Vollendeter Mainstream

„Mein Jahr ohne Udo Jürgens“: Andreas Maiers Kolumnen sind als Buch erschienen

Von Sabrina WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabrina Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geht nicht um Udo Jürgens. Und dann doch. Es geht um Apfelwein. Und auch nicht. Heimat, Herkunft, Hessen, (Apfelwein-)Wirtschaft, Freundschaft, Fanschaft – all das findet sich im Buch „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“ von Andreas Maier. Es ist Generationenporträt und Heimaterzählung, angereichert mit ein bisschen kritischer Zeitgenossenschaft, ein wenig Pop und auch dem Gegenteil. Ist Udo Jürgens Pop? Nein, sicher nicht. Udo Jürgens ist, so Maier, „vollendeter Mainstream“, und das meint der Autor keineswegs abwertend – im Gegenteil.

Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember 2014 schrieb Andreas Maier, der noch wenige Woche zuvor ein Konzert des Sängers besucht hatte, ein Jahr lang zweimal im Monat eine Kolumne im „Logbuch“, dem Onlinemagazin des Suhrkamp Verlags. Nun sind die Kolumnen als Buch erschienen. Auf den ersten Blick verwundert diese Arbeit vielleicht all jene, die Maier als den Autor kennen, der sich seit 2010 ganz seinem Opus Magnum verschrieben hat: „Ortsumgehung“ heißt der auf mindestens elf Bände angelegte autobiografische Romanzyklus über die Wetterauer Heimat des 1967 im hessischen Bad Nauheim geborenen Autors. Vier Teile sind bisher erschienen: „Das Zimmer“ (2010), „Das Haus“ (2011), „Die Straße“ (2013), „Der Ort“ (2015). Anders als etwa der Norweger Karl Ove Knausgård oder der ebenfalls aus dem Hessischen stammende Gerhard Henschel protokolliert Maier aber nicht minutiös und quasi ‚live‘, sondern kehrt mit der Lebenserfahrung und dem Wissen des inzwischen erwachsenen Autors in die eigenen Kindheits- und Jugendjahre zurück.

Oberflächlich betrachtet gönnt sich Maier nun also mit „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“ eine kleine Pause von seinem Großwerk. Bei genauerem Hinsehen aber fügt sich der kleine Band stilistisch und perspektivisch durchaus in sein Gesamtwerk und damit auch in die Arbeit an der „Ortsumgehung“ ein. Hier wie dort erkundet und beobachtet der Autor den eigenen prägenden Lebensraum. Es ist sein Blick für das Alltägliche und für die Menschen um ihn herum ebenso wie die stets reflektierte eigene Erzählperspektive, die für die „Ortsumgehung“ ebenso charakteristisch sind wie für die Logbuch-Kolumnen.

Udo Jürgens ist gleichsam der rote Faden oder, wie es im Buch heißt, der „missing link“, der die Anekdoten, Begegnungen und implizierten Zeitgeistanalysen zusammenhält: „In Frankfurt gab es immer zwei Kulturen, die Apfelweinkultur und die Suhrkampkultur. An diesem Tag aber wurden die beiden Frankfurter Kulturen für mich erweitert durch etwas, ja, nennen wir es Udo-Jürgens-Kultur.“

Das Phänomen Udo Jürgens zu ergründen, ist also Maiers Intention nach dem Tod des Sängers. Über den „missing-link“ Udo Jürgens knüpfte der Autor vor einigen Jahren neue Bekanntschaften, während er die „Entgeisterung“ über den Besuch seines ersten Udo-Jürgens-Konzerts im alten Bekanntenkreis wohl gelassen hinnahm. Denn Maier zeigt sich ehrlich berührt und fasziniert von dem, was er dort erlebte. Für viele Menschen war Udo Jürgens „einfach immer da“, eine verlässliche und verbindliche Größe und Orientierung. Maiers wunderbar treffendes Fazit lautet:

Kommunikationstheoretisch gesehen ist Udo Jürgens […] so etwas wie Apfelwein auf musikalisch. Er führt Leute zusammen. […] Die Udo-Jürgens-Kultur steht für nichts und will nichts, macht nichts und schädigt niemand. Sie geht nicht einmal auf die Leber. Sie führt höchstens zu einer erhöhten Koitalquote. Aber das ist ja auch nichts Schlechtes. Es ist vielmehr meistens einfach die schlichte Wahrheit.

Um Missverständnissen vorzugreifen: So sehr Maier stets die intellektuelle Distanz zu seinen Beobachtungen wahrt, so wenig ironisch oder gar zynisch sind seine Beobachtungen – die Selbstironie einmal ausgenommen. Das Assoziative seiner Gedankengänge ist dabei Programm: „Ich habe mich schon wieder um die Ecke geschrieben“, bemerkt der Schreibende selbst einmal in seinem Gedankenfluss. Das ist einerseits kurzweilig, andererseits will man nach einer Weile pausieren. Vielleicht sind die Ursprungstexte als einzelne Kolumnen die beste Lektüredosis. Man könnte sie jeweils zusammen mit ein paar ausgewählten Udo-Jürgens-Songs in Häppchen genießen. So ließe sich auch überprüfen, ob man am Ende Maiers Diagnose teilt: „Jetzt weiß ich: Die Musik von Udo Jürgens wäre sofort peinlich, hätte sie ein anderer gemacht, ein Nachgeborener, einer, der nicht diese langen Zeiten überbrücken kann, sondern post festum plagiiert. Udo-Jürgens-Musik setzte immer voraus, dass sie Udo Jürgens machte.“

So leicht sich Maiers Beobachtungen auch lesen lassen, man sollte seiner präzisen und genauen Sprachverwendung besondere Aufmerksamkeit schenken. In einem Interview mit Denis Scheck gab sich Maier einmal verwundert, als der Literaturkritiker ihm eine „unglaubliche Sprachgewalt“ attestierte. Seine Sprache sei doch, so der Autor, „nichts anderes als vollkommen einfach“, sie habe „keinen Kunstanspruch, aber auch keinen Einfachheitsanspruch“. Doch in genau dieser Sprache, ohne auch nur ein überflüssiges Wort zu verwenden, bedient Maier die gesamte Klaviatur von zart einfühlsam bis laut und derb schimpfend. Darüber hinaus sind seine Sätze stets von einem genauso feinen wie trockenen Humor durchzogen.

Diese Sprache ermöglicht dem Leser auch einen unmittelbaren Zugang zu der inhaltlich etwas herausfallenden, ausführlichen Liedanalyse. In drei Kapiteln untersucht Maier – hier ganz Hermeneutiker – Jürgensʼ Song „Merci Chérie“, mit dem er 1966 den Grand-Prix gewann. An dieser so ernsthaft wie gewinnbringend betriebenen Liedanalyse hätte wohl auch Udo Jürgens seine Freude gehabt – nicht zuletzt als Künstler, dem die eigene Mainstreamrezeption nicht nur stets bewusst war, sondern der sie wie Andreas Maier nie als etwas Verachtenswertes betrachtet hat.

Titelbild

Andreas Maier: Mein Jahr ohne Udo Jürgens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
218 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425190

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch