Caelum, et animum mutant, qui trans mare currunt
Wolfang Reinhards „Unterwerfung der Welt“ ist das neue Standardwerk zur Europäischen Expansion
Von Julian Köck
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1434 umsegelte ein kleines portugiesisches Schiff unter Kapitän Gil Eanes das Kap Bojador in Westafrika. In Lagos heißt es auf einem Denkmal für Eanes: „Er öffnete das alte Meer dem modernen Menschen“, und tatsächlich, in gewisser Weise wurde hier die Moderne eingeläutet. War man bislang noch der Meinung gewesen, dass südlich des Kaps so unwirtliche Bedingungen herrschten, dass kein Schiff dort bestehen könnte, wusste man es nun besser, sehr zum Ärger der muslimischen Kaufleute Afrikas. Um sich von diesen – aber auch den italienischen Händlern – unabhängig zu machen, begann das kleine Portugal unter seinen Königen aus dem Hause Avis – Friedrich II. sollte sie später als „gekrönte Kapitalisten“ bezeichnen – die Küste Afrikas zu erkunden. 1443 wurde das Ras Nouadhibou umschifft, 1444 die Mündung des Senegal, 1446 die des Gambias entdeckt, 1482 der Kongo erreicht, weitere sechs Jahre später umschiffte schließlich Bartolomeu Dias das „Kap der Stürme“, das der König in „Kap der guten Hoffnung“ umbenennen ließ. Der Anfang für die Entdeckung der Welt durch Europäer war gemacht, doch erst ein zweites Ereignis macht das Jahr 1434 zu einem entscheidenden in der Geschichte der Menschheit: Wohl in diesem Jahr verstarb der chinesische Admiral Zhèng Hé, der ein Nachfahre Mohammeds gewesen sein soll und der nach seinem Tod von den Daoisten zum Gott erhoben wurde. Zhèng Hé kommandierte über viele Jahre die Flotten der Ming-Kaiser, die als Zeichen für die Erneuerung des chinesischen Reichs im Indischen und Pazifischen Ozean kreuzten. Wir wissen, dass die Schiffe Vietnam, Java, Malakka, Indien, Ceylon und auch den persischen Golf anliefen, teils um Handel zu treiben, teils um militärisch die vom Kaiser beanspruchte Oberherrschaft über die Welt durchzusetzen. Kurz bevor die Portugiesen begannen, die Westküste Afrikas entlangzufahren, erkundeten Zhèng Hés Schiffe noch den Osten Afrikas. Doch mit seinem Tod wurden die Fahrten beendet; unterm Strich kosteten sie den Staat zu viel Geld, zumal China mit Ressourcen und Handelsverbindungen so gut ausgestattet war, dass man schlicht keinen Grund sah, die Welt zu entdecken. So kam es um 1434 dazu, dass sich die kulturell und wirtschaftlich fortschrittlichste Macht der Zeit auf sich selbst zurückzog, während sich die vielen kleinen Herrscher am anderen Ende des eurasischen Kontinents daran machten, die Welt zu entdecken und schließlich zu unterwerfen.
Dieser „Unterwerfung der Welt“ widmet Wolfgang Reinhard sein gleichnamiges magnus opum, das im Frühjahr 2016 im C. H. Beck-Verlag erschienen ist. Gegliedert ist das Buch in 24 eigenständige Kapitel, die meist zwei oder drei Unterkapitel umfassen. Auch wenn sich der Verfasser eingehend mit ökonomischen Fragen beschäftigt, scheint es vornehmlich die Kulturgeschichte zu sein, die ihn interessiert. Und dieser Fokus ist überaus spannend, wird so doch der Blick auf die verschiedenen Mentalitäten, die häufig zu Irrungen und Wirrungen, aber auch zu kreativen Neubildungen geführt haben, frei. Reinhard nimmt dabei sowohl wirtschaftliche und soziale Strukturen in den Blick als auch die Freiräume der beteiligten Individuen.
Der Autor beginnt sein Werk mit einer Untersuchung der europäischen Kontakte nach Asien in Antike und Mittelalter, die den Erkenntnisrahmen bildeten, an dem sich die Entdecker der Frühen Neuzeit orientierten. Auch auf die Entdeckung Nordamerikas durch die Wikinger geht Reinhard ein, bevor er anschließend den Portugiesen – und ihren Konkurrenten aus England und den Niederlanden – um Afrika herum an die Küsten Asiens folgt. Dabei versäumt er es nicht, auf die vielen Faktoren einzugehen, die im 15. Jahrhundert zusammenkamen und das Entdeckungszeitalter erst ermöglichten. Neben der Entwicklung neuer Schiffstypen und Navigationsweisen spielten der Goldmangel auf der iberischen Halbinsel, der Drang, muslimische und italienische Zwischenhändler im Gewürzhandel zu umgehen, und schließlich auch die Transformation der Reconquista in eine Conquista eine wichtige Rolle. Außerdem geht er auf die Bedeutung der Italiener ein, die zu den ersten Kapitänen portugiesischer Schiffe zählten und im Mittelmeer die Kolonialtechniken entwickelten, die später in Amerika und Asien Anwendung finden sollten. Es sind aber nicht nur diese großen Entwicklungslinien, die zur erfolgreichen Entdeckung der Welt geführt haben, sondern auch die Anfänge rationaler und bürokratischer Herrschaft in Portugal und Spanien. Als Beispiel für das planvolle Vorgehen der Portugiesen, die teilweise ganze Fort-Bausätze auf Schiffen transportierten, um vor Ort innerhalb kürzester Zeit eine Festung errichten zu können, kann das methodische Vorgehen Joãos II. dienen. Der „Principe Perfeito“ wollte mit aller Kraft den Weg nach Indien finden und verfolgte dabei drei Strategien: die Umsegelung Afrikas, Expeditionen auf den afrikanischen Flüssen und schließlich die Entsendung von als Muslimen getarnten Geheimagenten. Freilich war planvolles Vorgehen nicht alles: Von Kolumbus wollte João II. nichts wissen, da den Hofmathematikern klar war, dass Kolumbus von einem falschen Umfang der Erde ausging. In Asien betätigten sich die Portugiesen zuerst als Händler – und als Piraten. Terror wurde planmäßig eingesetzt, um die arabischen und indischen Händler vom Markt zu drängen. So konnte sich Manuel I. nicht zu Unrecht als „Herr der Eroberungen, der Seefahrt und des Handels mit Indien, Äthiopien, Arabien und Persien“ bezeichnen lassen. Die Stärke der Europäer lag zuerst durchaus in ihrer Selbstbeschränkung. Sie gaben sich mit dem Besitz von wenigen festen Orten und der Kontrolle über die Handelsrouten zufrieden, kamen auf dem Festland aber den damaligen asiatischen Großmächten nicht in die Quere. Diese Strategie befolgten weitgehend auch die Niederländer und Engländer bis ins 18. Jahrhundert.
Anders dagegen waren die Dinge in Amerika bestellt. Hier konnte kein vorhandener Reichtum über Handel abgeschöpft werden, weswegen die Europäer damit begannen, sich die indigenen Völker und deren Gebiete zu unterwerfen. Im Mittelpunkt von Reinhards Darstellung steht in diesem Zusammenhang der Atlantik, der allein durch den Sklavenhandel, aber auch den Austausch von Kulturpflanzen Süd- und Mittelamerika sowie Westafrika nahe aneinanderrückte. Besonders hervorzuheben ist, dass der Autor hier und an anderen Stellen tatsächlich eine Globalgeschichte schreibt, die besser geeignet ist, die historischen Abläufe erkenn- und verstehbar zu machen, als es oftmals sehr formelhafte Darstellungen erlauben. Dies betrifft einerseits das innereuropäische Verhältnis, hier geht er zum Beispiel auf die nicht geringe, aber meist übersehene jüdische Beteiligung bei der europäischen Expansion ein, dann aber auch das Verhältnis von Europäern und anderen Menschen und Völkern. Reinhard macht deutlich, dass sich die europäische Expansion nicht in einem binären Handlungsfeld, gebildet von aktiven Europäern und passiven Indigenen, abspielte, sondern auf einem Netzwerk beruhte, in dem Vertreter aller beteiligten Kulturen in enger Wechselwirkung miteinander standen. Der Erfolg eines Hernán Cortés ist schwer denkbar ohne seine indigene Partnerin Malintzin, die ihm als Dolmetscherin kreativ zuarbeitete und ihn in die Lage versetzte, die Feindschaften zwischen verschiedenen amerikanischen Gruppen auszunutzen. Überhaupt waren viele Conquistadores, die anfänglich teils auch afrikanischer Herkunft waren, mit indigenen Frauen zusammen und profitierten von deren Wissen. Ähnlich ist es um die englische Herrschaft in Indien oder auch den Sklavenhandel in Afrika bestellt gewesen: Ohne Hilfe der Indigenen konnten sich die Europäer fast nie durchsetzen, was ein Hinweis mehr darauf ist, dass die europäische Expansion nur als Globalgeschichte begriffen werden kann – und nicht als Anhängsel der europäischen Geschichte.
An die Beschäftigung mit dem Entdecker-Zeitalter schließt die Darstellung der nun schon als imperial apostrophierbaren Expansion auf dem Festland an. Von besonderer Bedeutung hierfür war die Ausdehnung Russlands nach Asien hinein: Nun kamen die Europäer nicht mehr nur an die asiatischen Küsten, mit der russisch-chinesischen Grenze war die Integration des eurasischen Kontinents abgeschlossen. Darauf reagierten wiederum die anderen europäischen Mächte, besonders Großbritannien. Ein Beispiel dafür, dass innereuropäische Konflikte entscheidende Faktoren für weitere Eroberungen waren und als ein Leitmotiv der europäischen Eroberung gelten können. Überspitzt lässt sich die These formulieren, dass die Eroberung der Welt durch Europa eine Folge von europäischen Auseinandersetzungen war. So lassen sich teilweise die Entwicklung von Siedlungskolonien in Nordamerika, Südafrika und Australien erklären, aber auch der Umschlag vom Freihandelsimperialismus in Asien hin zur direkten Kolonialherrschaft. Mit Afrika wurde im 19. und 20. Jahrhundert der letzte Kontinent großflächig durch die Europäer unterworfen und nach ihren Vorstellungen geformt. Dies lässt sich noch heute nicht nur an den mit dem Lineal gezogenen Grenzen vieler afrikanischer Staaten erkennen. Die Globalität der europäischen Expansion zeigt sich auch hier neben dem kreativen Prozess wechselseitiger kultureller Beeinflussung auch darin, dass die europäischen Eliten in den Afrikanern genau wie in den europäischen ‚Unterschichten‘ Menschen zu erblicken meinten, die man nach gewissen Vorstellungen zu erziehen und zu disziplinieren habe. Deshalb sorgten die Kolonialherren zielgerichtet durch Landwegnahme und Besteuerung dafür, dass die meisten Afrikaner ihren Lebensunterhalt nur noch durch Lohnarbeit sicherstellen konnten. Für europäische Unternehmer bot dies – und bietet bis heute – interessante Optionen, während die dafür notwendige Bürokratie immer höhere Kosten für die Kolonialmächte evozierte. Auch das ist ein wesentliches Merkmal der europäischen Expansion: „Private Profite mit Sozialisierung der Verluste“ waren der Standard. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Kolonialmächte der Dekolonisierung oft nicht abgeneigt waren, zumal wenn es gelang, weiterhin eine ökonomische Hegemonie über die ehemaligen Kolonien zu behalten. Ein Beispiel hierfür stellt die CFA-Franc-Zone in Afrika dar, der 14 afrikanische Staaten angehören. Kritiker wie Dirk Kohnert streichen heraus, dass diese Zone in erster Linie den politischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen der französischen Elite und ihren afrikanischen Partnern dient, aber nicht den Bevölkerungen der verschiedenen Länder. Aus dieser Perspektive ist die Entkolonialisierung längst nicht abgeschlossen. Die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung durch europäische Eliten in Verbindung mit den indigenen kann darüber hinaus als weiteres typisches Merkmal der europäischen Expansion gelten. Allerdings gab es auch immer wieder Versuche, in den Kolonien Utopien zu verwirklichen, die in den Metropolen kaum denkbar waren. Man denke hier nur an christliche Orden, die in Südamerika Dörfer mit der Verfassung versahen, die Thomas Morus in „De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia“ entworfen hatte. Das Glücklichsein der heutigen Kanadier mag man vielleicht darauf zurückführen, dass in der damals französischen Kolonie Rechtsanwälte streng verboten waren.
Ohne Zweifel hat es wenige historische Ereignisse gegeben, die in einem solchen Maße prägend für die Welt wurden wie die europäische Expansion. Sie hat der modernen Welt ihr Gesicht gegeben, eine „Verstaatlichung der Welt“ bewirkt. Heute kommt kaum eine Kultur um Begriffe wie Nation, Volk und Staat herum, so unterschiedlich ausgeformt die damit bezeichneten Strukturen auch sein mögen. Dialektisch war dieser Prozess insofern, als die Dekolonisation meist auf europäischen Gedanken fußte, die nun von indigenen Eliten rezipiert wurden. Global war die Expansion auch deswegen, weil die verschiedenen Regionen der Welt in ein interagierendes Netz eingefasst wurden, was zu erstaunlichen und für die Zeitgenossen kaum überblickbaren Ereignissen geführt hat. Ohne das portugiesische Asienreich wäre China nicht an die internationalen monetären Ströme angeschlossen worden, und ohne den chinesischen Silberbedarf, der zum „Fundament des spanischen Weltreichs“ wurde, hätte Spanien nicht für eine gewisse Zeit Hegemonialmacht in Europa werden können. Noch umwälzender war die Einführung von Kartoffel und Mais in Eurasien und Afrika, die einen gewaltigen Bevölkerungsanstieg in beiden Kontinenten hervorrief und damit die Industrialisierung möglich machte. Die Liste ließe sich fast nach Belieben fortsetzen.
Wolfgang Reinhards Darstellung solcher Prozesse sind viele Leser zu wünschen. Die Beschäftigung mit der europäischen Expansion lehrt viel über das Wesen unserer Spezies, ist spannender und vielseitiger als die meisten Romane und schließlich ist das Verständnis darüber, wie Europa den Rest der Welt prägte und von diesem geprägt wurde, nötig, um die Welt, wie sie heute ist, zu verstehen.
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