In unseren Herzen Angst und Furcht

Der Historiker Marcin Zaremba erzählt mitreißend und einfühlsam von der Nachkriegszeit unserer Nachbarn

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem der britische Historiker Keith Lowe 2012 in Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950 ein großes Panorama der Nachkriegszeit in Europa entworfen hat, richtet Marcin Zaremba in Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand den Fokus auf die polnische Nachkriegsgeschichte. Der Warschauer Historiker und Soziologe nutzt den Zugriff von Emotions- und Mentalitätsgeschichte, um die psychosozialen Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs zu erkunden. Auf der Basis von Tagebüchern, Briefen, Memoiren sowie zeitgenössischen Zeitungsberichten entwirft er ein anschauliches und detailliertes Bild der Ängste und Schrecken in Polen.

Zaremba benennt drei Quellen des polnischen Angsttraumas jener Jahre. Zuerst die Allgegenwart des Todes; überall lagen Leichen von Menschen und Tieren. „Wenn man durch die Straßen ging, musste man sich die Nase zuhalten, so streng war der Leichengeruch“, berichtet ein Augenzeuge. Jede Familie hat Opfer zu beklagen, fast alle sind Zeugen von Tötungen geworden. Der zweite traumatische Faktor war die Armut. Die meisten Polen hatten alles verloren, durch die deutsche oder die folgende sowjetische Besatzung, durch Banditen oder Marodeure. Der Zeitzeuge Hugo Steinhaus spricht im Buch vom größten „Haufen Bettler auf dem größten Haufen von Ziegelsteinen und Bauschutt in Europa.“ Folgen von Pauperisierung, Armut und Erniedrigung sind Konzentration auf das eigene Überleben und Gleichgültigkeit gegenüber den anderen. Die dritte Quelle des Traumas sieht Zaremba in Desintegration und Atomisierung der polnischen Gesellschaft. Deportationen und Aussiedlungen begannen schon im Herbst 1939 durch die deutschen Besatzer, die über drei Millionen Polen unter Zwang umsiedelten oder als Zwangsarbeiter nach Deutschland brachten. Einen vierten traumatischen Faktor sieht Zaremba im Zerfall der Institutionen. Das gesellschaftliche Leben war durch den Krieg bereits fast vollständig desorganisiert, die meisten Institutionen und Organisationen waren desolat. Der Autor findet eine eindrückliches Bild dafür: „Im übertragenen Sinne lässt sich Nachkriegspolen organisatorisch und institutionell mit der Stadt Köln nach dem Flächenbombardement vergleichen: Ein Meer aus Schutt und Asche und inmitten die beinahe unversehrte Kirche.“

Über Jahre hinweg litten nahezu alle Polen unter dem, was erst später als Posttraumatische Belastungsstörung begrifflich gefasst wurde. Eine Zeitzeugin erinnert sich an die ersten Unterrichtsstunden in einer Schule nach dem Krieg: „Es herrscht eine bis zum Zerreißen gespannte Stimmung dort. Keine Minute vergeht, ohne dass jemand in Tränen ausbricht. Lehrer und Kinder weinen bei jeder Gelegenheit. Alle sind nervös, fast hysterisch.“ Eine Folge davon war ein steigendes Aggressionsniveau im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen. Prügeleien und Morde wurden alltäglich; der „Lebensstil des Krieges“ mit seiner Verachtung menschlichen Lebens, Aggression und Sadismus wurde bis weit in die Nachkriegszeit hinein fortgeführt. Des Weiteren gab es einen zunehmenden Alkoholismus, nicht nur Männer, sondern auch Frauen begannen zu trinken, ebenso wie Jugendliche und Kinder. Auf den Dörfern wurde in nahezu jedem Haus selbst gebrannter Wodka hergestellt – der galt zudem als verlässliches Zahlungsmittel galt; in vielen Regionen zahlten staatliche Betriebe und Institutionen die Löhne und Gehälter ihrer Arbeiter und Angestellten in Ermangelung von Banknoten in Wodka aus.

Als Bewältigungsstrategie ließe sich auch die verstärkte Hinwendung zur katholischen Religion verstehen – nie waren die Kirchen so voll. Zugleich war der Alltag durchwirkt von Aberglauben und magischem Denken. Weil es kaum verlässliche Informationen gab, waren die Menschen bereit, jeder Schreckensnachricht und jedem Gerücht zu glauben. Entsprechend hoch war die Bereitschaft zur öffentlichen Panik.

Nur stichwortartig kann hier auf die Vielfalt der Themen hingewiesen werden, die Zaremba aus dem Chaos jener Jahre herausgreift und mit einer Vielzahl von Belegen illustriert. Wie zu Beispiel das tiefe Entsetzen über die Verheerungen durch die sowjetische Armee, nachdem die deutsche Wehrmacht endlich abgezogen war. Auch hier waren Vergewaltigungen an der Tagesordnung, Plünderungen ebenso, besonders in den ehemals deutschen Gebieten. Was die Rotarmisten nicht beschlagnahmten, wurde von nachrückenden Polen geplündert. Zugleich fürchtete man sich vor marodierenden Banditen, die in Wäldern hausten und die Dörfer heimsuchten. Jeder hatte eine Axt unter dem Bett, um sich zu wehren. Die Gesellschaft war atomisiert, die Menschen entwurzelt und irrten durch das Land: demobilisierte Soldaten, Deserteure, Landstreicher, Bettler, Invaliden, Waise, Arbeitslose, Spekulanten: „Sie versteckten sich in den Wäldern, lagerten auf den Straßen und Märkten und waren Teil der Menge. Sie waren voller Angst, und oft erregten sie Furcht.“ Zudem waren sie durch die lang andauernde Kriegszeit verroht und demoralisiert, viele Partisanen schlossen sich nun zu Wald-Banditenbanden zusammen und terrorisierten die Umgebung. Terror und Angst verbreiteten auch die neuen Machthaber. Geheimdienste setzten politischen Terror gezielt ein, um den polnischen Widerstand gegen ein kommunistisches Regime zu brechen. Über Jahre hinweg war die Auffassung verbreitet, es werde ohnehin bald zum nächsten Krieg kommen; nach entsprechenden Nachrichten kam es zu Panikkäufen und Massenflucht. Die einsetzende Kollektivierung und Verstaatlichung wurden nicht als Beginn einer Normalität empfunden, sondern als Plage.

Zaremba führt „drei Reiter der Apokalypse“ auf: Hunger, Überteuerung sowie Infektionskrankheiten. Schon während des Krieges und der deutschen Besatzung erwies sich der Hunger „als ebenso wirksames Werkzeug der Vernichtung wie die Gaskammern“. Apokalyptische Szenen werden von Zeitzeugen geschildert: In den ehemaligen Frontgebieten „erinnert die Landschaft oft an die Prärie; die Felder sind mit Gras zugewachsen, keine Häuser, ab und zu eine zusammengezimmerte Hütte, und da, wo einst Dörfer waren, gibt es statt Häusern Erdlöcher, in denen die Menschen leben.“ Der Hunger raffte zuerst die Kinder hinweg, „sie sterben wie die Fliegen“. Es kommt zu Hungertumulten und „Brotaufständen“, als sich Hoffnungen auf eine Besserung der Lage 1946 als trügerisch erweisen. Mit dem Hunger einher ging eine erschreckende Überteuerung, die die Menschen verbitterte und die von den neuen Machthabern instrumentalisiert wurde, um den Hass auf „Spekulanten“ zu wenden. Eine direkte Folge dieser Notlage waren die Infektionskrankheiten, insbesondere Typhus, der besonders in den ehemals deutschen Gebieten wütete. Auch hier schildern Zeitgenossen wahrhaft apokalyptische Szenen: „Ich ging die leere, wie ausgestorbene Straße durch mein Dorf, und Schmerz ergriff mein Herz. Von allen Seiten schreckliche Leere und Grauen. Die Nachbarn und Bekannten, die ich traf, sahen fürchterlich aus. Abgemagert, mit erbärmlichen Gesichtern und Augen, aus denen der Wahnsinn sprach. In dem zum Teil erhaltenen Haus der Jagiellos fand ich vier Typhuskranke, die auf dem Boden lagen.“

Der Autor findet eine eindrückliche Metapher, um die emotionale Verfassung der Nachkriegspolen zu benennen:

Der Krieg hatte einen Kessel voll nationaler Phobien und Neurosen, Hassgefühlen und Rachegelüsten hinterlassen. Auf dem Grund dieses Kessels hatte sich eine dicke Schicht des Antisemitismus der Vorkriegszeit abgesetzt. Das emotionale Klima der Nachkriegszeit – geprägt von politischer Angst, einem bohrenden Gefühl von Niederlage und Provisorien aller Art sowie gewaltigen Problemen im Alltag – machte die Rückkehr zu psychischer Stabilität nicht leichter und fachte durch die wachsende Distanz zwischen den Volksgruppen das Feuer unter dem Kessel zusätzlich an.

Die verbliebenen Deutschen wurden von allen Polen gehasst. Sie wurden wie Sklaven behandelt, auf der Straße geschlagen, aus einer Laune heraus getötet. Helga Hirsch bezeichnete diese Verhaltensweise treffend als „Rache der Opfer“. Zu öffentlichen Hinrichtungen von verurteilten Deutschen strömten bis zu 50.000 Polen, darunter auch Frauen und Kinder. Nach der Vollstreckung warf sich die Menge auf die Gehenkten, entriss ihnen die Schuhe, schnitt sie vom Galgen – man glaubte, dass der Strick vom Hals der Verurteilten Glück brächte.

Auch gegen Weißrussen und Ukrainer kam es zu Ausschreitungen, und es kam mehrfach zu antisemitischen Pogromen. Hier wurde der Mythos vom Ritualmord wieder ausgegraben, nach dem Juden das Blut christlicher Kinder für die Matze abzapften. Die allerorten grassierende antisemitische Hysterie und die daraus folgenden Ausbrüche antijüdischer Gewalt wurden von Miliz und Streitkräften mitgetragen und dadurch zusätzlich legitimiert.

Genug an Beispielen. Man lese selbst. Das Buch ist eine tour de force und wegen der zahllosen darin beschriebenen Grausamkeiten eine anstrengende Lektüre. Die von Zaremba angeführten Stimmen der Zeitzeugen formieren sich zu einem vielstimmigen Chor, der noch lange im Leser nachhallt. Auch das gehört zu einer Nachbarschaft: das Leid der anderen anzuerkennen.

Es ist ein Verdienst des Verlags Ferdinand Schöningh, dieses Buch, das in Polen mehrfach ausgezeichnet wurde, nun auch dem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Die Übersetzung von Sandra Ewers ist flüssig lesbar. Das Lektorat jedoch ist nicht frei von Fehlern: der Ku-Klux-Klan-Begründer Simmons kommt aus Georgia, nicht Georgien. Auch wäre eine Landkarte hilfreich gewesen. Die beigegebenen Fotos und Illustrationen hingegen sind gut gewählt. Das Buch kann und sollte auf jeden Fall auch von Nicht-Historikern gelesen werden, es ist ein wertvoller Beitrag zum gegenseitigen Verständnis der beiden Länder, die sich bis heute mit Misstrauen begegnen.

Titelbild

Marcin Zaremba: Die große Angst. Polen 1944-1947: Leben im Ausnahmezustand.
Schöningh Verlag, Paderborn 2015.
630 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783506780935

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