Von „a priori“ bis „Zynismus“
Ein dreibändiges Lexikon widmet sich dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant
Von Martin Mann
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Nicht die Philosophie als Wissenschaft durch eigene Entdeckungen zu erweitern, sondern ihr Studium zu befördern; nicht neue Begriffe mitzutheilen, sondern vorhandene zu erläutern, ihre genaue Bestimmung mehr in Umlauf zu bringen und durch eine neue Zusammenstellung verwandter Begriffe das richtige Auffassen und den Gebrauch derselben zu erleichtern“ – so bestimmt Carl Christian Erhard Schmid das Ziel seines Kant-Lexikons, das 1786 das erste in einer Reihe von Nachschlagewerken zu Immanuel Kant werden sollte. Schmid, bekannt als einer der ersten Vermittler des Philosophen, zugleich ein Freund Johann Wolfgang von Goethes und Traupfarrer Friedrich Schillers, beschreibt hier jene Maßstäbe, die auch die nachfolgenden bedeutenden Kant-Lexika anlegen werden: Vom Einzelbegriff ausgehend jenes gedankliche Netzwerk zu erschließen, das im Zusammenspiel der einzelnen Termini entsteht.
Auch spätere Ausgaben von Schmids Lexikon erscheinen noch zu Kants Lebzeiten und decken daher nur einen Teil seines Werks ab. Dies geschieht monoperspektivisch, da es Schmid nicht um die Wiedergabe eines Diskurses geht, sondern um eine didaktisch-kohärente Aufbereitung des Begriffsgebäudes Kants. Er verzichtet auf die Abstrahierung des Dargestellten und eine Überführung in allgemeinere Begriffe, stattdessen bleibt er in Kategorien und Sprache Kants und erläutert die Lemmata vor allem durch Kollage zahlreicher Zitate aus dessen Primärschriften.
Kurz nach Schmid veröffentlichte Georg Samuel Albert Mellin um 1800 das ungemein umfangreiche Encyclopädische Wörterbuch der Kritischen Philosophie, worin er Kants Philosophie eher lehrbuchartig darstellt. Mellins Lexikon ist das Kant-Nachschlagewerk für das gesamte 19. Jahrhundert und wird erst durch das Kant-Lexikon Rudolf Eislers 1930 überholt. Dieses ist weniger umfangreich, verfolgt aber stärker das Ansinnen, die Bezüge der Begriffe zueinander systematisch herauszustellen und fungiert gleichzeitig als Wegweiser zu den jeweils einschlägigsten Stellen in Kants Werk, wobei er die unveröffentlichten Schriften, Briefe und Fragmente unberücksichtigt lässt. Es ist Eisler gelungen, ein bis heute gebrauchtes Nachschlagewerk für Lehrende und Studierende der Philosophie vorzulegen.
Nun, nach nahezu 100 Jahren, wurde ein Kant-Lexikon veröffentlicht, dem es gut zustünde, die Kant-Lexikographie erneut für ein Jahrhundert pausieren zu lassen. Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin legen drei Bände vor, in denen in 2395 Artikeln auf nahezu 3.000 Seiten das Werk Kants beleuchtet wird. Damit kommt ein wissenssystematisches Projekt zum Abschluss, das als Gemeinschaftswerk hunderter Autoren einen neuen Eckstein für die aktuelle philosophische Forschung setzt. Dies geschieht nicht allein durch den schier gewaltigen Umfang der besprochenen Begriffe und die Ausführlichkeit ihrer Darstellung, sondern auch durch den hohen Praxiswert für die in der Wissenschaft Tätigen: Die Verweise beziehen sich auf die Akademie-Ausgabe der Schriften Kants, also die in der Forschung üblicherweise verwendete Edition. Wilhelm Dilthey hatte um 1900 das Projekt dieser Gesamtausgabe mit dem Ziel begonnen, einen vollumfänglichen Zugang zum Werk des Philosophen auf der Basis aller verfügbaren Texte seiner Hand zu ermöglichen und so eine Grundlage für die Realisierung der von ihm beschriebenen hermeneutischen Methodik sicherzustellen. Das neue Kant-Lexikon korrespondiert vorzüglich mit dem Vollständigkeitsanspruch der Akademie-Ausgabe.
Neben dem quantitativen Umfang der Einträge stellt die Einbeziehung der philosophischen Forschung in die Diskussion der Begriffe den größten Fortschritt gegenüber den bisherigen Lexika dar. Nun können zumindest die wichtigsten Rezeptionsbeiträge zu den Termini Kants direkt nachvollzogen werden, etwa bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Johann Gottlieb Fichte. Gleichwohl wird in vielen Fällen auch auf wichtige Bezugspunkte in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hingewiesen. Die aktuelle Forschung wird – wohl aus Gründen des Umfangs meist recht knapp – in der weiterführenden Literatur zu jedem Lemma angegeben. Aber auch Kant als Rezipient wird in vielen Einträgen gewürdigt, etwa im Abschnitt „Leibniz-Wolffsche-Schule“, in dem die Beziehungen Kants zu seinen frühaufklärerischen Vorgängern offengelegt werden. Bemerkenswert ist dabei die Differenziertheit der Darstellung, die auf unterschiedliche Phasen von Kants Haltung gegenüber Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff und dessen Schülern während seines Schaffens eingeht.
Als besonders vorteilhaft erweist sich die Entscheidung, anders als im Fall von Eislers Kant-Lexikon nicht nur der ‚reinen‘ Terminologie Kants zu folgen, sondern auch Einträge zu für sein Werk zentralen Personen anzufertigen. Dabei klärt uns etwa Gerhard Seel im Lemma zu Aristoteles darüber auf, dass Kant den Satz „Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigene“ fehlerhafterweise Aristoteles (statt Plutarch) zuschreibt. Auch sonst beweist sich der Königsberger Philosoph nicht als fundierter Kenner Aristotelesʼ, den er dennoch für die Ausarbeitung seiner Logik, der Kategorien- und der Tugendlehre heranzieht. Seel gelingt es in allen drei Bereichen nicht allein Kants Aristoteles-Rezeption nachzuzeichnen, sondern auch auf die Grenzen und Fehler seiner Lektüre und Einordnung des antiken Philosophen zu verweisen. Über die Einträge zu Einzelpersonen lassen sich außerdem die zeitgenössischen diskursiven Netzwerke nachvollziehen, in die Kant eingebunden war: etwa beginnend bei Moses Mendelssohn, von dort aus weiterschreitend über Marcus Herz zu Johann Heinrich Lambert – und von dort aus zu Christian Wolff.
Schließlich muss auf eine wesentliche strukturelle Eigenschaft des vorliegenden Opus hingewiesen werden: Zentrale Vorteile liegen in der Art und Weise, wie lexikographische Wissensorganisation funktioniert. Durch die alphabetische Reihung stehen Wissensbestände nebeneinander, die in der Regel keinen Bezug zueinander aufweisen. Durch die Nachverfolgung der Verweise zwischen den einzelnen Lemmata entstehen Wissensnetzwerke, die man – ausgehend von einem einzelnen Begriff (etwa „Religion“) – in komplexen Zusammenhängen rekonstruieren kann. Indem die Bezüge zwischen Begriffen, Theoremen, Arbeitsbereichen, Personen und Texten so prozessual nachvollzogen werden, eröffnen sich die philosophischen Wissensbestände in ihrer eigentlichen Form: als Netzwerke in vielfachen Bezügen, nicht als klar abgegrenzte Sinneinheiten.
Besondere Freude macht das Sich-Vertiefen in die Denkwege Kants, indem man die abseitigen Begriffe aufschlägt, die man in Handbüchern vergeblich sucht. So erfährt man von den Schwierigkeiten, die Kant bei der definitorischen Abgrenzung der rechten von der linken Hand sah. Oder man hört – vielleicht erstmals – von seinen Schriften zum Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755, in denen er ausführt, dass die Eruptionen durch unterirdische Explosionen im Höhlensystem der Erdschale entstanden seien. Und man kann herausfinden, warum Kant Barmherzigkeit für eine unangemessene, ja das Übel verdoppelnde Eigenschaft hält.
Die Herausgeber legen ein Lexikon in drei Bänden vor, das an Umfang und Güte all seine Vorgänger bei Weitem übertrifft. Die Kant-Forschung wird lange davon profitieren, bis sie – vielleicht in noch einmal 100 Jahren – einer Aktualisierung in Form eines neuen Kant-Lexikons bedarf.
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