Eine Skizze der aktuellen Literatur Costa Ricas

Der Raum der costaricanischen Literatur ist bestimmt durch eine große Diversität an Genres, Subgattungen, Erzählformen und Stilen

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Im Gegensatz zu den hispanoamerikanischen Literaturen insgesamt, insbesondere den großen Nationalliteraturen Argentiniens und Mexikos, aber auch den Literaturen Chiles, Kolumbiens und Kubas, wird die zentralamerikanische Literatur außerhalb der eigenen territorialen Grenzen kaum oder nur marginal rezipiert, analysiert und vermarktet, so Werner Mackenbach. Sogar innerhalb Zentralamerikas selbst findet eine Distribution über die einzelnen Nationalstaaten kaum statt, da es von einigen Ausnahmen abgesehen keine regional operierenden Verlage bzw. Buchvertriebsorganisationen gibt. Der an der Universidad de Costa Rica lehrende Romanist Mackenbach beschreibt die Literatur der zentralamerikanischen Länder sogar als die große Unbekannte, die ein Schattendasein am Rande der lateinamerikanischen Boom-AutorInnen führt. Auch dem Autor Carlos Fonseca zufolge ist Mittelamerika immer noch eine dunkle literarische Region, ein Touristenziel ohne Literatur.

Dass dies jedoch nicht nur ein Nachteil sein muss, verdeutlicht Fonseca, wenn er betont, dass die zentralamerikanische Literatur von einer gewissen Leichtigkeit durchdrungen ist, eben gerade weil sie erst im Entstehen begriffen ist und erst beginnt, sich in das literarische Feld der Weltliteratur einzuschreiben. Diese Leichtigkeit, von der Fonseca spricht, spiegelt sich auch darin wider, dass sich die zeitgenössischen Autoren Zentralamerikas ohne große Bedenken einer ganzen Bandbreite vielfältiger narrativer Techniken und Ressourcen bedienen, Anleihen bei den unterschiedlichsten Genres und Subgattungen machen und sich gerade durch Brüche in formaler und thematischer Hinsicht auszeichnen. Dies bemerkt auch der costaricanische Romancier und Essayist Carlos Cortés, wenn er erklärt, dass die zeitgenössische Generation in Costa Rica sowohl in Bezug auf die Literatur, die Kunst und die Kultur, aber auch in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse in einem Moment der ‚Trans-Gattung‘ lebt. Ein repräsentatives Beispiel für ein solches literarisches Aufbrechen der Grenzen zwischen den einzelnen literarischen Genres ist das Werk von Luis Chaves – einer der wenigen Autoren Costa Ricas, dessen Texte auch in Europa und den USA wahrgenommen werden –, da sich in seiner Literatur Poesie und Prosa derart durchdringen, dass man nur von einer prosaischen Poesie oder einer poetischen Prosa sprechen kann, wenn man das Genre und die literarische Sprache in der Gedichtsammlung La máquina de hacer niebla (2012) bestimmen möchte.

Natürlich kann dieses Essay nur eine Auswahl der reichhaltigen costaricanischen Literaturszene präsentieren, einige herausragende Autoren und Autorinnen vorstellen und versuchen, gemeinsame Themen und Absichten zu skizzieren. Durch die geringe Sichtbarkeit der Literaturszene des Landes über die Grenzen hinaus ist es umso schwieriger, ein präzises Bild der vermeintlich kleinen Literatur zu zeichnen. Das wird umso deutlicher, wenn sogar Carlos Fonseca, ein in London lebender costaricanischer Schriftsteller, beklagt, dass es aus der Ferne unmöglich sei, den Rhythmus der literarischen Veröffentlichungen Costa Ricas zu verfolgen. 

Übersetzt sind in Deutschland ohnehin nur wenige zeitgenössische Autoren: Luis Chaves, der mit einem DAAD-Stipendium ein Jahr in Berlin lebte, und Fernando Contreras Castro, dessen Roman Los peor (deutsch: Der Mönch, das Kind und die Stadt) von Lutz Kliche für den Unionsverlag ins Deutsche übertragen wurde, wobei der zuletzt erwähnte Roman bereits 1995 in Costa Rica erschien und somit eigentlich nicht mehr zur aktuellen Literatur Costa Ricas hinzugerechnet werden kann. Eine wichtige Arbeit für die Rezeption zentralamerikanischer und somit auch costaricanischer Literatur in Deutschland stellt die von Sergio Ramírez herausgegebene Anthologie Un espejo roto. Antología del nuevo cuento de Centroamérica y República Dominicana (deutsch: Zwischen Süd und Nord. Neue Erzähler aus Mittelamerika) dar, mittels der sich auch ein deutscher Leser, der nicht der spanischen Sprache mächtig ist, zumindest einen ersten Eindruck verschaffen kann. Eine andere Möglichkeit, sich eine Übersicht nicht nur über die zeitgenössische Literatur Costa Ricas, sondern über die ganz Zentralamerikas zu machen, stellt auch das Literaturportal Centroamérica cuenta vom Goethe Institut dar, das die Autoren der jeweiligen Länder vorstellt. 

Luis Chaves‘ Ästhetik von Oberfläche und Tiefenstruktur

Der außerhalb Costa Ricas bekannteste Autor dürfte derzeit wohl Luis Chaves sein. Er ist einer der meistverlegten Schriftsteller Costa Ricas und wird unter anderem in Spanien, Deutschland und den Vereinigten Staaten rezipiert. In Spanien wurde die Gedichtanthologie La máquina de hacer niebla (2012) herausgebracht, in deren Vorwort auf die Besonderheit seiner Dichtung hingewiesen wird: Chaves transformiere irrelevant erscheinende Alltagsbegebenheiten in Ereignisse mit Symbolcharakter und der Autor selbst habe seine Poesie als eine definiert, die von den kleinen Dingen erzählt, una poesía de las cosas pequeñas. In Deutschland ist 2012 im hochroth-Verlag der Gedichtband La foto (deutsch: Das Foto) erschienen und 2013 Debajo de esto hay algo mejor (deutsch: Hier drunter liegt was Besseres). Sein Werk umspannt jedoch nicht nur Lyrik, sondern reicht von prosaischer Poesie oder poetischer Prosa, über Chroniken, Essays, Erzählungen und Rezensionen, bis hin zu literarischen Übersetzungen. Auch betreibt er einen eigenen Blog, Tetrabrik. Die Grenzziehungen zwischen diesen einzelnen Genres ist bei Chaves aber nicht trennscharf, wie weiter oben schon angedeutet, sondern die Formen des lyrischen Verses vermischen sich beispielsweise mit dem prosaischen Stil. Während Chaves in Bezug auf die literarischen Gattungen also eher die Überschreitung der Grenzen zu interessieren scheint, bestimmt eine dialektische Struktur sein ganzes Werk: die Dialektik zwischen Oberfläche und Tiefe. Während seine Schriften zunächst suggerieren Alltägliches abzubilden, wird dieser Eindruck zunehmend aufgelöst. Der Leser wird durch den fragmentarischen Charakter seiner Texte zu einer Reflexion darüber angeregt, was sich zwischen den dargestellten Szenen und Textpassagen abspielt und warum jene Situationen an die Textoberfläche gedrungen, während andere nicht in die Verschriftlichung eingegangen sind. Wenn Chaves den Prozess des Erinnerns als Ansammlung einzelner Photographien darstellt, die in der Lage sind, eine Oberfläche abzubilden, wird hierdurch eine Suchbewegung des Lesers initiiert, die der Ergründung des Nicht-Abgebildeten beziehungsweise des Nicht-auf-der-Bildfläche-Erscheinenden gilt.

In seinem 2014 veröffentlichten Roman Salvapantallas – in dem es abermals zu einer Brechung mit dem Einhalten eines einzigen Genre kommt, da der Text als Roman, aber ebenso als Erzählsammlung oder Chronik gelesen werden kann – berichtet der Protagonist an einer Stelle davon, wie er den Schorf von einer Wunde zieht und sich die Wunde hierdurch in eine Narbe verwandelt, die für immer bleibt. Dies kann als eine Poetik des eigenen Schreibens gedeutet werden: Bei Chaves zieht sich ein Motiv durch das literarische Werk, die Sofortbildphotographie, die Momente einfriert und für die Ewigkeit festhält, während die Wirklichkeit weiterzieht. So wie sich offene Wunden über die Zeit in ewig sichtbare Narben verwandeln, so hebt Chaves mittels des literarischen Schreibens erinnerte Momente aus ihrer zeitlichen Verankerung. Dass hierdurch jedoch stets unweigerlich eine Verzerrung des eigentlichen Augenblicks einhergeht, thematisiert Chaves, indem er den Protagonisten seines Gedichtbands Asfalto. Un road poem (2006) eine alte Photographie von ihm und seiner Frau aus dem Geldbeutel ziehen lässt und bemerkt, dass ihr Blick, der hier für immer verewigt ist, nicht auf ihn selbst gerichtet ist, sondern auf den Unbekannten, der das Bild geschossen hat: „La foto en la que para siempre ella mirará, no a él, que la abraza, sino al desconocido que la tomó.“ (Das Foto, auf dem sie auf ewig nicht ihn, der sie umarmt, anblickt, sondern den Unbekannten, der es schoss.) In diesem Zitat wird deutlich, dass Chaves‘ Schreiben der ständige Versuch ist, sich dem ‚Dahinter‘ zu nähern: dem, was hinter der Oberfläche wirkt, aber kaum sichtbar und dennoch auf eine diffuse Art ‚anwesend‘ ist, worauf der Schriftsteller auch mittels des Titels eines seiner Gedichtbände Debajo de esto hay algo mejor (deutsch: Hier drunter liegt was Besseres) anspielt. 

Carlos Fonsecas literarisches Spiel zwischen Erfahrung und Information

Ebenfalls zu den wichtigsten Stimmen der jüngeren Gegenwartsliteratur Costas Ricas gehört der erst 28-jährige Carlos Fonseca – ein Schüler des argentinischen Schriftstellers Ricardo Piglia –, der mit Coronel lágrimas einen sehr gelungenen Debütroman hingelegt hat. In San José geboren, in Puerto Rico aufgewachsen, hat Fonseca heute einen Doktortitel in lateinamerikanischer Literatur (Princeton) inne und lebt derzeit in London. Er mitbegründete die Zeitschrift für Literaturkritik EL Roommate und wirkte an Literaturzeitschriften wie Bazar Americano, Buensalvaje (für die auch Guillermo Barquero schreibt) und Otra Parte (für die ebenfalls der argentinische Autor Alan Pauls Texte verfasst) mit. Im Februar 2015 wurde nun sein erster Roman Coronel lágrimas veröffentlicht, den Jesús Ferrer als einen substantiellen Beitrag zum Prozess der Modernisierung der lateinamerikanischen Prosa bezeichnete. In diesem intelligenten, fragmentarischen und spielerischen Romandebüt wird auf der Oberfläche lediglich ein einziger Tag eines abgeschottet lebenden älteren Mannes geschildert, bei dem der voyeuristische Erzähler ihn beobachtet. Gleichzeitig wird aber auch die Weltgeschichte vor den Augen des Lesers abgerollt, da der Alte versucht, sein eigenes Leben in Relation zu den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts aufzuschreiben. Dem peruanischen Schriftsteller Jack Martínez Arias erzählte Fonseca, dass er glaube, dass sein Roman aufzuzeigen versuche, dass ein Übergang zwischen purer Information und Erfahrung heutzutage kaum noch möglich sei. Der Protagonist bemühe sich trotzdem diese beiden Strukturen zusammenzubringen. Jack Martínez zufolge ist die Lektüre von Coronel lágrimas vergleichbar mit der Dynamik die sich im Internet entfaltet, wo der Rezipient von einer Information zur nächsten übergeht, ohne genau zu wissen, wo er ankommen wird. Beim literarischen Schreiben kann die Trennung zwischen purer Dateninformation und Erfahrung jedoch aufgebrochen werden, so der Autor. Damit schreibt sich Fonseca in eine Tendenz der Gegenwartsliteratur ein, der es an der Sezierung des uns umgebenden Alltags gelegen ist, und die mittels der Literatur eine Archäologie dessen vornehmen möchte, was uns tagtäglich umgibt, und was dennoch kaum greifbar ist – das Digitiale, die Medien, das Netz. 

Guillermo Barqueros melancholisches Erzählen von der Einsamkeit, der Obsession und der Krankheit

Der 1979 in San José geborene Guillermo Barquero ist nicht nur einer der Schriftsteller Costa Ricas, die intelligente Literatur von hohem literarischen Wert schreiben, sondern gründete auch zusammen mit Juan Murillo den renommierten Verlag Lanzallamas – der unter anderen Luis Chaves publiziert – und veröffentlicht auf seinem Blog Sentencias Inútiles eigene literarische Texte, wie seine Maniquíes, und Literaturkritiken. 2005 wurde von ihm der Erzählband La corona de espinas herausgebracht, 2010 Metales pesados, 2009 der Roman El diluvio universal, Esqueleto de oruga im Jahr 2010, Muestrario de familias ejemplares (2013) und Combustión humana espontánea (2015). Zwei immer wiederkehrende Themen durchkreuzen sein Werk: die Krankheiten – die Tumore, der Verfall des Körpers – und die Traurigkeit; beides Themen, die auch die Literatur des argentinischen Schriftstellers Alan Pauls bestimmen. Insbesondere wenn man Esqueleto de oruga mit Wasabi (2006) des Argentiniers vergleicht, entdeckt man einige Übereinstimmungen: Beiden Protagonisten wächst eine Zyste auf der Körperrückseite, die einmal zum sexuellen Genuss einer Prostituierten führt, das andere Mal beinahe zur Taubheit während des Koitus mit einer Hure. Barquero rezensierte Wasabi auf seinem Blog, kannte also den Text von Pauls; kein Wunder, scheinen sich doch beide Autoren für ähnliche Themen zu interessieren und auch ein trauriger Tonfall schwingt bei beiden Autoren beständig mit. Mit Esquelo de oruga hat Barquero jedenfalls einen sehr gelungener Roman geschrieben, der von der Obsession eines einsamen Mannes für die perfekt lackierten Fingernägel einer Frau namens Rocío erzählt, die in Höchstgeschwindigkeit Texte transkribiert, aber jenseits ihrer perfekten Fingerübungen sich als Prostituierte infiziert hat. Gekonnt zeigt Barquero in diesem kurzen, aber sehr dichten Roman, wie zerstörerisch blinde Obsession sein kann, da diese die Schattenseiten negiert, um die Schönheit in ihrer Ausschließlichkeit erleben zu können. 

Carla Pravisanis beunruhigte Figuren

„Me da muchas ganas de escribir poesía. / Esa desnudez de palabras / con su intimidad tan expuesta / me desboca. Voy urgente a buscar / papel, cartón corrugado, servilleta lo que sea. / Y escribo con el cuerpo, con las manos, con los codos / Con la urgencia de las uñas que desgarran / Cualquier cosa. Escribo en un estado de desesperación“ (Ich habe große Lust Poesie zu schreiben / Diese Nacktheit an Wörtern / mit ihrer so öffentlich ausgestellten Intimität / macht mich rasend. Eilend mache ich mich auf die Suche / Papier, geriffelter Karton, Serviette, was auch immer. / Und ich schreibe mit dem Körper / mit den Händen, mit den Ellenbogen / Mit der Dringlichkeit zerreißender Nägel / Irgendeine Sache. Ich schreibe in einem Zustand der Verzweiflung). Während die Erzählungen von Carla Pravisani nach außen schauen, kehrt sich ihre Poesie dem Inneren – der Nacktheit der Wörter und der ausgestellten Intimität, wie es in dem oben zitierten Gedicht heißt – zu, so die 1976 in Argentinien geborene, aber seit 2002 in Costa Rica lebende Schriftstellerin über ihre eigene Literatur. Ähnlich wie Luis Chaves interessiert sich Pravisani für die Oberfläche – für das alltägliche Leben in all seiner Widersprüchlichkeit –, ist sich aber stets bewusst, dass hinter diesen Begebenheiten eine weitere Innerlichkeit existiert, die nur vom Subjekt selbst ausgedrückt werden kann – beispielsweise durch das Verfassen von Poesie.

Im Jahr 2004 wurde ihr Text Y el último apagó la luz veröffentlicht, 2010 ihr Gedichtband Apocalipsis, 2012 der Erzählband La piel no miente, einige ihrer Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht, sie schrieb für mehrere Zeitschriften, Soho (Costa Rica) und Quimera (Spanien), und Zeitungen: Territorio, Página 12 (Argentinien) und Seminario Universidad (Costa Rica). Außerdem ist sie zusammen mit Warren Ulloa Argüello Herausgeberin der digitalen Zeitschrift Literofilia. In La piel no miente wird das Leben deutscher Einwanderer in Lateinamerika zum literarischen Thema, wenn die Autorin in der Erzählung Dientes von einer Lateinamerikanerin erzählt, die auf der Suche nach einem Mann an einen Deutschen ohne Zähne gerät, den sie erst ihren Eltern vorstellen kann, nachdem sie ihm ein teures Gebiss gekauft hat: „Pero, si lo llevaba a Puerto Dorado, debía comprarle una dentadura postiza. No podía presentarle a su padre un desdentado.” (Aber wenn ich ihn mit nach Puerto Dorado nehmen wollte, musste ich ihm eine Zahnprothese kaufen. Ich konnte meinem Vater keinen Zahnlosen vorstellen.) Mit einer sehr präzisen Sprache und einem geschliffenen Stil zeichnet die Autorin – die durch ihre Migration von Argentinien nach Costa Rica stark in ihrer literarischen Themenwahl beeinflusst wurde – stereotype Bilder, um diese später als Konstrukte, die sich wie ein Tuch über das Eigentliche legen, zu dekonstruieren. 

Warren Ulloa Argüello bricht mit dem Bild eines idyllischen Costa Ricas

Auch dieser costaricanische Autor, den der Übersetzer Lutz Kliche als den Salinger-Tico bezeichnet, zeichnet sich – ähnlich wie Carla Pravisani und Luis Chaves – durch das Bestreben aus, Überflüssiges aus den literarischen Texten zu verbannen und eine reduzierte Prosa und Dramatisierung zu kreieren. So charakterisiert er selbst seinen literarischen Stil als punktuell, da er vor lyrischen Schleifen fliehe. Und es stimmt: Seine Sprache ist eine direkte und expressive, die sich nicht in poetischen Metaphern verliert. „Creo en una prosa depurada y que aporte a la historia misma. La realidad es más fascinante que cualquier fantasía. Me gustan los temas sociales, políticos tocados con sarcasmo e ironía” (Ich glaube an eine bereinigte Prosa, die zur Geschichte selbst gelangt. Die Realität ist faszinierender als jegliche Phantasie. Mir gefallen die sozialen, die politischen Themen, berührt mit Sarkasmus und Ironie), erzählt der Schriftsteller der guatemaltesken Autorin Vanessa Nuñez Handal.

Bisher hat Warren Ulloa drei Bücher im Uruk-Verlag veröffentlicht: Finales aparentes (2008), Bajo la lluvia Dios no existe (2011) und Elefantes de grafito (2015). Inspiriert wird der Autor von der Doppelmoral seines Landes Costa Rica, dessen Selbstbild von einer Schweiz Zentralamerikas immer mehr zu bröckeln scheint. Unter der Oberfläche aus Biodiversität und dem dazugehörigen Ökotourismus zeichnen sich die Probleme des Landes immer mehr ab. So dominiere nach Warren Ulloa eine passive Aggressivität den durchschnittlichen Costaricaner, da hinter der Fassade von Religion und heiler Familienwelt Themen wie Prostitution, Geldwäsche, Drogenhandel und Raubüberfälle ans Tageslicht treten. In seinem neuesten Roman Elefantes de grafito, in dem sich das Genre des Polizeiromans mit der ,novela negra´ (dem sozial und politisch engagierte Kriminalroman) vermischt, werden die versteckten Machenschaffen des Polizei- und Gerichtssystems offengelegt, wenn es darum geht, einen Mord eines bekannten amerikanischen Diplomaten aufzudecken und gleichzeitig zu verbergen. Costa Rica erscheint hier nicht mehr als idyllisches Touristenziel, sondern als Land, das von Prostitution, Korruption und Drogengeschäften gekennzeichnet ist.

Nach Warren Ulloa handelt es sich bei seinem neuen Roman um einen Text, der die Relevanz Costa Ricas als geopolitisches internationales Bindeglied unterstreicht: „Es una fotografía gigante de la realidad nacional y regional“ (Es ist eine gigantische Photographie der nationalen und regionalen Realität). Auch wenn das Costa Rica des 21. Jahrhunderts, das der Autor in seinen Romanen darstellt, von vielen Costaricanern negiert wird, da man nicht Méxiko oder Kolumbien sein möchte, sondern gerne weiterhin die Imagination einer zentralamerikanischen Schweiz aufrechterhalten will, ist der Roman Elefantes de grafito in jedem Fall eine gut erzählte Geschichte, die trotz ihrer Längen aufgrund der sprachlichen Punktiertheit und der guten Entwicklung des Dramas den Leser mit in ein Costa Rica nimmt, dessen soziale Strukturen von Drogenhandel und dem Leben, das sich in der Nacht in den Straßen San Josés abspielt, geprägt sind. 

Laura Fuentes´ antierotische Literatur als Bruch mit einem Costa Rica, dessen Mütter noch immer von der Unbeflecktheit ihrer Töchter träumen

Die in Costa Rica 1978 geborene Schriftstellerin veröffentlichte bisher Lyrik, Erzählungen und Essays in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften in Costa Rica, Méxiko, Guatemala und Frankreich. In Buchform hat sie bisher ein Lyrikband veröffentlicht, Penumbra de la paloma (1999), und zwei Erzählbände: Cementerio de cucharachas (2006) und Antierótica Feroz (2013). Laura Fuentes bricht mit dem Konzept der romantischen Liebe und schreibt erotische Poesie; reibt sich also an veralteten Denkschemata, geht neue Wege des Schreibens und Erzählens und spricht – für costaricanische Verhältnisse – sehr ungewöhnlich offen über sensible Themen wie Pädophilie, häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Sadomasochismus und Inzest. Mit den Tabus, die insbesondere die costaricanischen Mütter und Väter um die Sexualität ihrer Kinder gelegt haben, bricht die Autorin mutig und auch die Grenzen der Erzählung reizt sie immer wieder aufs Neue aus. Ihre Geschichten lassen sich sowohl als Parodie der erotischen Literatur generell, aber auch als ein Aufzeigen der lächerlichen und absurden Alltagsbegebenheiten – die jedes Leben durchkreuzen, von denen man jedoch eigentlich nicht berichtet – lesen. In ihren Texten lenkt die Autorin demnach den Blick auf das, was der Öffentlichkeit normalerweise verborgen bleibt, und spielt somit ebenso wie die bisher erwähnten AutorInnen mit der Dialektik zwischen Oberflächenstruktur und dem, das sich nicht in diese Struktur einordnen lässt. 

Karla Sterloff und die Poetik des Alltäglichen

So wie Laura Fuentes und Luis Chaves, so interessiert sich auch die 1975 geborene Karla Sterloff für das Alltägliche, da sich, so die Autorin selbst, in den Begebenheiten, in denen sich gewöhnliche Menschen Tag für Tag befinden, meist die kuriosesten Dinge ereignen. Die Autorin hat bisher zwei Gedichtsbände veröffentlicht – Especies menores (2011) und La respiración de las cosas (2013) – und der Uruk-Verlag hat nun ihre erste Erzählsammlung publiziert: La mordiente (2014), in der die Autorin den städtischen Raum Costa Ricas des 21. Jahrhunderts zeichnet. Meist sind Frauen die Protagonistinnen dieser Erzählungen, das sich dann auch in typisch weiblichen Themen – wie der Geburt, der weiblichen Sexualität oder der Mutterschaft – widerspiegelt. Nach Sterloff selbst zieht sich eines durch ihr bisheriges Werk: das Leben – das keineswegs nur in die Zukunft gerichtet, sondern zu großen Teilen auch rückläufig ist –, das sich vorwiegend als ständiger Verlust präsentiert. Óscar Castillo Rojas vom Uruk-Verlag sieht sowohl in Carla Pravisani als auch in Karla Sterloff zwei Autorinnen von hoher literarischer Qualität, deren weitere literarische Schritte es zu verfolgen lohne. 

Carlos Cortés und das costaricanische Schweigen über die dunklen Familiengeheimnisse

Der 1962 geborene Carlos Cortés ist nicht nur für sein literarisches, sondern auch völlig zu Recht für sein essayistisches Werk bekannt. Die rund zwanzig Texte in Buchform wurden bisher nicht nur in Zentralamerika, sondern auch in Méxiko, Spanien, Frankreich und der Schweiz veröffentlicht. Unter diesen finden sich Cruz de olvido (1999), Tanda de cuatro con Laura (2002), La invención de Costa Rica (2004), La gran novela perdida. Historia personal de la narrativa costarrisible (2007) – in der Cortés zahlreiche Genres miteinander vereint –, Larga noche hacia mi madre (2013), La tradición del presente. El fin de la literatura universal y la narrativa latinoamericana (2015) und Mojiganga (2015). Ein Thema zieht sich wie ein beständiges Murmeln durch seine literarischen Texte: die metaphysische Obdachlosigkeit, die sich in Larga noche hacía mi madre konkretisiert, wenn ein Sohn seine Mutter hasst, weil sie das schwarze Loch, das die Ermordung des Vater vor der eigenen Geburt hinterlassen hat, symbolisiert: „Yo la odiaba y no sé si aún la odio. Odiaba odiarla y odiaba saber que la odiaba. En algún lugar entre su locura y la mía odiarla me hizo bien, me fortaleció, me salvó de algo peor“ (Ich habe sie gehasst und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie nicht immer noch hasse. Ich hasste es sie zu hassen und ich hasste zu wissen, dass ich sie hasste. An irgendeinem Ort zwischen ihrem Wahnsinn und dem meinigen, tat es mir gut sie zu hassen, es stärkte mich, rettete mich vor etwas Schlimmerem). Das Thema der metaphysischen Obdachlosigkeit zieht sich aber auch durch seine essayistische Texte, wenn man diese als Suche nach und Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln charakterisiert. Denn in La gran novela perdida und La tradición del presente wendet sich Cortés der Vergangenheit beziehungsweise der  Tradition der  costaricanischen/lateinamerikanischen Literatur zu, um hiervon ausgehend die Brüche und Kontinuitäten der zeitgenössischen Literatur beschreiben zu können: „La invención del pasado es lo que llamamos tradición. En este momento hay muchas posibilidades de volver a leerla.“ (Die Erfindung der Vergangenheit ist das, was wir Tradition nennen. Zur Zeit gibt es viele Möglichkeiten zu ihrer Lektüre zurückzukehren.)

Das politische Drama Cruz del olvido, das wie eine ,novela negra´ erzählt wird, bricht mit dem Bild Costa Ricas als Schweiz Zentralamerikas. Der peruanische Literaturkritiker Julio Ortega schrieb über diesen Roman, dass es sich bei diesem um eine Version der Desintegration der revolutionären Illusionen in Zentralamerika handele, um eine lebhaft erzählte Geschichte der profunden Irrationalität, die unsere Zeit bestimmte – zwischen Rhetorik und Korruption, zwischen Macht und moralischem Suizid.

Wenn sich die Dialektik zwischen Oberfläche und Tiefe wie ein immer wiederkehrendes Verdrängtes in zahlreichen literarischen Texten feststellen lässt, so liegt dies wahrscheinlich darin begründet, dass noch bis heute in Costa Rica der Oberfläche als solcher ein großer Wert zugesprochen wird. In La piel no miente von Carla Pravisani kann eine Frau ihren neuen Freund ihren Eltern erst vorstellen, wenn sein Gebiss tadellos ist. Mindestens ebenso schwer fällt es den auf ihr Land so stolzen Ticos, sich einzugestehen, dass hinter der Oberfläche aus Biodiversität, die zahlreiche Touristen anlocken soll, auch noch ein anderes Costa Rica existiert: ein Costa Rica, das zwar zahlreiche Kubaner bereitwillig aufnimmt, aber den aus dem Nachbarland Nicaragua Immigrierten weitgehend skeptisch gegenübersteht und die zunehmende Kriminalität nicht länger leugnen kann. Carlos Cortés widmet sich in seinem Essay La invención de Costa Rica eben jener Fragestellung, wenn er über die Symbole und Mythen des Landes schreibt, welche die Identitätsstiftung Costa Ricas maßgeblich bestimmten: die Utopie einer Natur, die jenseits von Klimawandel und Waldrodung bestehen bleibe, eine Demokratie, die nicht der Korruption verfällt und eine ewige Gegenwart, die in einem autarken Raum – jenseits historischer Konflikte – existiert. Diese Erfindung Costa Ricas greift jedoch immer weniger, da Wirklichkeit und Utopie sich zu weit voneinander distanziert haben. Kein Wunder also, wenn die jungen AutorInnen des Landes sich als ,huérfanos del absoluto´, als vollständige Waisen, begreifen, die – wie Warren Ulloa Argüello – zunächst die Erfindung Costa Ricas als Erfindung demaskieren müssen, um für eine Weile schutzlos wie der Protagonist in Larga noche hacía mi madre in einer metaphysischen Obdachlosigkeit zu leben, um danach einen Sinn in einem Costa Rica zu suchen, dessen Symbole Hüllen geworden sind, die ein leeres Zentrum umschließen, wodurch die Identität der Nation ins Wanken geraten ist.

Auch wenn die Distribution costaricanischer Literatur noch immer nur marginal über die eigenen territorialen Grenzen hinausreicht – Ausnahmen sind Luis Chaves und Carlos Cortés  –, so liegt dies keineswegs an dem Mangel an guter Literatur, sondern wohl eher an dem Umstand, dass Costa Rica generell in Deutschland kaum wahrgenommen wird – sieht man einmal von den Chiquita-Aufklebern oder den Schildchen im Supermarkt, welche die Herkunft der Papaya, Mangos und Melonen verraten, ab.

Die zeitgenössische Literatur des Landes ist gekennzeichnet durch eine große Diversität an Formen und Erzählstrategien, die von der ,nueva novela centroamericana´, über das ,cuento´und ,mini-cuento´, ,nueva novela histórica´, der ,novela negra´, dem städtischen Roman, dem Trivialroman und zahlreichen anderen Erzählformen reichen. Zunehmend werden Themen der Wurzellosigkeit beziehungsweise Entwurzelung literarisch ausgestaltet, was auch in einer Dezentralisierung – der Schwächung des Nationalen durch transnationale und transkulturelle Bewegungen – begründet liegt. Gleichzeitig entsteht eine Tendenz zur Dekonstruktion der literarischen Gattungen und eine Rückbesinnung auf traditionelle Formen, um das – wie Carlos Cortés in La tradición del presente bemerkt – Gefühl der metaphysischen Obdachlosigkeit zu überwinden. Außerdem sei, so Cortés, die aktuelle Literatur Zentralamerikas nicht aus Stilen gearbeitet, sondern aus verschiedenen Genres, von der sich der jeweilige Schriftsteller los-,  oder in die er sich einschreibt. Durch das innovative Spiel mit den verschiedenen Gattungen entsteht, so die Romanistin Alexandra Ortiz Wallner, eine Hybridisierung der literarischen Gattungen. Die jüngeren Autoren legen sich nicht mehr auf ein einziges Genre und eine einzige literarische Tätigkeit fest, sondern sind Lyriker, Essayisten, Romanciers, Herausgeber von Literaturzeitschriften, schreiben Literaturkritiken, in denen sie sich wechselseitig aufeinander beziehen, verfassen prosaische Lyrik (Luis Chaves) und scheinen sich stets neu zu erfinden. Vielleicht begründet sich hierauf auch die Leichtigkeit, die Carlos Fonseca bei den zentralamerikanischen Literaturen feststellt.

In jedem Fall lohnt es sich die Bewegungen auf der costaricanischen Literaturlandschaft weiterzuverfolgen, so schwierig das Unterfangen aus dem entfernten Europa auch sein mag. Spätestens nach der Lektüre von Esqueleto de oruga, Coronel lágrimas, Tradición de presente, 300 páginas (prosas), Elefantes de grafito, Larga noche hacía mi madre oder Invención de Costa Rica dürfte das Interesse an literarischen und essayistischen Texten aus Costa Rica in jedem Fall geweckt sein! 

 

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz