Der Aufsatz-Ayatollah

Zum Tod von Wolfgang Welt. Ein Nachruf

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Es war Peter Handke, der Wolfgang Welt zu einem zumindest in eingeweihten Kreisen halbwegs bekannten Schriftsteller machte. Erstaunlich, dass gerade Handke, der Meister der Umschreibung und der intellektuellen Reflexion, darum bemüht war, einen Autor zum verdienten Ruhm kommen zu lassen, der in direkter, ungezügelter Sprache seinen chaotischen, im Grunde auch nichtssagenden Alltag beschreibt. Doch irgendetwas muss Handke in den Texten Welts gesehen haben, das ihn dazu brachte, dem Suhrkamp Verlag regelrecht die Pistole auf die Brust zu setzen, um ihn zur Veröffentlichung des schmalen Werks dieses Autors zu bewegen. 2006 erschien dann tatsächlich der Sammelband Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe, der Welts Romane Peggy Sue und Der Tick sowie einen eigens geschriebenen dritten Band enthielt. Ein großer Erfolg war es nicht, was Welt in späteren Texten auch bedauerte – viel zu wenige Leser wurden erreicht, und doch ist das Buch ein unglaubliches Geschenk für die deutsche Literatur.

Da schreibt einer unverblümt über seinen im Grunde fast völlig ereignislosen Alltag. Und der sieht so aus: Welt wächst in Bochum in einfachen Verhältnissen zwischen Fußballverein und Eckkneipe auf, macht dennoch das Abitur und beginnt zu studieren, doch das Studium bringt ihm nichts, er, der Buddy Holly-Verehrer, arbeitet beim mittlerweile legendären örtlichen Plattenladen ELPI als Verkäufer und überlegt sich eines Tages, dem heute ebenso legendären Stadtmagazin Marabo erste Texte über Musik anzubieten. Welt wird eine Art Redakteur, ist zuständig für Popmusik und lernt dabei schnell, wie man umsonst an die neuesten Veröffentlichungen gelangt. Rasch gerät er in die verführerische Mühle zwischen Interviewterminen, Konzertbesuchen und dem Empfangen von Plattenpäckchen, die jedem, der die goldene Zeit der Popmusikindustrie erlebt hat, noch bestens in Erinnerung ist. Er beginnt auch für die großen Zeitschriften wie den Musikexpress zu schreiben (wenn auch längst nicht so viel, wie man nach der Lektüre seiner Romane glauben mag); berüchtigt bleibt seine Fehde mit dem Musiker Heinz Rudolf Kunze, den er als „singenden Erhard Eppler“ verspottete und der ihm daraufhin den denkwürdigen Namen „Aufsatz-Ayatollah“ verpasste.

Zwischendurch ist Welt auf der ständigen Suche nach Sex, den er jedoch allzu selten dann tatsächlich auch bekommt. Er geht mit seinen wenigen Kumpels in Kneipen Bier trinken. Irgendwann im Laufe der Lektüre fällt dem Leser die zunehmende Manie des Erzählers auf, er wird immer gehetzter, immer fahriger, im Grunde nichts Besonderes für einen Musikjournalisten, doch Welt hat sich immer weniger im Griff. Er leidet an Verfolgungswahn, hört Stimmen, schließlich muss er in die Psychiatrie eingeliefert werden: Schizophrenie lautet die Diagnose. Ab sofort schluckt er Medikamente gegen die Stimmen in seinem Kopf. Diese lähmen ihn, machen ihn träge, und nach und nach erkennt er, dass er nicht mehr in der Lage ist, sein Musikjournalistendasein (das ja, wie auch heute, kaum Geld einbringt, weshalb Welt zeitlebens auch bei seinen Eltern gewohnt hat) weiterzuleben. Er beginnt damit, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Peggy Sue wird veröffentlicht, doch der Erfolg bleibt aus, trotz bester Kontakte in die Buchbranche. Irgendwann landet er als Nachtwächter im Bochumer Schauspielhaus. Hier schreibt er weiter, bis Handke ihn entdeckt – und auch danach, bis zu seinem Lebensende, bleibt er seinem Leben als Nachtwächter treu. Als solcher ist er zu einer Bochumer Institution geworden. Jahrzehntelang kannte jeder Bochumer den einst rasenden Reporter Wolfgang Welt, der des Nachts stets das Theater bewachte.

In einer Kurzdokumentation, die auf Youtube angeschaut werden kann, erzählt Welt, er schreibe, trotz reichlich Zeit während der langen Nachtschichten, ausschließlich im Urlaub. Daher bleibt das Œuvre leider schmal. Nach einem weiteren Band bei Suhrkamp namens Doris Hilft erschien vor zwei Jahren sein, nun leider letztes, Buch Fischsuppe beim Kleinstverlag Engstler. Nach einem kurzen Dasein als „Pop-Literat“, als der er fälschlicherweise von der Presse hochgejubelt wurde, war es wieder still geworden um Wolfgang Welt. Glücklicherweise erschienen 2012 beim Klartext Verlag unter dem Titel Ich schrieb mich verrückt seine gesammelten journalistischen Arbeiten. Auch an ihnen, die sich nur minimal von seinen Romanen unterscheiden, kann man feststellen, was für ein Genie Wolfgang Welt eigentlich war.

Zu vergleichen sind seine Texte vielleicht am ehesten mit den Romanen Karl-Ove Knausgårds, der ebenfalls recht enthemmt Privates offenlegt. Fast könnte man meinen, Knausgård habe für den vierten Teil seines Min Kamp-Zyklus, zu Deutsch Leben, das Welt’sche Œuvre eingehend studiert, so ähneln sich die Texte inhaltlich wie stilistisch einander. Und wie bei Knausgård kann man sich bei Welts Texten trefflich streiten, ob es sich hierbei um Literatur oder um eine schonungslose Selbstoffenbarung handelt. Anders als bei Knausgård allerdings ist in Wolfgang Welts Romanen nichts stilisiert, was man auch an der nicht einmal von emsigen Suhrkamp-Lektoren zu rettenden Strukturlosigkeit der Texte bemerkt – umso stärker, als dass der nicht professionell lektorierte Engstler-Band Welts chaotische Gedankenwelt bestens illustriert. Aber genau dieses, wie Rainald Goetz es einst nannte, „einfache wahre Abschreiben der Welt“, ist es, was die Texte des Autors so faszinierend machen. Es wird sich kaum einer der wenigen, meist zufällig an die Texte geratenen Leser finden, der sie nicht mit vollkommener Faszination rezipiert. Hier offenbart sich, mehr noch als in der arg stilisierten Ästhetik Knausgårds, ein einfacher Mensch, der nichts Besonderes erlebt hat und der trotzdem am Leben scheitert. Es ist ein Leben voller Schmerz, Einsamkeit und Trauer, versteckt hinter einer nur schlecht sitzenden Maske des manischen, rasenden Reporters.

Nun ist Wolfgang Welt im Alter von 63 Jahren gestorben und es gab erstaunlich viele Nachrufe in Feuilletons, die sein Werk zuvor teils eher widerwillig zur Kenntnis genommen hatten. Hoffentlich animiert das den einen oder anderen Leser, seine Bücher zu kaufen, zu lesen und abzutauchen in diese faszinierende Ruhrgebietswelt, in dieses Pop-Universum des kleinen Mannes, in den Kopf eines Autors, aus dem so viel mehr hätte werden können, dem das Leben aber einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.