vermittelt, verdichtet sich im frühen Schaffen zu einer „Poetik der Revision“. Dabei arbeitet Caduff die intertextuellen Referenzen heraus, die in der Be- und Verarbeitung literarischer Vorbilder wie Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich von Kleist oder Gottfried Keller, aber auch von Märchen oder Trivialliteratur liegen. Das Konzept der „Intertextualität“ wird in Anlehnung an Julia Kristeva verwendet, die den Begriff in den literaturwissenschaftlichen Diskurs mit dem Grundgedanken einführte, dass ein Text immer Spuren der von seinem Autor zuvor rezipierten Texte enthält.

Caduff zeigt, dass selbst der frühe Walser ein enorm belesener Schreiber war, der sich mit den „Prätexten“ auseinandersetzte, indem er diese reflektierte, teils auch um- oder weiterschrieb. Dieses Um- oder Weiterschreiben lässt sich nicht nur an Texten anderer beobachten, auch für eigene Texte wendete Walser das Verfahren an. Diese „Selbstrevision“ führt dazu, dass von einigen Prosastücken, beispielsweise „Spaziergang“ (1917), verschiedene Fassungen überliefert sind. Hierbei zielte Walser jedoch nicht auf die Verbesserung eines Textes, sondern schrieb einen zuvor verfassten Text neu, wobei beide Fassungen gleichberechtigt als unterschiedliche Ausformung eines Themas nebeneinander stehen.

Neben dem revisionären Prinzip auf der inhaltlichen Ebene macht Caduff ein ebensolches auf der sprachlich-rhetorischen Ebene aus. Die Poetik des Widerstreits und der Revision zeigt sich somit etwa in rhetorischen Figuren wie Formen der Gegenrede und des Widerspruchs, wobei das rhetorische Geschick der Außenseiterfiguren die häufig hierarchisch angelegte Figurenkonstellation unterwandert und karikiert. In der sogenannten „Büroprosa“ etwa ist der Angestellte seinem Vorgesetzten rhetorisch überlegen oder – wie in „Fritz Kochers Aufsätze“ – der Schüler dem Lehrer. Auch die für die moderne Poetik vieldiskutierte Selbstreflexivität ist eine wichtige Facette der Walserʼschen Poetik; jene macht Caduff an der Sprache des Autors fest, in der sich die Zeichen von ihrer Referenz lösen, was zu einer „Ablösung von den Dingen der Außenwelt“ und zu einem Rückzug in eine narrative Innenwelt führt.

Zu seiner Poetik hat die Walser-Forschung mittlerweile einige Untersuchungen hervorgebracht. Die bis Mitte der 1990er-Jahre erzielten Ergebnisse fasst Dieter Borchmeyer in seinem Sammelband „Robert Walser und die moderne Poetik“ (1999) zusammen: „Zu den signifikantesten Merkmalen von Robert Walsers Œuvre gehört die für die moderne Poetik grundlegende Selbstreferentialität […] sowie ihre durchgängige, in der späten Prosa sich immer mehr facettierende Intertextualität“. Caduff gelingt es, die vorhandenen Ansätze der Walser-Forschung, die sich eher auf spätere Werke des Autors beziehen, aufzugreifen und die Aspekte der Selbstreferentialität und Intertextualität mit dem Gedanken des revisionären Ansatzes zu verschränken. So entwickelt er ein interpretatorisches Koordinatensystem, in das er die poetologischen Prinzipien des Walserʼschen Frühwerks in einem schlüssigen hermeneutischen Verfahren mit vielen einleuchtenden Einzelergebnissen einordnet.

Walser mag zwar ein Schreiber gewesen sein, der viele seiner Texte – beileibe nicht alle, wie manche Aussage in seinem Briefwechsel bezeugt – in einem Rutsch, ohne Korrekturen oder Ergänzungen aufs Papier brachte, aber planlos im poetologischen Sinne ist seine Dichtung deshalb keineswegs. Die dem Schreiben zugrunde liegenden Produktivfaktoren speisen sich bei Walser aus einer umfangreichen Belesenheit und der Kenntnis zeitgenössischer, literarischer, kultureller oder sozialer Diskurse, mit denen er sich narrativ auseinandersetzt. Die für Walser typischen eigentümlichen Sprachfiguren sind eine Ausprägung dieser Auseinandersetzung, gleichwohl wäre es – und genau das zeigt Caduff – zu kurz gegriffen, die Qualität seines Werks nur auf die sprachkreative Komponente zu reduzieren.

Spricht Borchmeyer von der „Poetik der Bescheidenheit und der Moral des ‚Kleinseins‘“ in Bezug auf Walsers Figuren oder neuerdings Jens Hobus von der „Poetik der Umschreibung“ hinsichtlich der Konzeption von Liebe bei Walser, fügt Caduff der Diskussion jetzt die Facette der „Poetik der Revision“ hinzu. Somit wird deutlich: Es gibt nicht die eine, klar umrissene Poetik Robert Walsers, sondern – je nach Schaffensperiode, Sichtweise und interpretatorischem Zugriff – eine Vielzahl poetologischer Aspekte, die sich, bei allen Brüchen und Widersprüchen im Detail, nicht diametral gegenüberstehen, sondern sich in Punkten wie Intertextualität oder Selbstreferentialität treffen. Caduffs Arbeit wirft einige erhellende Schlaglichter auf die frühe Poetik Robert Walsers und auf dessen Frühwerk insgesamt. Ebenso zeigt sie: Die Beschäftigung mit Robert Walser bleibt spannend.

Titelbild

Marc Caduff: Revision und Revolte. Zu Robert Walsers Frühwerk.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
181 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770559824

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch