Brexit, Brexitus oder Braustritt

Sollte Englisch EU-Arbeitssprache bleiben?

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Der Brexit bringt jede Menge Probleme mit sich. Was bisher noch kaum thematisiert wurde: Er verschiebt auch das sprachliche Gleichgewicht. Die Europäische Union unterscheidet zwischen Amtssprachen und Arbeitssprachen. 24 Amtssprachen haben wir und 3 Arbeitssprachen, nämlich – in alphabetischer Reihenfolge – Deutsch, Englisch und Französisch. Jede/r EU-BürgerIn kann vor und in EU-Gremien in ihrer Muttersprache auftreten und muss nicht unbeholfen in irgendeiner Fremdsprache radebrechen. Ich hielt einmal eine Rede vor dem Europarat – auf Deutsch – und wurde von den oberhalb des Vortragssaals in ihren Glaskästen sitzenden Dolmetscherinnen simultan in alle Muttersprachen der Anwesenden übersetzt. Die EU leistet sich da einen Riesenaufwand, denn keine EU-Bürgerin soll wegen ihrer Muttersprache diskriminiert werden. Die „ökonomische Ungleichheit“ ist schlimm genug, sie soll nicht auch noch durch eine „sprachliche Ungleichheit“ verschärft werden. Die EU sorgt damit nicht nur für sprachliche Gerechtigkeit, sondern verschafft auch vielen Frauen gut bezahlte Arbeitsplätze, denn die meisten, die dort dolmetschen, sind Frauen.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als Helmut Kohl im Vergleich zu seinem „weltläufigen“ Vorgänger Helmut Schmidt als „bäurisch“ und „provinziell“ verspottet wurde, weil er sich mit den anderen „Großen dieser Welt“ nicht auf Englisch unterhalten konnte und stur auf seiner Muttersprache bestand. Zwar mochte ich Kohl auch nicht, aber ihn wegen seiner Sprache zu verunglimpfen, fand ich ungerecht – Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die auch keine andere Sprache vernehmen ließen als ihre Muttersprache, galten deswegen noch lange nicht als provinziell.

1992 habe ich mich dem europäischen Sprachproblem schon einmal gewidmet. Damals schrieb ich: „Die Länder Europas wachsen zusammen, aber wir haben keine gemeinsame europäische Sprache. Deutsch ist die am weitesten verbreitete Sprache in der EG, aber in den Gremien dominieren Englisch und Französisch. Nun soll Deutsch zur dritten EG-Sprache aufgewertet werden, stand in der Presse zu lesen“.

Nun, das Problem hat sich ja inzwischen erledigt.

Nach dem Brexit ist aber zu fragen, ob Englisch die dritte Arbeitssprache bleiben oder ob nicht eine andere Sprache, etwa Italienisch, Spanisch oder Polnisch, diesen privilegierten Platz einnehmen sollte.

Mit dem Austritt Großbritanniens gibt es in der EU keinen Mitgliedsstaat mehr, in dem Englisch die Hauptsprache ist. Neben Malta (0,4 Millionen) ist Irland mit seinen 4,6 Millionen EinwohnerInnen das einzige EU-Land, in dem Englisch (zweite) Amtssprache ist, allerdings eine ziemlich ungeliebte, denn es ist die „Sprache der Eroberer“. Und das gilt nicht nur für Irland:

Die meisten Weltsprachen entstanden durch kriegerische Expansion von Staaten, in denen die entsprechende Sprache gesprochen wurde, und anschließende langdauernde Hegemonie der eroberten Gebiete. Dies gilt für alle Regionen der Welt und sowohl für die Weltsprachen der Antike wie für jene der Neuzeit oder der Gegenwart.
So schwingt in dem Begriff Weltsprache stets ein gewisser imperialer Hintergrund mit […]. Viele der neuzeitlichen Weltsprachen sind ehemalige Kolonialsprachen, deren Verbreitung auf anderen Kontinenten vor allem durch Eroberung, Kolonisation und Ausrottung erfolgte.

Es ist nicht einzusehen, wieso die verschmähte Europäische Union eine Sprache, die in der EU nur noch 5 Millionen, also weniger als 1 Prozent (widerwillige) MuttersprachlerInnen hat, als eine ihrer 3 Arbeitssprachen privilegieren sollte. Länder wie Italien (60 Millionen), Spanien (46,5 Millionen), Polen 38,5 Millionen) Portugal (10,6 Millionen) und Ungarn (10 Millionen) könnten sich zurückgesetzt fühlen.

Aber: Englisch ist mit 38 Prozent die meistgelernte Fremdsprache der EU:

Noch sind die 3 Arbeitssprachen der EU „auch die drei meistgesprochenen und meistgelernten Sprachen […]; nämlich Deutsch (18 %; 14 %), Englisch (13 %; 38 %) und Französisch (14 %; 14 %) (in Klammern jeweils der prozentuale Anteil der EU-Bevölkerung, der diese Sprache als Muttersprache bzw. Fremdsprache spricht). Verhandlungen, Besprechungen und alle Veröffentlichungen der Europäischen Organe müssen in diesen drei Sprachen geführt bzw. bekanntgegeben werden.

Da haben die BritInnen der EU also noch ein weiteres vertracktes Problem aufgehalst: Dass sie die Sprache des einzigen Mitgliedslandes, das die Union verlassen hat, weiter als Arbeitssprache behalten muss, weil sie innerhalb der Union die meistgelernte Sprache ist.

Ich bin gespannt, wie die EU dieses Problem lösen wird. Mein Vorschlag: Sie sollte eine dritte Kategorie einführen; neben den Amtssprachen und Arbeitssprachen auch noch Hilfssprachen. Arbeitssprachen sind die drei Sprachen, die EU-weit den größten Anteil an MuttersprachlerInnen haben. Das wären zur Zeit Deutsch, Französisch und Italienisch. Hilfssprache ist diejenige Sprache, die von den meisten EU-BürgerInnen verstanden wird. Im Moment ist das das Englische, obwohl nach dem Brexit nur knapp 1 Prozent MuttersprachlerInnen übriggeblieben sind. Zu überlegen wäre außerdem, ob als Hilfssprachen nicht auch solche EU-Sprachen gelten könnten, die zwar weder zu den meistgesprochenen noch zu den meistgelernten Sprachen der EU, dafür aber zu den 12 Weltsprachen gehören. Das wären dann Spanisch und Portugiesisch – die sich wie das Englische wegen ihrer Kolonialgeschichte weit über den Globus verbreiten konnten.

Was genau unter „Hilfssprache“ zu verstehen ist und welche Funktionen ihnen in der EU zukämen, wäre noch festzulegen.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe das Englische – auch deshalb, weil es wegen seiner „uneuropäischen“ grammatischen Struktur viel leichter zu entpatrifizieren ist als die europäischen Genus-Sprachen. Ich war schon immer anglophil, habe Englisch studiert, über das Englische meine Dissertation geschrieben, lebe seit 30 Jahren mit einer US-Amerikanerin zusammen und verbringe jedes Jahr 4 Monate in den USA. Durch meine engen Kontakte mit Ländern, die die „Weltsprache Nr. 1“ sprechen (und in der Regel deshalb auch keine andere), erlebe ich aber auch, dass die Einengung des Blicks durch die sprachliche Hegemonie den Einsprachigen nicht so gut bekommt. Die Eindimensionalität und Nabelschau kann im schlimmsten Fall zu selbst- und fremdschädigendem Verhalten wie der Wahl Donald Trumps oder dem Brexit führen. Es wäre interessant zu untersuchen, ob auch die AnhängerInnen der europäischen RechtspopulistInnen überwiegend Einsprachige sind.

Die EU als Inbegriff der Vielsprachigkeit könnte den Einsprachigen/Monokultis helfen, mehr Menschen verstehen zu lernen als nur sich selbst, indem sie die „Weltsprache Nummer 1“ ein bisschen degradiert. Sie könnte damit anfangen, indem sie das Wort „Brexit“ meidet und stattdessen von „Braustritt“, „Brortie“ oder „Bruscita“ spricht. Diese Worte klingen so seltsam, dass auch mögliche Nachahmungen wie Fraustritt, Nuscita oder Dortie weniger einladend wirken.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glossen „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheinen.