Marcel Reich-Ranickis Koeppen

Über eine Freundschaft

Von Jürgen KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Klein

Groß ist die Freiheit in der Bundesrepublik,
aber noch größer die Feigheit.
Marcel Reich-Ranicki

Als Marcel Reich-Ranicki (MRR) mir vor Jahren genehmigte, zwei seiner Arbeiten in Flandziu und im Koeppen-Jahrbuch zu veröffentlichen, schickte er mir ein Exemplar seines Buches Wolfgang Koeppen. Aufsätze und Reden, das 1996 bei Ammann in Zürich erschienen war.

Reich-Ranicki betont die alte – und grausam am eigenen Schicksal erfahrene − Erkenntnis, dass gesellschaftliche, politische, historische und kulturpolitische Verhältnisse im Entwicklungsgang eines Autors Faktoren sind, die Leben und Werk nicht nur prägen, sondern auch vernichten können. Es ist kein Geheimnis, dass sich beide Männer, der Dichter und der Kritiker, sehr nahe waren. Sie waren beide Außenseiter und hatten ein ungewöhnliches, hartes Schicksal durchlitten, das doch nicht verhindert hat, bedeutende geistige Spuren zu hinterlassen. Koeppens Leben war sicher nicht so direkt gefährdet wie das von Marcel Reich-Ranicki im Warschauer Getto, doch auch bei Koeppens kritischer und letztlich verzweifelter Haltung gegenüber dem NS-Regime hätte schon die geringste Kleinigkeit fatal sein können. Ein weiterer Faktor ist die Reaktion auf das Werk eines Autors. In beiden Aspekten haben die Faktoren der politisch-historischen Zeitläufte und die sich daraus weitgehend ergebende Kritik an Koeppen, zumindest die Skepsis ihm gegenüber, so auf ihn eingewirkt, dass er zu einem „ungewöhnlichen Fall“ wurde. Dies nun erläutert Marcel Reich-Ranicki näher zu Beginn seines Koeppen-Buches: Auch das Schweigen als „Antwort“ auf ein Buch kann tiefgreifende Wirkungen für den Autor haben. Wer hätte bei beiden die intellektuelle und schriftstellerische Brillanz leugnen können? Dass dies schwerlich möglich war, hat vielen „Kulturschaffenden“ nicht gepasst und nicht gerade dazu geführt, dass die beiden Außenseiter in der Bundesrepublik Deutschland persönliche Anerkennung fanden. Koeppen, der eher zurückhaltend und friedliebend war, war es nicht gegeben, aufzutrumpfen und sich an den Ort zu stellen, der ihm zukam. Reich-Ranicki, der kämpferisch und streitbar war, wurde zumeist als zermalmender Kritiker abgestempelt und auch nicht mit Freundlichkeit bedacht. Es ist also kein Wunder, dass sich Koeppen und Reich-Ranicki aus ihrer Einstellung zur „politischen Kultur“ Westdeutschlands und ihrer geistigen Unabhängigkeit heraus sehr nahe waren, sich gegenseitig schätzten, respektierten, nicht zuletzt deshalb, weil sie beide der Liebe zur Literatur den höchsten Wert zumaßen. Auch waren sie sich einig in der Liebe zu Berlin, der Stadt, welche beide geprägt hatte. Sie brauchten die Großstadt zum Atmen: Da war kein Sinn für das Hehre, Hohe, deutsch Abgehobene, Schwulst und Bombast, sondern es ging ihnen um Leidenschaft für geschliffene Prosa, Analyse, Durchleuchtung der gesellschaftlichen Verhältnisse, den Blick hinter die Kulissen, das Leben in der Präsenz. Asphalt und Asphalt-Literatur waren keine Wörter, vor denen Koeppen und Reich-Ranicki zurückschreckten. Sie waren Großstadtmenschen, die vom Pflaster der Metropolen angezogen wurden, denn hier ereigneten sich Literatur und Kultur in Rasanz und Faszination.

Wenn Reich-Ranicki auf das Werk Wolfgang Koeppens zu sprechen kommt, so werden vor allem dessen fünf Romane von ihm anvisiert und er besteht darauf, dass ihr Autor den jeweiligen Machthabern – sei es im NS-Staat, sei es in der BRD – nie Konzessionen gemacht habe. Koeppen konnte nach seinen beiden ersten Romanen seine literarische Karriere abschreiben, weil er sich nicht mit dem Hitler-Regime einlassen, geschweige diesem dienen wollte. Es kam zum Rückzug aus der Gegenwart des Nationalsozialismus, selbst wenn er sich nach 1938 beim Film unterstellte. Unzweideutig weist MRR darauf hin, dass Koeppens Nachkriegs-Trilogie, beginnend mit Tauben im Gras, die jungbundesrepublikanische Kritik und Leserschaft − etwa die NS-Sympathisanten Friedrich Sieburg und Hans Egon Holthusen − mit der Schreibtechnik der Moderne als auch mit der politik-, ideologie- und gesellschaftskritischen Perspektive schreckte. Solche „moderne“ Literatur huldigt weder einem „Wir sind wieder wer“-Gedanken, noch verfällt sie in die Weinerlichkeit der Trümmerliteratur. Sie fährt vielmehr beiden Haltungen in die Parade. Vielleicht könne man erst heute, schrieb MRR 1961, „die beklemmende Hellsicht dieses Romanes ermessen, in dem manche Abschnitte 1961 und nicht 1951 geschrieben zu sein scheinen.“

Auch Das Treibhaus (1953) hat beim bundesrepublikanischen Publikum keine Wirkung erzielt. Allein Karl Korn würdigte das Buch in der FAZ. Vollends Der Tod in Rom (1954) wurde von der Presse überwiegend ignoriert, im Ganzen verkannt und sogar von unrettbar Verblendeten als Pornographie verketzert. Man wollte keinen Spiegel der deutschen Wirklichkeit, keine „unerbittliche Zeitanalyse“ (MRR) zur Kenntnis nehmen und deshalb wurde der Roman zum „Zerrspiegel“ erklärt: „Es erwies sich also, daß die bundesrepublikanische Öffentlichkeit für Koeppens epische Formulierungen anstößiger Wahrheiten zunächst wenig und später überhaupt kein Verständnis hatte.“ In der DDR hingegen verlief die Koeppen-Rezeption ganz anders – wenn auch mit Verzögerungen.

Frustriert wandte sich Koeppen vom Roman ab und den Reiseberichten zu. Reich-Ranicki sieht in dem auf einmal ausbrechenden Lobessturm, der über Koeppen hereinbrach, die Erleichterung des bundesdeutschen Publikums und der Literaturkritik, von dem Analytiker und Gesellschaftskritiker Koeppen „freiwillig“ befreit worden zu sein.

In seinem Aufsatz Der Zeuge Koeppen bemerkt MRR zwei Jahre später, dass Koeppen schon während der Nazizeit in seinen beiden ersten Romanen Eine unglückliche Liebe (1934) und Die Mauer schwankt (1935) auf der einen Seite mit einem „tolle[n] Besitzwunsch“ einen „Einbruch in die Seele“ der Geliebten und damit des Lebens zum Ausdruck gebracht hat, auf der anderen Seite hingegen die Vereinsamung des Künstlers mit höchsten Selbstansprüchen künstlerisch gestaltet: Die literarische Tätigkeit vollzog sich, erschwerend genug, auf dem schwankenden Boden deutscher Zustände. Koeppen hätte unter anderen politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen mit diesen Romanen eine Schriftsteller-Laufbahn beginnen können, doch seine Ablehnung des Regimes führte zu einer Schreibpause von sechzehn Jahren. Als 1951 sein bedeutender Nachkriegsroman Tauben im Gras erschien, kam es zum Fehlen der verdienten Anerkennung. Die Zufallsverortung der Menschen – ihrer Bewegungen wie der Tauben im Gras – indizieren eine Welt, die jeden Sinn entbehrt, vor allem jede – bislang überschätzte – Teleologie. Die Menschen ersticken in Konventionen, Angst, Einsamkeit, wohingegen Koeppen im Roman Das Treibhaus (1953) die Cliquenwirtschaft, Intrigen, politischen Manipulationen der Bonner Republik gestaltete und sich damit schärfste Ablehnung einhandelte. Koeppen setzt seine erzählerischen Mittel ein, „der deutschen Misere beizukommen“ (MRR): Keetenheuve, der „negative“ Held scheitert mit seinem Protest gegen die Wiederbewaffnung, mit seiner Ablehnung der Intrigenwirtschaft. In den „sarkastischen Szenen“ Koeppens entdeckt Reich-Ranicki, welcher Zeitgeist in den 50er Jahren herrschte. Auch im Tod in Rom geht es um die inneren Zustände Nachkriegs-Deutschlands. Die Eigenschaften der Protagonisten sind durch die deutsche Vergangenheit bedingt und kommen in der römischen Szenerie in schreckenerregender Radikalität zum Ausbruch. Aus der offenen Amoralität von NS-Größen wie Judejahn entsteht die getarnte Amoralität, aus dem Verbrechen wird Opportunismus. Das heißt: Die alten Nazi-Kader kooperieren mit den „neuen“ Entscheidungsträgern der Bundesrepublik. Dies 1953 dargestellt zu haben, bedeutete einen Skandal und provozierte die Entrüstung wohl vor allem derjenigen, die sich ertappt sahen, erinnerte an das bereits erfolgreich Verdrängte.

In Wahrheit, weil Dichtung (1976) erkennt Marcel Reich-Ranicki in Koeppens Jugend ein Buch, dessen literarische Qualität die – übrigens sinnlose− Frage nach dem Nutzen von Literatur zum Verstummen bringt. Selbst wenn Koeppens Jugend sich gegen Gattungsbestimmungen sperrt, will die Formel „Wahrheit, weil Dichtung“ dessen hohen literarischen Wert festhalten. Die literarische Gestaltung dieser Jugend schließt Traumata ein, die mit Isolation, Armut, Außenseitertum im Deutschland der 20er und 30er Jahre zu tun haben. Es sind Traumata, die sich nach 1945 fortschreiben, in einer Zeit, die in Jugend nicht mehr behandelt wird. Reich-Ranicki sieht in Koeppens Buch zu Recht eine „innere Autobiographie“, die aus dem romantischen „souveränen Individualismus“ des Autors gespeist wird, aus einer „paradoxe[n] Verbindung von Weltflucht und Lebenshunger“. Diese „Genuss-Flucht-Verbindung“ mag der Schlüssel für Koeppens Reiselust sein: der Enge Deutschlands entkommen und die fremden, exotischen Genüsse, die auf der Reise begegnen, mitnehmen!

Nach Marcel Reich-Ranicki sind Koeppens Erzählungen Gleichnisse für die „Einsamkeit des Individuums innerhalb der Gesellschaft und […] das ist des Außenseiters.“ Diese Grunderfahrung Koeppens teilt Reich-Ranicki mit ihm, wie sich dies deutlich an seiner Autobiographie Mein Leben festmachen lässt. Es handelt sich dabei um Reich-Ranickis Ausgrenzung zur Vernichtung im Warschauer Getto, aber auch auf anderer Ebene um den Ausschluss des Außenseiters aus der polnischen KP nach seiner Tätigkeit in London oder um die Randstellung bei der Zeit. Hier konnte er zwar erfolgreich arbeiten, durfte aber nie am internen Leben teilnehmen. Beide, Koeppen und Reich-Ranicki unterwerfen sich nicht der Konvention, der Bürgerlichkeit und Spießigkeit traditioneller deutscher Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen.

Bei Koeppen war aus dem Abscheu vor Diktatur, Reglementierung, Militär – kurz: aus seinen Erfahrungen mit dem Dritten Reich und der rechten Reaktion der „Kaisertreuen“ − schon früh eine Neigung zur Anarchie entstanden. Diese findet literarische Gestalt in Jugend, auch wenn es sich bei diesem Buch nicht um eine zusammenhängende Geschichte handelt. Jugend ist ein Text über „die Einsamkeit des Individuums innerhalb der Gesellschaft“, über „das Los des Außenseiters“ (MRR) in der nordostdeutschen Universitätsstadt Greifswald zwischen 1913 und 1925.

Koeppen durchschaute die „Verhältnisse“, doch er verwarf in Jugend die erzählerische Imitatio einer Lebenskausalität, weil er den „großen Geschichten“ (im Sinne Jean-François Lyotards) ebenso wenig vertraut wie interessengesteuerten Vorurteilsmustern. In beiden Hinsichten ist die Welt brüchig geworden. Sie bietet keine Sinn-Container mehr an, in denen man sich häuslich einrichten könnte. Ob damit generelle philosophische und logische Prinzipien hinfällig sind, ist eine ganz andere Frage. Was die literarische Seite betrifft, so hebt Reich-Ranicki zu Recht hervor, dass Koeppens literarischer Stil dem aus Fragmenten zusammengesetzten Werk Jugend die Einheit gibt. Wenn Sinnbildung schwierig wird, bleiben Epiphanien und die Schönheit der literarischen Sprache – der Erzählstil. Die aufgehäuften Fragen führen weder zu Lösungen noch zu Antworten, sondern zur Formung von Literatur. Die „Normverletzung“ der Konventionen durch die Mutter erzeugt die Rebellion des Jungen gegen die Mächte, die Mächtigen dieser Stadt, deren Borniertheit und „Wohlanständigkeit“ der junge Koeppen durchschaut:

Die Bitterkeit der Mutter schlägt beim Sohn in Aggressivität um, der Schmerz in Empörung, die Leiden in Wut und Haß. Der Junge will nicht mitmachen, er sieht „in allen möglichen Daseinsformen nur Verkleidungen“, und jede scheint ihm verwerflich: „Ich hatte mir nichts vorgenommen, nicht einmal die Ziellosigkeit; nur steuerte ich beharrlich von den anderen fort, und das war es, worauf es mir ankam.“ (MRR)

Diese Betrachtungen über das Problem von Texten und Emotionen bei Koeppen werden von Reich-Ranicki weitergeführt in dem Essay Gemein mit jedermanns Angst (1981). Hier hat er darauf hingewiesen, dass Wolfgang Koeppen nie aufgehört hat zu schreiben. Stets hat er Gelegenheitsarbeiten übernommen, ob Texte für Zeitungen, Zeitschriften, ob Vor- und Nachworte für Verlage oder Rundfunk-Essays. Reich-Ranicki selber hat Koeppen immer wieder als Autor für das Feuilleton der FAZ gewinnen können, wie schwierig dies auch oft gewesen ist. MRR unterstreicht, dass Koeppens Kunst nicht nur aus reichen Bildungsquellen schöpft, sondern ebenso sehr vom Leben ausgeht, von den Gefühlen, Ängsten der Menschen, von Schönheit und Schrecken.

Ein Schlaglicht auf Koeppens Aufsätze zur Literatur und zu Schriftstellern zeigt schnell, dass sie weder Analysen noch Kritiken sind, sondern die Arbeiten eines Berichterstatters, der Bücher und Autoren beobachtet. Dies tut er als ein Literatur-Verliebter, „den die Liebe nicht blind macht“ (MRR). Koeppen hat sich diese „kritische Liebe“ nicht abkaufen lassen, er ist dem gesellschaftlichen Leben nicht erlegen, er vermochte Distanz auszuhalten und brauchte sie auch. Für MRR bleibt Koeppen daher der Weise, ein „professioneller Literat, der das literarische Leben konsequent meidet.“ Und doch: „Die Artikel noch des siebzigjährigen Koeppen lassen neben einer umfassenden und vielseitigen Bildung sein temperamentvolles, sein bisweilen jugendlich anmutendes Engagement erkennen.“ Koeppen geht es als Romancier, Erzähler und Essayist um eines – um Präsenz: „Er will literarische Gegenstände sichtbar und spürbar und ihre Urheber verständlich machen.“ (MRR) Das erreicht er mit seinem Stil, der auf den Leser Stimmungen zu übertragen vermag, Synästhesien, einmalige Bilder: Farben, Klänge, Formen, Empfindungen, Situationen und Gedanken. Koeppens Texte liefern ausgezeichnete Beispiele für Präsenz, eine Konstellation, wie sie Hans Ulrich Gumbrecht 2011 in seinem Buch Stimmungen lesen so beschrieben hat:

… ich [versuche] hervorzuheben, dass die Dinge schon immer und gleichzeitig mit dem unwillkürlichen Habitus der Sinnzuschreibung auch in einem Verhältnis zu unserem Körper stehen. Ich nenne dieses Verhältnis „Präsenz“. Wir können Dinge berühren oder nicht, umgekehrt mögen die Dinge uns berühren und werden als „bedrängend“ oder „leicht“ wahrgenommen. Stimmungen, so wie ich sie beschrieben habe, Stimmungen unter Einschluss einer physischen Schicht der Phänomene, gehören zweifellos zum präsentischen Teil der Existenz und schreiben sich in ihre Artikulationsformen auf der Ebene ästhetischer Erfahrung ein.

Koeppens Texte transportieren Stimmung, die sich auf den Leser überträgt, aber sie verraten, geschweige denn: propagieren weder Methode noch Theorie. Und doch war Koeppen philosophisch sehr belesen, am meisten beeindruckt von Schopenhauer, mehr als von Nietzsche, wie er in dem bekannten Fernseh-Interview von 1986 aus der Reihe Zeugen des Jahrhunderts gegenüber MRR äußerte. Im Ganzen sieht MRR Koeppens Texte als Füllhörner für den Leser, die diesen mit reichen Gaben überschütten: mit Auskünften, Impressionen, Zitaten, Reflexionen, Beispielen, Erinnerungen, Momentaufnahmen und Schilderungen. Alle diese Elemente sind die Mosaiksteine für ein Ganzes: für einen Koeppen-Text.

Was Koeppen Flauberts Reisetagebuch aus Ägypten zuspricht, gilt auch für sein Schreiben: Es bietet, wie Reich-Ranicki formuliert, „Wahrheit, die sich einem Empfindsamen einprägt.“ Koeppens Essays sind „belehrende sachliche Rapporte und zugleich suggestive Visionen.“ Koeppen ist also „Meister der sinnlichen Vergegenwärtigung.“ Sehr wichtig erscheint Reich-Ranicki die Kontextualisierung in Koeppens Essays. Sie berücksichtigen Umwelt und Voraussetzungssysteme oder mit MRR zu sprechen: Koeppens Essays können Auslassungen über Isolierte sein, doch zeigt er Menschen stets im Kontext, den er kennt oder über den er sich umfassend und intensiv informiert. Er kennt jeweils den „historischen, gesellschaftlichen und kulturgeschichtlichen Hintergrund.“ (MRR) Er tritt in dieser komplexen Weise für Ausgegrenzte und Nonkonformisten ein:

Immer gilt seine Liebe den Nichtdazugehörenden, die sich überall fremd fühlen, den Nonkonformisten, die ihren Platz nicht finden können und meist auch nicht finden wollen, den frommen Sündern und den gefallenen Engeln, den Siegern, die leer ausgehen und unglücklich bleiben, und den Besiegten, deren Werk schließlich doch triumphiert, wenn auch oft erst nach ihrem Tod.

Reich-Ranicki betont auch Koeppens Distanz zu den großen Schriftstellern, seinen Respekt vor ihren Leistungen und sein Verständnis für menschliche Abgründe und Leidenschaften sowie für ihre Abstürze, das Scheitern an Mächten und Kräften der Gesellschaft und ihren Ideologien, vertreten durch die Angepassten, die Neidischen und die Aggressiven. Damit ist Koeppen nie ein blinder Verehrer von Größe gewesen, weil er die Gefahren sieht, die immer mit ihr verbunden sind.

In seinem Essay Der Dichter der aggressiven Resignation (1982) zeichnet MRR ein Bild von Koeppen weiter, das bereits von ihm angelegt ist. Ungeachtet seiner Skepsis gegenüber der Welt und seiner Schopenhauerischen Verhaltenheit bleibt Koeppen selbst im Resignieren kämpferisch. Dichter und Philosophen vermögen über den Zeitpunkt ihrer Aussagen hinausgehend, Allgemeines über den Menschen auszusagen. Ebenso können persönliche Bekenntnisse von Autoren allgemeine Relevanz vermitteln. Für Marcel Reich-Ranicki ist Koeppens Werk von Anfang an Konfession, somit auch Selbstdarstellung. Vor allem in Jugend verteidigt sich Koeppen gegen seine Lebens-Kontexte, gegen die deutschen Konventionen, deren Gefährlichkeit auch im Spießertum latent ist und gegen die kollektive reaktionäre Verbohrtheit in der Provinz, gegen das Klassendenken, gegen den Hochmut der bürgerlichen Welt im Angesicht von Armut und Abhängigkeit. Der Knabe und der junge Mann Wolfgang Koeppen stellten sich gegen Greifswald und die Greifswald-Welt – und Greifswald war und ist doch überall: „Ich wollte ausgestoßen sein.“

Der erwachsene Koeppen hatte es nicht nötig, absichtlich gebeugt zu gehen. Er brauchte keinen Buckel mehr. Er hatte andere Möglichkeiten, seine Leiden zu kompensieren, seine Ablehnung der Welt zu artikulieren. Denn er konnte schreiben. Aber die Situation des unehelich geborenen Knaben in jenem Vormundschaftsgericht ist und bleibt die Grundsituation der Epik Wolfgang Koeppens, zu der übrigens auch seine Reisebücher gehören und auch seine Aufsätze über Schriftsteller. (MRR)

Koeppens Figuren stehen vor vielen Türen, finden jedoch keinen Ausweg. Sie sind – wie die Helden Franz Kafkas − Angeklagte ohne Anklageschrift, einer feindlichen Welt ausgeliefert. Da ist die Unbegreiflichkeit der Welt (schon in den ersten Romanen bei Friedrich und Johannes von Süde) verbunden mit der Flucht vor dem Ungewissen und Unüberschaubaren, vor der Rätselhaftigkeit und Sinnlosigkeit.

Koeppens Figuren kommen um das Ausgestoßensein nicht herum. Es geht immer um die „Suche nach dem verlorenen Ich“ (MRR) – auch in den Reisebüchern. Koeppen ist ein Dichter des Chiaroscuro, des Nicht-Schwarzen und des Nicht-Hellen, ein Dichter der Dämmerung, der Schatten. Dass MRR eine Affinität Koeppens zur Romantik entdeckt, verwundert nicht, hat doch Koeppen immer wieder auf Caspar David Friedrich verwiesen. Die romantische Neigung führt hinter oder unter die Rationalität: Da gibt es Räume des Unbestimmbaren, „Grenzbezirke“, „Abgründe des Daseins“, Kräfte und Mächte, derer man nicht Herr wird. Wer könnte auch sonst solche Zeilen schreiben wie Koeppen über die Droste: „…ihre Lyrik hatte schon die Farben des Delacroix und zugleich den artistischen Kniff, das starke Rot verblassen zu lassen zu nichts. Darum erschrecken die Lehrer und Schüler beim Lesen solcher Gedichte und stecken den Kopf in den Sand, der zu Hause und nicht in der fernen Wüste liegt.“

Es gibt Gezeichnete wie Wolfgang Koeppen und Marcel Reich-Ranicki, die heimatlos sind und in der Literatur „Schutz und Zuflucht“ suchen. Und so erklärt sich, dass Koeppen und „sein Kritiker“ „geborene Leser“ sind, unersättlich, Bildungsschätze ohnegleichen anhäufend. Koeppen gibt keine Patentratschläge zur Verbesserung des Lebens in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist in umfassender Weise engagierter Schriftsteller, der allein ist, frei, sich keiner Ideologie verpflichtet fühlt, sondern allein dem Humanum des eigenen Innern und der Literatur. Skepsis und Resignation sind dabei nicht fern. Wie erwähnt, bewunderte Koeppen Schopenhauer mehr als alle anderen Philosophen, mit denen er sich befasst hatte. MRR hat ihn den Poeten der „Aggressiven Resignation“ genannt, der „die dunkle Ahnung von der großen Vergeblichkeit“ zum Ausdruck bringt, aber doch die Feier des Augenblicks zulässt, die Schönheit, die Epiphanien.

Marcel Reich-Ranicki hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Koeppen in der romantischen Spannung lebt und schreibt, in der Paradoxie der „romantische[n] Verbindung von Weltflucht und Lebenshunger“. Nichts Menschliches ist Koeppen fremd: „Was diesen Erzähler schaudern läßt, fasziniert ihn zugleich. Er möchte sich von der Welt abwenden und sie dennoch genießen.“ In Koeppens Protest gegen die Existenz – man könnte die ganze Sequenz der Existenzphilosophie von Kierkegaard bis Sartre hier beleuchten – sieht MRR zugleich ein Bekenntnis zu den Schönheiten des Daseins – dies ist eine paradoxe Konstellation oder gar eine dialektische Verquickung.

Den Aspekt Koeppenscher Schreib- und Denkweise, sich stets für die Außenseiter und Benachteiligten zu engagieren, hat Marcel Reich-Ranicki in seinem Essay Der Sprecher aller Minderheiten (1986) weiter ausgelotet. In diesem Zusammenhang äußert sich MRR über die Medien (Rundfunk, Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen) unbeirrbar negativ, wenn dort ständig kolportiert wurde, Koeppen sei als Autor verstummt. Nichts davon ist wahr: Koeppen hat zeitlebens geschrieben und publiziert. Das Nebeneinander von Anarchie (schwarze Fahne) und Niederlage (weiße Fahne) war bereits in Koeppens Jugend schicksalhaft. MRR kommt noch einmal auf Koeppens so wichtiges Buch Jugend aus dem Jahr 1976 zurück:  Es thematisiert eben Koeppens Beschädigung in seiner Jugend, seine Wahl des Außenseitertum, nachdem er sozial zum Deklassierten gemacht worden war. Aus dieser Konstellation entsteht sehr früh Koeppens Liebe zu den „Anderen“, den Verfolgten, Beleidigten, Benachteiligten. Ich sehe hierin auch einen Grund für Koeppens Nähe zu Marcel Reich-Ranicki, waren doch beide Einzelgänger, Verfolgte, Koeppen als Antifaschist und Anarchist, Marcel Reich-Ranicki als polnischer Jude und damit Verfolgter der Nazis, in Deutschland lebend, dann deportiert ins Warschauer Getto und dort auf Haaresbreite dem Tode entgangen.

Für Reich-Ranicki ist Koeppens  Jugend (1976) „das Meisterwerk seiner späten Jahre, das vollendete Fragment [….], eines der Glanzstücke unserer zeitgenössischen Prosa.“ MRR sieht in der erwähnten Beschädigung des jungen Koeppen die Keimzelle seiner Epik. Die Diskriminierung „in der dumpfen, der engstirnigen Welt einer wilhelminischen Kleinstadt“ (MRR) bringt eine negative Sinndimension hervor, die das deutsche Trauma der Autoritätshörigkeit und seiner Konsequenzen in einer nie dagewesenen Weise literarisch gestaltet. Koeppens Ablehnung der Enge, Engstirnigkeit, Ressentiment und Rassenwahn, Nationalismus – und schließlich Nationalsozialismus hat in seinem Jugend-Schicksal den Keim empfangen, in Jugend höchsten literarischen Ausdruck gewonnen.

Die Einsamkeit und die Bitterkeit, die er in seiner Jugend erfahren hatte, [….] hat er nie überwunden. So wurde er zum Dichter der Verfolgten und der Gezeichneten, wenn nicht der Verlorenen, zum poetischen Sachwalter aller Minderheiten – von den Juden bis zu den Homosexuellen.

Wenn Koeppen, wie MRR richtig bemerkt Der Sprecher aller Minderheiten (1986) war, so heißt das auch, dass er nie für ein Massenpublikum schrieb und damit allgemeine Popularität zu erwerben suchte: „niemals wollte er Bestseller produzieren“ (MRR). Bereits mit seinen beiden ersten Romanen ging Koeppen − was Erfolg und Anerkennung betrifft− leer aus. Einerseits entsprach seine Literatur nicht den „Kultur“-Tendenzen der Nazis, andererseits war es hinderlich, dass beide Romane im jüdischen Verlag Bruno Cassirer erschienen, der vor dem Dritten Reich zu den besten Berliner Häusern gehörte. Cassirer-Bücher durften nicht in Schaufenstern ausgestellt werden.

Wie erwähnt, ging Koeppen 1934 nach Holland. Dort schrieb er Die Mauer schwankt, einen Roman, der eine Diktatur auf dem Balkan beschrieb. Diese ließ sich leicht auf deutsche Verhältnisse übertragen, doch die Nazis haben dies – zu Koeppens Glück − nicht erkannt. Die Emigranten in Holland ihrerseits misstrauten Koeppen, weil er in Nazi-Deutschland publizierte, und die Behörden in Berlin zweifelten an seiner „Linientreue“ gegenüber dem Dritten Reich. So saß Koeppen zwischen allen Stühlen: ohne Arbeit, auf die Hilfe seiner nach Holland emigrierten Freunde angewiesen, die alsbald nach Amerika gingen. Dieser Verlust war es – zusammen mit dem drohenden Einmarsch der deutschen Truppen −, der Koeppen zwang, nach Deutschland zurückzukehren. Dies ist vielfach als Akzeptieren des NS-Regimes missverstanden worden, vielleicht auch deshalb, um einen Antifaschisten seiner kritischen Stimme zu berauben.

MRR zitiert im Blick auf Koeppen dessen Romanfigur Philipp aus Tauben im Gras: „Ich drückte mich durch die Diktatur, ich haßte aber leise, ich haßte aber in meiner Kammer, ich flüsterte aber mit Gleichgesinnten“. Koeppen war nie Soldat. Im Interview von 1986 mit MRR berichtet er, wie er 1943 untertauchte. Er überstand den ersten großen Luftangriff auf Berlin im Luftschutzbunker U-Bahnhof Nollendorfplatz. Der Westen stand in Flammen und doch versuchte Koeppen, zu seiner Wohnung zu gelangen. In der Bleibtreustraße traf er seinen „Jugendkollegen“ Arthur Maria Rabenalt, der zwei Köfferchen trug. Von ihm erfuhr er, dass das Haus, in dem Koeppen gewohnt hatte zerstört war. Im Keller waren alle Bewohner umgekommen. Da beschloss Koeppen, seine „Nichtexistenz“ zu nutzen, um zu verschwinden und das Ende der Nazizeit im Untergrund abzuwarten. Die Zeit, die sich nun anschloss, war von Arbeitsknappheit und Mangel gekennzeichnet. Es gab einige, aber zu wenige literarische Gelegenheitsarbeiten. Zudem scheiterte Koeppen mit dem Projekt, einen Unterhaltungsroman für eine Illustrierte zu schreiben. MRR kommentiert:  „einem Künstler, einem wirklichen, fällt es schwer, sich zu prostituieren.“

Durch den Anstoß des Verlegers Henry Goverts wendet sich Koeppen wieder der Literatur zu. Es entsteht die berühmte Deutschland-Trilogie, von der MRR sagt: „man [hat sie] meist kühl aufgenommen und nicht selten schroff abgelehnt“. Niemand wollte in den Spiegel sehen, den Koeppens Romane den Deutschen vorhielten, keiner wollte in der Zeit zurückblicken. Die verdrängende Sicht nach vorn führte dazu, dass besonders der Roman Tauben im Gras verkannt wurde, für den Marcel Reich-Ranicki die treffende Kennzeichnung schlechthin benutzt: „Höhepunkt der Nachkriegsliteratur“. Wie bereits erwähnt, beruhigte sich das Publikum über Koeppen erst, als er sich der Reiseschilderung zuwandte. Der Blick dieses so exakten wie poetischen Beobachters ging nun nach außen – welche mutmaßliche Erleichterung für die Deutschen und ihre finstere Geschichte.

Zum 85. Geburtstag Wolfgang Koeppens im Jahre 1991 hielt Marcel Reich-Ranicki eine Rede im Münchner Rathaus mit dem Titel Der empfindsame Asphaltliterat. Hier fasst er noch einmal Koeppens Bedeutung für die deutsche Literatur zusammen, verbindet all das aber auch mit einem persönlichen Bekenntnis zu Koeppen. Es ist immer wieder darüber geschrieben worden, dass Koeppen nie mit seinen Texten zufrieden war: Stets hielt er sie für unfertig, wollte sie nicht aus der Hand geben, um sie erneut zu überarbeiten. Und: „…unter keinen Umständen ließ sich Koeppen überreden, ein Manuskript abzuliefern, das er für unfertig hielt“. Dafür finden sich deutliche Belege in seinem Briefwechsel mit Siegfried Unseld sowie in einem wichtigen Text von Ulla Berkéwicz über Wolfgang Koeppen. Marcel Reich-Ranicki hat daher wie Siegfried Unseld die Erfahrung gemacht, dass Koeppens Terminzusagen, Manuskripte abzugeben, höchst unzuverlässig waren. So nimmt es gar nicht Wunder, dass MRR in seinen Briefen an Koeppen immer wieder die Zusendung von Artikeln für die FAZ anmahnt. Seine Briefe erschöpfen sich aber nicht in diesen Mahnungen. Bezeichnend dafür und ein wenig grotesk ist, wie MRR diese Zögerlichkeit benennt: „Unzuverlässigkeit und Verantwortungsgefühl gehen bei ihm Hand in Hand.“ Beide – Reich-Ranicki und Unseld – haben Koeppen nie fallen gelassen und ihn immer wieder unterstützt.

Für Marcel Reich-Ranicki ist Koeppen nicht durch die kleinen Städte geprägt, in denen er geboren wurde und aufwuchs (Greifswald, Ortelsburg), weil er − wie Eulenspiegel – auf Wanderschaft ging,  hierhin und dorthin: „Er kann nicht recht Fuß fassen, er paßt in keinen Rahmen, so ganz willkommen ist er wohl nirgends, er ist überall“. Zielpunkt und Endstation der Koeppenschen Odyssee – for the time being – ist Berlin mit dem Asphalt der Weltstadt. Koeppen sucht und trifft Boheme und Künstlertum im Romanischen Café:

Hier, [….], durfte er den Dichtern und Philosophen lauschen, den Malern und Schauspielern zuhören, hier sah er den berühmtesten aller Reporter, Egon Erwin Kisch aus Prag, hier erhitzten sich im Gespräch jene, die glaubten, „Zukunft zu haben oder wenigstens Dauer der Gegenwart.“ (MRR)

Das Romanische Café blieb für Koeppen zeitlebens das Zeichen der großstädtischen Literatur-, Künstler- und Intellektuellenwelt, Keimzelle des Schreibens, auch seiner literarischen Tätigkeit. „Asphaltliteratur“ galt den Nazis als Schimpfwort, Koeppen aber verband damit einen besonderen Reiz und den exemplarischen Ort literarischer Produktivität. Marcel Reich-Ranicki liefert die Begründung für seinen und für Koeppens Focus, für die Identifikation mit der Großstadt:

Denn die Literatur war und ist in der Regel auf die städtischen Kulturzentren angewiesen, auf Athen oder Rom, Paris oder Petersburg, London oder eben Berlin. Die Schriftsteller der Moderne – Proust und Kafka, Joyce, Dos Passos und Virginia Woolf – sind allesamt Großstadt-Produkte. Und das gilt für Koeppen gleichfalls: Wie Brecht und Döblin, wie Benjamin, Kerr und Tucholsky wurde auch er von Berlin nicht nur beeinflusst, sondern geradezu erzogen, Die Stadt Berlin hat ihm für immer ihren Stempel aufgedrückt, Berlin war, [….] seine „endlich akzeptierte Heimat.“

Und weiter:

Die Prägnanz seiner Ausdrucksweise, der Rhythmus seiner Sprache und ihr Tempo, die Promptheit seiner Reaktionen, diese nicht nachlassende Gier nach Neuigkeiten, diese, könnte man sagen, Zeitungssucht und, nicht zuletzt, die Begeisterungsfähigkeit, die immer von Skepsis relativiert und kontrolliert wird – das alles hat mit Berlin zu tun.

Für MRR blieb Koeppen „der empfindsame Asphaltliterat“ und zeitlebens ein Heimatloser, selbst in seinen langen Münchner Jahren. Erst spät wurden diesem Autor öffentliche Ehren zuteil, aber, so MRR, „er hat das Glück gehabt, den besten und großzügigsten Verleger zu finden, den er hierzulande finden konnte: Siegfried Unseld.“

Auch Koeppen selbst betrachtete sich als heimatlos. Er wollte nicht Mitglied einer Gruppe sein, weder einer Sozietät noch einer Partei angehören. So stand er etwa der Gruppe 47 wohlwollend bis neutral gegenüber, folgte jedoch nicht den Einladungen. Koeppen war für die Öffentlichkeit und die Medien nicht „verfügbar“. Er lässt sich nicht mit Schriftstellern wie Böll, Grass oder Walser vergleichen. MRR sieht Koeppen zu Recht eher in der Nähe zu Arno Schmidt und zu Thomas Bernhard. Uwe Johnson war Koeppen nicht unsympathisch.

Koeppen sah sich als linker – und damit als engagierter – Schriftsteller. Er behielt stets seine kritische Einstellung zu den – zumeist angemaßten – Normgebern und ideologischen „Menschheitsvergatterern“ bei und plädierte folglich für die Freiheit des Denkens, des individuell verantwortlichen Handelns. Dies schloss selbstverständlich eine Position ein, welche die Freiheit der Kunst für unabdinglich hält. Koeppen hatte – wie schon erwähnt – nie etwas übrig für Vereine, kollektive Gruppierungen, Militär, Indoktrinationen und Parteizwang. Die Terrorisierung der Menschen unter der Nazi-Herrschaft hatte seine literarische Tätigkeit weitgehend zum Erliegen gebracht. Diese kritische und skeptische Einstellung Koeppens bringt Marcel Reich-Ranicki auf den Punkt:

Er mißtraut dem Staat, er zweifelt an der Erziehbarkeit des Menschen, die Idee des Fortschritts ist in seinen Augen absurd, die Vorstellung von einer gerechten oder gar perfekten Gesellschaft kennt er nicht. Die streng-nüchternen Maßstäbe der Preußen sind ihm ebenso fremd wie deren Vertrauen zur moralischen Wirkung der Ordnung, wie der Mythos der Pflichterfüllung. Die Verherrlichung des Staates ist ihm nachgerade zuwider.

Koeppen bleibt skeptisch gegenüber der Gesellschaft der Bundesrepublik, er führt seine Skepsis aber noch einen Schritt weiter: Sein Fragen bezieht sich auf Sinn überhaupt und damit wird die Existenz schlechthin problematisch. MRR bezieht sich auf Shakespeares berühmte „Bestimmung“ des Lebens in Macbeth:

Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn‘ und dann nicht mehr
Vernommen wird; ein Märchen ist’s, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet. −

So verwundert es nicht, wenn Koeppens Romanfiguren an Grundsatzfragen stoßen, die durchaus von Shakespeares Bühnenmetaphorik beleuchtet werden könnten. Wir haben es mit modernen Helden zu tun, den „Helden der Schwäche“, Träumern wie Friedrich, Philipp und Keetenheuve, die in Entscheidungen und im Handeln zögern. Sie sind vom Stamme Hamlets, Figuren, die Georg Lukács „negative Helden“ genannt hat.

Ebenso wie Koeppen in seinen Romanen den fragilen, „negativen“ Held in seinem Erzählnetz platziert und damit ideologisch gefassten „Heroismus“ diskreditiert, zeichnet sein Menschenbild Figuren jenseits des von der Leistungsethik geprägten Fortschrittswahns. Es ist damit implizit durchaus an die negativen Folgelasten der Moderne gedacht. Hier lässt sich – wenn auch keineswegs explizit – eine sachliche Nähe zu den soziologischen Reflexionen Max Webers vermuten. Hatte doch Max Weber deutlich zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik unterschieden. Letzterer entspricht durchaus die kalvinistisch geprägte Leistungsethik. Reich-Ranicki deutet in seinem Essay Der empfindsame Asphaltliterat an, dass Koeppen die Verantwortungsethik favorisiert. Er weist darauf hin, dass Koeppen kein Vertrauen „zur moralischen Wirkung der Ordnung“ besaß und auch den „Mythos der Pflichterfüllung“ ablehnte.

Ebenso kritisch wie zur Gesinnungsethik war er zum klassischen Humanismus christlicher Prägung eingestellt. Der Dichter Edwin, der in Tauben im Gras nach München kommt, um dort die Werte des Humanismus vorzutragen, scheitert an der Schwierigkeit, überhaupt noch Sinn zu konstituieren. Für Koeppen sieht die Welt dunkel aus. Das Leben ist nur ein Hauch mit epiphanischen Momenten, umgeben vom Unbekannten:

Pechschwarz ist die Trauer der Koeppenschen Helden der Schwäche, schwarz wie die Fahne der Anarchie, doch Leid und Gram mischen sich bei ihnen mit Daseinsfreude, einer schwermütigen zwar, aber einer dennoch intensiven. Sie genießen die Kunst und den Wein, die Literatur und die Melancholie, sie genießen ihre Einsamkeit und ihre Enttäuschungen, ja sogar ihre Niederlagen [….] Auch sie möchten zum Augenblick sagen: Verweile doch, du bist so schön! (MRR)

MRR stellt am Ende seiner Rede noch einmal einen Bezug Koeppens zur deutschen Vergangenheit her. Er tut dies vermittels einiger Betrachtungen zum Roman Der Tod in Rom, in dem Koeppen Mitleid, Ironie und die Situation des Opfers miteinander verknüpft hat. Juden in Deutschland nach 1945 werden schon in Tauben im Gras als „märchenhafte“ Gestalten dargestellt, als Übriggebliebene, die im Schutt des zerstörten Deutschland versuchen, wieder einen Anfang zu finden, Geschäfte zu machen, das Überstandene zu überstehen, weiter zu machen, neu anzufangen und in den Lücken, den Resten der Vergangenheit Möglichkeiten wahrzunehmen:

In ihnen, diesen hergewehten Juden, die mit ihrem geretteten Leben nichts besseres zu beginnen wußten, sieht Koeppen leidende Geschöpfe unserer Welt. Was sie, die vorwurfsvoll Blickenden mit den anderen Figuren auf seiner epischen Bühne vereint, ist nichts anderes als Angst und Hunger: Angst vor dem Leben und Hunger nach dem Leben. (MRR)

Ein wichtiges Dokument, das über die menschliche und literarische Beziehung der beiden Männer interessante Auskünfte gibt, ist ihr Briefwechsel. In den Briefen beider Schreiber ist stets Dezenz und wechselseitiger Respekt deutlich spürbar – und doch sind sie Zeugnisse persönlicher, menschlicher Nähe. Reich-Ranicki war vierzehn Jahre jünger als Koeppen und ist in bürgerlichen Verhältnissen groß geworden, bis die Welle der nationalsozialistischen Judenverfolgung ihn mit ihrem ganzen Schrecken aus einer Welt der Sicherheit herausriss. Wie erwähnt, hat Koeppen das NS-Regime stets abgelehnt und ist vor den Nazis geflohen, später in den Untergrund gegangen. In Jugend (1976) und in Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch (1992) liegt Koeppens Haltung unverkennbar zutage.

Koeppen und MRR – beide kennen Persönlichkeit und Lebensschicksal vom jeweils anderen, aber sie berühren dieses Thema kaum oder zumindest sparsam. Beider Biographien haben etwas mit diesem wechselseitigen Verstehen oder Einverständnis zu tun. Was beide verbindet, ist die große und „notwendige“ Liebe zur deutschen Literatur, eigentlich zur Weltliteratur und damit plädieren sie für die Freiheit der künstlerischen Kreativität, die keine Unterdrückung, Verfolgung, Repression, Intoleranz, Spießigkeit verträgt. Es ist erstaunlich, dass der Altersunterschied zwischen Koeppen und MRR im Verlauf der Jahre des Kennens und der Zusammenarbeit an Bedeutung verliert. Davon zeugt auch der Briefwechsel zwischen beiden, dem ich an anderer Stelle eine gesonderte Betrachtung widme.

Zur Beziehung zwischen Reich-Ranicki und Koeppen hier nur noch wenige abschließende Bemerkungen: In einem kleinen Text von 1980 bezieht sich Wolfgang Koeppen geradezu radikal auf Marcel Reich-Ranicki:  „Er schreibt über mich, also bin ich.“ Damit drückt er mit voller Absicht aus, dass er seine literarische Gestalt und öffentliche Sichtbarkeit in großem Maße Marcel Reich-Ranicki zu verdanken hat. In eben diesem Sinne beendet Koeppen auch diesen Text mit den Worten: „Marcel Reich-Ranicki wird mich nicht retten. Ich staune, daß er es versucht. Da er die Literatur liebt und für sie kämpft, bin ich verführt, zu glauben, daß ich bin.“

Marcel Reich-Ranicki hat diesen so außerordentlichen Schriftsteller immer gestützt, sich für ihn eingesetzt, weil er ihn und seine Kunst verehrte: „Vor diesem Schriftsteller, vor Wolfgang Koeppen, verneigen wir uns – in Bewunderung, in Dankbarkeit, in Liebe.“

Wenn ich mich am Ende nochmals frage, was es denn mit der Beziehung dieser beiden Literaturliebenden, dem Konnex zwischen dem Dichter Wolfgang Koeppen und dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki auf sich hat, so ist für die Antwort ein Blick in Reich-Ranickis Autobiographie hilfreich. In ihr hat er nur einem einzigen Schriftsteller ein ganzes Kapitel gewidmet und dies ist Wolfgang Koeppen.

Auch wenn ich eine allseits befriedigende Definition der Beziehung beider Männer nicht zur Hand habe, lässt sich der Vorsicht beider ungeachtet doch davon sprechen, dass hier Freundschaft im Spiel war. Wie man diese Freundschaft nun auf den Begriff bringen soll, das habe ich nicht herausgefunden. Ich möchte Marcel Reich-Ranicki das Schlusswort lassen, den letzten Satz nämlich, den er im Koeppen-Kapitel seiner Autobiographie schrieb: „Als ich am 21. März 1996 auf dem Nordfriedhof in München dem Sarg Wolfgang Koeppens folgte, wußte ich, daß ein großer Abschnitt meines Lebens beendet war.“

Hinweise der Redaktion: Der Beitrag ist die (u.a. um die Fußnoten) gekürzte Fassung des Kapitels „Koeppens Reich-Ranicki“ aus dem noch unveröffentlichten Buch-Manuskript von © Jürgen Klein: Dialog mit Koeppen (2016). Eine erweiterte Ausgabe der 1996 im Ammann Verlag als Buch zusammengestellten Artikel Reich-Ranickis über Koeppen erscheint im Juli 2016 im Verlag LiteraturWissenschaft.de. Die bisherigen Vorarbeiten dazu sind für unsere Online-Abonnenten als Sonderausgabe von literaturkritik.de zugänglich.