Erdrückend wichtig

Zu Nike Thurns Untersuchung „‚Falsche Juden‘. Performative Identitäten in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser“

Von Peter HöyngRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Höyng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nike Thurns Studie mit dem Titel „‚Falsche Juden‘. Performative Identitäten in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser“ hat es in sich: Sie ist theoretisch versiert und besticht sowohl in konzeptioneller als auch in analytischer Hinsicht. Gleichzeitig ist die Arbeit erstaunlich, ja fast schon erdrückend ausführlich und umfangreich. Denn die im August 2015 abgeschlossene Buchfassung einer 2013 an der Universität Trier vorgelegten Dissertation umfasst nicht weniger als zehn Kapitel auf 573 Seiten, von denen allein die Bibliografie über 30 Seiten zählt. Bevor die Autorin mit Lessings Nathan der Weise als der ersten literarischen Analyse beginnt, hat sie auf gut 140 Seiten eine Einleitung und theoretische Ausführungen vorgelegt, in denen sowohl der Anti- als auch der Philosemitismus als Teilaspekte eines übergreifenden Allosemtismus entwickelt sowie das Konzept des „Passings, des Übertretens von Grenzen als ‚jemand anderes’“ auf- und abgearbeitet werden.

Dabei leitet die Autorin launig in ihr spannendes Thema ein, indem sie sich auf jüngste Vorfälle bezieht, bei denen Nicht-Juden sich als ebensolche ausgegeben haben, um dann die fiktionale Aneignung der Welt durch AutorInnen beginnen zu lassen; themengemäß mit Binjamin Wilkomirskis fälschlicher Holocaust-Autobiographie Bruchstücke (1995). Letztere dient vor allem dazu, Sander L. Gilmans Analyse ebendieses literarischen Sonderfalls als theoretischen Ausgangspunkt zu wählen. Als Grundannahme gilt dabei, dass Identitäten insgesamt kulturell und sozial kodiert sind beziehungsweise dem/der Einzelnen aufoktroyiert werden, mithin sich als stark kontextbedingt und daher interpretationsabhängig erweisen. Dieses generelle Phänomen gewinnt an Komplexität, wenn es speziell anhand der Figur des ‚falschen Juden‘ in der deutschsprachigen Literatur vorgeführt wird und man dabei unterscheiden kann zwischen „solchen, die als ‚Jude‘ wahrgenommen werden, solchen, die als Jude ausgegeben werden und solchen, die eine Identität als Jude fingieren.“ Die ausgehandelten Zuweisungen zwischen denen, die als ‚Jude‘ wahrgenommen werden, und denen, die in der Position sind, diese Form der Wahrnehmungsdiskriminierung vornehmen zu können, spiegeln stets die ungleichen Machtpositionen zwischen den betroffenen Gruppen wider. Der Grad solcherart sozialer Vielschichtigkeiten wächst noch dadurch, dass der jeweilige Autor „diese Bilder festzurrt oder in der Schwebe lässt.“ Schließlich lernen wir in fiktionalen Figurenanordnungen etwas „über den Leser, der diese zu decodieren in der Lage ist oder zu sein meint.“ Und Thurn als Leserin hat nicht nur eine Meinung dazu, sondern ist tatsächlich in der Lage, diese Komplexitäten einsichtig zu decodieren.

Hat man die theoretisch gründliche Darlegung zu den Teilaspekten des Allosemistismus und Passings durchgelesen, erwartet die Leser eine ebenso kluge wie überraschend-kontrastierende Paarung der folgenden zehn literarischen Primärtexte, die jeweils gebündelt ein ausführliches Kapitel ergeben: 1. Lessings Nathan der Weise und Achim von Arnims Die Majorats-Herren, 2. Oskar Panizzas Der operirte Jud’ und Mynonas Der operierte Goj, 3. Max Frischs Andorra und Georg Kreislers Sodom und Andorra, 4. Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur und Irene Disches Eine Jüdin für Charles Allen sowie 5. Klaus Pohls Die schöne Fremde und Martin Walsers Kaschmir in Parching. Die Textgruppierungen sind durch zwei sozial-historische Zäsuren markiert: durch den Antijudaismus, der sich zum biologisierenden Allosemitismus des 19. Jahrhunderts entwickelte sowie durch den Holocaust. Doch jenseits dieser chronologisch-horizontalen Achse lesen sich die literarischen Kontrastpaarungen auch thematisch-vertikal, bei denen Thurn Dank ihres close readings stets die Texte überzeugend zu analysieren versteht und/oder sie ihrer ideologisch (meist) zweifelhaften Positionen zu überführen weiß.

Eine Rezension ist bekanntlich kein Referat, und so sei nur einer der intertextuellen Kontraste im Ergebnis deshalb kurz gestreift, um Thurns so sachlich wie auch kluge Interpretationsfähigkeiten pars pro toto zu bezeugen. Der persönlichen Vorliebe ist es zuzuschreiben, jene Paarung von Frischs Andorra (Uraufführung 1961) und Georg Kreislers Sodom und Andorra (Uraufführung 1963) hierzu herauszugreifen, da Georg Kreisler von LiteraturwissenschaftlerInnen allzu selten seiner sprachlich-intellektuellen Qualitäten gewürdigt wird. Doch jenseits dieser individuellen Präferenz soll dieses Beispiel vor allem als Paradigma für Thurns kluge Auswahl von Primärtexten gelten. Denn anstatt ihr Thema erschöpfend und historisch breit – sprich ermüdend – abzuhandeln, gelingt es Thurn allein durch die Kontrastierung, eine kritische Gegenlektüre zum Allosemitismus zu liefern. Dabei vernachlässigt die Autorin am Anfang des Kapitels keineswegs den historischen Kontext zu Frischs Andorra, indem sie auf Erich Maria Remarques Die letzte Station (Uraufführung 1956) und Rolf Hochhuths Der Stellvertreter (Uraufführung 1963), die ebenfalls das Motiv des ‚falschen Juden‘ beinhalten, ebenso verweist wie auf den Eichmann-Prozess (1961) und den darauffolgenden Auschwitz-Prozess (1963 bis 1965). Dass Thurn sich aber eben nicht im historischen oder auch literaturhistorischen Kontext verzettelt,  oder bequemerweise dem entsprechenden Literaturkanon folgt, sondern geradlinig zur Problematik des Motivs des ‚falschen Juden‘ Frischs meistgespieltes Drama mit Kreislers früher Kritik an ihm in Form einer Parodie paart, macht ihre Studie in der Konzeption und gedanklichen Schärfe faszinierend. Dass Frisch den Antisemitismus der Nachkriegszeit geißeln wollte, dabei aber „einen entscheidenden dramaturgischen Fehler“ mit der Folge eines „verkitschten Stückes“ (Kreisler) vornahm, wird von Thurn ausführlich erörtert. „Eine Darstellung dessen, wie Kreisler dies wiederum entlarvte – dabei den Kniff mit dem ‚falschen Juden‘ beibehielt, aber verkehrte – schließt hieran an.“ Bei aller scharfsinnigen Untersuchung von Frischs Drama und der sich anschließenden Metaanalyse via Kreislers Parodie, bleibt als einziger Wunsch, dass die Autorin ihre Interpretation in prägnanterer Form vorgelegt hätte; denn die Auflösung der Thematik, der die 66 folgenden Seiten gelten, wurde bereits zu Beginn des Kapitels geleistet. Die Redundanz überstrapaziert die Geduld der LeserInnen ein wenig.

Anders formuliert: Eine stark gekürzte Fassung dieser Studie wäre nicht nur ein Gewinn hinsichtlich des thematischen Fokus, sondern würde auch ein Mehr an LeserInnen garantieren. So aber bleibt zu befürchten, dass sie die wichtige und korrekt durchgeführte analytische Arbeit leider nur einer allzu kleinen Schar von LiteraturwissenschaftlerInnen vorbehalten bleibt, was jedoch mehr den zopfig-überkommenen akademischen Riten anzurechnen als der Autorin vorzuwerfen ist.

Titelbild

Nike Thurn: „Falsche Juden“. Performative Identitäten in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
574 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317550

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