Emanzipation, Brutalität und Glück im spanischen Bürgerkrieg

Lydie Salvayres preisgekrönter Roman reflektiert die Geschichte ihrer Mutter

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn in einer Familie bedeutsame historische Entwicklungen auf empfindsame Charaktere treffen, dann hat der Familienroman sein großes Thema gefunden. Lydie Salvayre gelang mit einer solchen Geschichte, die Interviewaussagen zufolge weitgehend die Lebensgeschichte ihrer Mutter ist, der Coup, von dem wohl jeder französischsprachige Romancier träumt. Sie gewann im Herbst 2014 den Prix Goncourt für ihren Roman Pas pleurer, der nun von Hanna van Laak recht gelungen ins Deutsche übertragen wurde.

Dass die Übersetzung keine leichte Aufgabe war und auch kaum zu 100 Prozent gelingen konnte, liegt vor allem daran, dass der Roman der französischen Autorin in vielen Passagen auf den Berichten ihrer Mutter beruht. Und die war eine (in Katalonien geborene) Spanierin, die als ganz junge Frau mit ihrer ersten Tochter und ihrem ungeliebten Ehemann aus dem franquistischen Spanien nach Frankreich floh. Als Bauerntochter sprach sie zeitlebens ein stark von Hispanismen durchsetztes Französisch (das sogenannte Fragnol), das im Roman Salvayres wiedergegeben wird und als eine Art Pidgin eben nur über Umwege in einer anderen Sprache neu erfunden werden kann. Am Ende dieses von seinem Geschichts- und Familien-Plot her süffig lesbaren Romans findet sich sinnvollerweise auch ein vierseitiges Glossar mit Bedeutungserklärungen jener spanischen Wendungen, die als Zeichen sprachlicher Differenz auch in der deutschen Version beibehalten wurden.

Schon hinsichtlich seiner sprachlichen Verfasstheit ist Weine nicht also ein multilingualer und polyperspektivischer Roman; umso mehr, als neben den Erinnerungen der hinfällig gewordenen alten Mutter an ihre jugendliche Emanzipation und ihre glücklichsten Momente im Spanien der Bürgerkriegszeit auch viele gedrechselte Sätze des erzkatholischen französischen Autors Georges Bernanos in diese Erinnerungen an ein Leben im Schatten von Revolution und Bürgerkrieg einflossen. Bernanos war bezüglich seiner politischen Position ein natürlicher Parteigänger von Francos Falangisten, denen sich auch sein Sohn anschloss. Doch durch die Beobachtung skrupelloser Massaker an Verdächtigen und Sympathisanten der Linken, die Bernanosʼ Sohn bei den Truppen und der Autor selbst während seines langen Aufenthalts auf Mallorca machten, wandelte sich der Schriftsteller zum Kritiker des Franquismus und der mit diesem weithin paktierenden katholischen Kirche Spaniens. Er reagierte mit seiner aufsehenerregenden Schrift Die großen Friedhöfe unter dem Mond. Franco setzte daraufhin ein Kopfgeld auf ihn aus. Bernanos überlebte zwei Anschlagsversuche. Sein Text ist ein bedeutendes Zeugnis literarischer Zeugenschaft und engagierten Einspruchs in geschichtliche Prozesse.

Lydie Salvayre wurde von diesem kanonischen Text über die Gräuel des Bürgerkriegs zu ihrem Roman angeregt. Sie montiert Bernanos-Passagen mit den mündlichen Erzählungen ihrer Mutter, die im hohen Alter fast alle Episoden und Weggefährten ihres Lebens vergessen hat, nicht aber ihr lebensentscheidendes Jahr der Revolution. 1936 folgte sie als Teenager ihrem bei den Anarchisten kämpfenden Bruder nach Barcelona, lernte den französischen Brigadisten André kennen und zeugte mit dem später Verschollenen ihr erstes Kind.

Salvayre, die als Psychiaterin arbeitete, war schon vor diesem biografisch dem Leben ihrer Mutter folgenden Roman als Autorin von etwa 20 Büchern hervorgetreten. Doch fehlte ihr, obwohl sie durchaus wahrgenommen und in viele Sprachen übersetzt wurde, bis dato die ganz große Aufmerksamkeit. Mit dem Prix Goncourt, dem Kernstück des alljährlichen herbstlichen Preisspektakels im französischen Literarturbetrieb, war ihr diese nun sicher. Auch wenn die Preisvergabe sowohl juryintern als auch bei den Kritikern recht umstritten war. Die im linken politischen Spektrum einzuordnende Zeitung „Liberation“ hätte lieber den Favoriten Kamel Daoud mit seiner postkolonialen Antwort auf Camusʼ Der Fremde (Der Fall Meursault. Eine Gegendarstellung) ausgezeichnet gesehen. Ein Kritiker des rechten Figaro hingegen warf Salvayres unverhohlener anti-franquistischer Parteinahme vor, die Vorgeschichte des Bürgerkriegs und des Franco-Regimes sowie die Gewalttaten der Linken zu unterschlagen. Wobei dieser Kritiker offenbar übersah, dass Salvayre sehr wohl auch Gräuel der Revolutionäre thematisiert, die viele katholische Priester ermordeten. Auch zeigt sie, wie zwischen verschiedenen anarchistischen Gruppen und den weithin aus der Sowjetunion gesteuerten Kommunisten und internationalen Brigaden bald grausame Grabenkämpfe ausbrachen. Immerhin fällt in ihrer Familiengeschichte José, der geliebte Bruder der Mutter, einem solchen unübersichtlichen Gemetzel zum Opfer; bereits zuvor schon war er melancholisch geworden wegen der Grausamkeiten seiner Mitkämpfer.

José ist es, der sich in dieser einfachen Familie bei seinem alljährlichen Ernteeinsatz auf den Feldern eines Großgrundbesitzers weit weg vom rückständigen Heimatdorf für die anarchistisch egalitären Ideen der dort aktiven Kommunarden begeistert. Wieder zu Hause gerät er nicht nur mit dem so armen wie autoritären Vater, einem konservativen Kleinstgrundbesitzer, in Generationskonflikte. Er begeistert auch seine Schwester, Montsé, die Mutter der Erzählerin, für die revolutionären Ideen und weckt in ihr Träume von einer besseren, vor allem gerechteren Zukunft. Sie geht mit ihm 1936 ins anarchistisch dominierte Barcelona und lernt dort ungeahnte Möglichkeiten der Freiheit kennen. Da sie keinen Mann und Vater für ihr im Liebes- und Freiheitsrausch gezeugtes Kind vorweisen kann, lässt sich die kaum 16-jährige junge Mutter von ihren Eltern zur Heirat mit dem schwierigen Diego drängen.

Diego ist das uneheliche Kind des lokalen Großgrundbesitzers, doch distanziert er sich von dieser Familie und wird als junger Mann Anführer der örtlichen Kommunisten. Schon als Kind konkurrierte Diego mit dem allseits beliebten José und wurde nun in den gezählten Tagen der linken Republik zu seinem mächtigen Gegenspieler. Montsés Bruder ist von der Heirat seiner Schwester mit dem als reichem Sohn des Dorfkrösus sowie als Kommunistenfunktionär doppelt verhassten Altersgenossen zutiefst getroffen. Tödlich verwundet wird er dann bei einer unübersichtlichen Schießerei zwischen Anarchisten, Kommunisten und Franquisten. Nach der Niederlage der republikanischen Truppen flieht Montsé nach Frankreich, wohin ihr Mann Diego ihr folgen wird. Im südfranzösischen Exil kommt dann auch die gemeinsame Tochter zur Welt, die diese Familiengeschichte, in der sich die diversen Positionen der spanischen Rechten wie Linken fast vollständig in Familienmitgliedern verkörpert finden, nun zu einem historischen Roman formte.

Erstaunlicherweise entwickelte sich zwischen der jungen Bauerstochter und ihrem reichen und gebildeten Schwiegervater, der sie einst bei einem Einstellungsgespräch mit einer Bemerkung über Unterordnung und Dienstbarkeit zutiefst verletzt hatte, eine große Zuneigung und Freundschaft. Die Beschreibung dieser Beziehung zwischen den von ihrer sozialen Herkunft her gänzlich Fremden, die sich als Seelenverwandte in einer steifen Umgebung finden, respektieren und schätzen, gehört in diesem insgesamt stark auf Rührung setzenden Roman zu den stärksten Episoden. So offenbart der Schwiegervater ihr auch die im Dorf stets rätselhafte, geheim gehaltene Abkunft Diegos, seinem leiblichen Sohn, den er während des Studiums mit seiner bald der schizophrenen Paranoia anheimfallenden Jugendliebe zeugte.

Diego, der Vater der Erzählerin, wird später ebenfalls paranoide Verhaltensstörungen aufweisen. Der Verfolgungswahn, der hier eher angedeutet als breit auserzählt wird, lässt sich demnach sowohl auf die traumatischen Erfahrungen während des Bürgerkriegs als auch auf Diegos genetisches Erbe beziehen. In einem Interview bekannte Lydie Salvayre, sie sei aufgrund dieser familiären Krankengeschichten Psychiaterin geworden, nachdem sie zuvor schon ein Literaturstudium absolviert hatte. Die lebenslange Prägung und Last vergangenen Erlebens und weiterwirkenden Erinnerns schilderte die Autorin auch schon in ihrem frühen Roman La compagnie des spectres (Das Gewicht der Erinnerung, 1999).

Durch die doppelte Perspektivierung des Bürgerkriegsgeschehens, das durch Bernanosʼ Text und durch die Erlebniserzählungen ihrer Mutter vermittelt wird, gelingt Salvayre ein anschaulicher und in vielen Szenen auch ergreifender Roman über ein für die Geschichte Spaniens (und der europäischen Linken) zentrales Jahr und seine Nachwirkungen in einem Leben im Exil. An manchen Stellen wirkt die – wohl an der einfachen Sprache und parteiischen Weltsicht ihrer Mutter orientierte – Erzählweise etwas überdidaktisch, so etwa, wenn auf sechs Seiten als eine ‚Kleine Lektion in nationaler Säuberung‘ die brutale Ausrottung der Gegenpartei beschrieben und (nicht besonders überzeugend) psychologisch hergeleitet wird. Holzschnittartig, allzu kalt und böse oder allzu selig und begeistert, wirken gelegentlich auch die stereotypen Charakterisierungen der Figuren. Wobei die Autorin darauf insistierte, dass diese zur schwarz-weiß Darstellung tendierende Optik in der manichäischen Kampfsituation eines Bürgerkriegs und mithin im Erleben ihrer Mutter ihren Grund habe.

Das Schicksal der Hauptfigur Montsé lebt in der Erzählung der Tochter nun als lesenswerter Roman eines geschichtsgetränkten Frauenlebens im 20. Jahrhundert fort.

Titelbild

Lydie Salvayre: Weine nicht. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hanna van Laak.
Blessing Verlag, München 2016.
252 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783896675644

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