Fruchtbringende Spannungstöne

Dichtung und Universität in der Frühen Neuzeit

Von Jörg WescheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Wesche

Menschliche Unwissenheit

Wie sehr der Mensch nach Wissenschaft verborgner Dinge ringt,
So bleibt ihm doch unzählig viel, davon er sagt: mich dünkt.
(Friedrich von Logau)

Der gnomische Zweizeiler des schlesischen Dichters Friedrich von Logau, der mit seinen mehr als dreitausend ‚Sinngedichten‘ zu den bekanntesten Epigrammatikern der Barockzeit zählt, markiert die Ambivalenz, die das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit charakterisiert. Zum einen ist Dichtung konstitutiv an Gelehrtenkultur gebunden; zum anderen gedeiht die Gelehrtenkritik des 16. bis 18. Jahrhunderts gerade auf dem Feld der Poesie. Auf beiden Seiten spielt die Institution der Universität eine wichtige Rolle. Ein bedeutendes Sujet oder viel genutzter Schauplatz der Literatur ist sie allerdings nicht, auch wenn Ereignisse wie die Promotion nach der zeitgenössischen Logik der Gelegenheitsdichtung natürlich Anlass zu entsprechender poetischer Produktion geben, mancher Stammbucheintrag universitäre Spurenelemente enthält, das Genre der studentischen Trink- und Tabakslieder bekannt ist oder eben die frühneuzeitliche Gelehrten- und Wissenschaftssatire verbreitet ist.

Versucht man die komplexen, sich über drei Jahrhunderte wandelnden Zusammenhänge zu überschlagen, ist zunächst der Humanismus die epochemachende Bewegung. Wiedergeburt des Alten und rasante Akkumulation neuen Wissens treffen zusammen; ihre Synthese begründet eine produktive Antikentransformation, die auch die frühneuzeitliche Dichtung prägt. Maßgeblich für die Durchsetzung des neuen humanistischen Bildungsprogramms (Studia humaniora) ist die Herausbildung eines altsprachlichen Kanons, an dem auch die mit viel kulturpatriotischem Ehrgeiz aufgeladene deutsche Literatursprache um 1600 geschult ist. Wähnen sich die deutschen Humanisten, denen überhaupt an der Förderung einer muttersprachlichen Dichtung gelegen ist, im Vergleich zu den selbstbewussten Kulturnationen wie Frankreich, Italien, Spanien oder den Niederlanden im Hintertreffen, kommt eine Dichtungsreform in Gang, welche an den anerkannten metrischen Gepflogenheiten im (Neu-)Lateinischen orientiert ist. Im Sinn einer Pluralisierung dichterischer Autorität übernimmt sie ihre Mustertexte sowohl aus dem humanistischen als auch romanischen Formenbestand.

Logaus Epigramm ist hierfür ein Beispiel der Dichtungspraxis. Auf der einen Seite steht der Rückgriff auf eine antike Gattung und die jambische Regulation nach der lateinischen Fußmetrik, auf der anderen das romanische Versmaß des Alexandriners mit dem im Lateinischen fremden Endreim.

Dichtungstheoretisch vertritt diese amalgamierende Dichtweise bekanntlich Martin Opitz im berühmten Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Den humanistischen Bezugshorizont dieses „vorbarocken Klassizismus“ (Richard Alewyn) markiert vor allem Julius Caesar Scaligers Poetik Poetices libri septem (1561), der Opitz viele seiner Regeln entlehnt.

Die Konstellation steht dabei beispielhaft für die Verschwisterung von Dichtung und Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit: Rhetorik und Poetik werden buchstäblich als „Schwesterkünste“ angesehen; erstere regelt das Reden in ungebundener, letztere das in gebundener Sprache. Als Poesie gilt nur das Dichten in Versen. Die Poetik ist als Teilgebiet der Rhetorik neben der Dialektik und Grammatik thematisch im Trivium der Artes liberales verankert. Auf diesem Weg ergibt sich der institutionelle Brückenschlag in die untere Fakultät der Universitäten, wobei das humanistische Bildungsprogramm von dort aus gezielt bereits in den Schulen oder der Privaterziehung Breitenwirkung entfalten soll. Es ist ein sämtliche Lebensbereiche erfassendes Kultivierungsprogramm, als dessen Zentrum sich die Universität – noch eine beschränkte Männerwelt – entwirft.

Tragende Säulen der gesellschaftlichen Ausbreitung von Universitäts- und Wissenschaftskultur sind zudem Gelehrtensozietäten wie die neuen Akademien (Accademia della Crusca in Florenz, 1582; Akadémie française in Paris, 1635; Leopoldina in Schweinfurt, 1652; Royal Society in London 1660 usw.) sowie die zahlreichen Sprach- und Dichtungsgesellschaften. Gerade im deutschsprachigen Bereich sind sie im 17. Jahrhundert zahlreich und als Durchsetzungsinstrument einer neuen ‚poesiefähigen‘ Muttersprache wichtig. Die Mitgliedschaft in der unter fürstlicher Ägide stehenden Fruchtbringenden Gesellschaft ist unter den gelehrten Barockpoeten das begehrteste Objekt.

Selbstbewusst mobilisiert die bürgerliche Gelehrtenschicht auf solchen Wegen nicht zuletzt die Ständehierarchie und erdenkt sich mitunter Adelsallianzen auf Augenhöhe. Das Ideal erstrebter und verdienter Selbstautorisierung stützt den hohen Anspruch des allseits beschlagenen poeta doctus. Dazu wird das ‚Amt des Poeten‘ von universitärer Seite programmatisch aufgewertet. Wirkungsmächtige Vorlesungen hält z.B. in Wittenberg August Buchner, dessen Dichterapologie Poet 1665 posthum erscheint. Zugleich ist der rhetorisch gelehrte Dichter als vir bonus ethisch verpflichtet, sein Werk unterliegt den unbedingten Maßstäben christlicher Moraldidaxe. Gleichsam als neuzeitliche Lichtgestalten bringen Cambridge oder Oxford indessen auch freiere Geister wie die ‚University wits‘ hervor (u.a. John Lyly, Christopher Marlowe), die als Wegbereiter des Shakespeare-Theaters gelten.

Scheint die bis zu Arno Schmidt im utopischen Genre auch literarisch verhandelte Gelehrtenrepublik (res publica literaria) im 18. Jahrhundert beinahe in greifbarer Nähe – im Anthropozän, dessen Beginn man geologisch neuerdings auf 1800 datiert, beschwört man die Wissenschaftsgesellschaft –, werden die hochfliegenden Humanistenträume in der Frühen Neuzeit gleichwohl gründlich am Boden des göttlichen Ordo-Denkens gehalten. Denn die Gelehrsamkeit selbst (re-)produziert auch effektive Mittel der Selbstbeschränkung, wie etwa das rhetorische Leitideal des Angemessenen und Schicklichen (aptum bzw. decorum) oder die Hauptlaster der ungezügelten Neugier (curiositas) und des Gelehrtenstolzes (superbia).

In diesen Leitbahnen hält sich auch die Literatur der Zeit und trägt mit der Bloßstellung der ‚Letternkultur‘ (Gunter Grimm) im antigelehrten Schrifttum fleißig zum Imaginarium neuzeitlicher Universitätssatire und literarischer Wissenschaftskritik bei.

Bereits Sebastian Brants Bestseller Das Narrenschiff (1494) kennt den gelehrten Narren, der in der Abgeschiedenheit der Bibliothek seinen natürlichen Lebensraum schafft und grotesk bebrillt in „unnutzen buchern“ versunken ist – ein zoomorpher Habitus, der anhaltend Satire herausfordert und mit der Witzfigur des zerstreuten Professors in der Moderne schließlich seine komiktheoretische Würdigung findet (Henri Bergson: Le rire, 1900).

Spott zieht im Gegenzug auch der naturforschende Empiriker auf sich, der im Zuge der Legitimation der Neugier (Hans Blumenberg) im 17. Jahrhundert die Bühne der Wissenschaftsgeschichte betritt.  Grimmelshausens Simplex etwa ahmt den Typus im Simplicissimus Teutsch (1669) auf seiner Exkursion zum Mummelsee nach und parodiert ihn als fachkundigen Landvermesser, der, mit der Geometra bewaffnet, wichtig um den See stolziert.

Universitätssatire erwächst nicht zuletzt dem Studentenmilieu. Das Laster der Ignoranz nimmt etwa das Genre der Schulkomödie ins Visier (z.B. Jakob Wimpfeling: Stylpho, 1480). Mit besonders heftiger satirischer Aggression zieht sodann der Leipziger Jura-Student Christian Reuter mit seiner Kömodie L’honnéte femme oder Die ehrliche Frau zu Pliszine (1695) gegen seine Wirtin Anna Rosine Müller zu Felde. Trotz Exmatrikulation, Schreibverbot, Karzer und schließlich auch noch Ableben der verhassten Wirtin legt Reuter immer weitere Pasquille nach. Studentisches Leben, genauer den Bummelstudenten karikiert 1784 sodann das „komische Heldengedicht“ Die Jobsiade von Karl Arnold Kortum, das eigentümlicherweise deutlich den Bezug zum 16. Jahrhundert sucht und Universitätssatire letztlich als Frühneuzeitsatire präsentiert. Die einschlägigen Mittel der historiographischen Stilisierung sind u.a. der parodistische Knittelversgebrauch, die Hans-Sachs-Anspielungen oder eine in der Erstausgabe von Kortum selbst verantwortete ‚altdeutsche‘ Holzschnitt-Ästhetik, die später durch die Illustrationen Wilhelm Buschs getilgt wird.

Erweist sich mithin gerade das skizzierte Spektrum der Satire als produktiv, prägt die Frühe Neuzeit das düster-ernste Rollenmodell des Gelehrten sicher am prominentesten mit der Faustfigur vor. Zwar gelingt später dem begabten Mephistopheles Goethes eine meisterliche Vorlesungsparodie – fraglos eine ergiebige Materie –, doch lässt die im Ganzen sicher nicht heiter zu nennende alte Historia des D. Johan Fausten (1587) den Hochmut der Gelehrtenseele noch unbarmherzig in die Hölle stürzen, während der vom Teufel grausam zerstückelte Leib des Magie-Professors auf dem Misthaufen landet und in allen Einzelteilen das Entsetzen seiner Studenten entzündet. Fausts Gelehrtenstube finden die vom nächtlichen Lärm schwer eingeschüchterten Kandidaten „Voller Bluett / Das hyrn klebt an der wand Dann der Feindt jn von einer Wand zu der Andern geschlagen hett / jtem seine Augen Da / vnnd eltiche zeen ein greuliches Spectacul.“ Auch in diesem körperlichen Sinn scheint die Universität den Horror als Genre begründet zu haben.

Wollte man die Zweifelhaftigkeit der Universität in der Frühen Neuzeit weiter befragen, kämen schließlich auch die persistenten Probleme ihrer Glaubwürdigkeit mit den spezifischen Praktiken der Vortäuschung und Trickserei auf den Plan. Der zeitgenössisch mit dem Kredit eines ‚Vaters der deutschen Dichtkunst‘ ausgestattete Opitz beispielsweise bewegt sich durchaus auf der Grenze zur Mogelei, wenn man etwa anschaut, wie sich das frisch graduierte Nachwuchstalent 1623 mit seinem Lob des Feldtlebens in die humanistische Tradition der Landlebendichtung (laus ruris) einzuschreiben versucht. In der Vorrede zur kleinen poetischen Übung beruft Opitz sich strategisch auf den neulateinischen Gelehrtendichter Petrus Lotichius Secundus in Heidelberg als höchste Autorität ‚deutscher‘ Poesie. Seine anschließende Alexandriner-Dichtung paraphrasiert dann jedoch ausgerechnet große Teile aus Johann Fischarts Lob deß Landlustes (1579) – aus Sicht der neuen Stilnorm von Opitz der Inbegriff frühneuhochdeutsch stelzender Knittelei – und verschweigt dies obendrein noch elegant.

Die sich unterm Strich stellende Frage, warum die Institution der Universität selbst in der Frühen Neuzeit offenbar nicht zu denjenigen Gegenständen gehört, die einer intensiven literarischen Aushandlung bedürfen, ist schwierig zu beantworten. Dramengeschichtlich steht ihrer Erhebung in den Stand der Tragödie die Ständeklausel im Weg. Dies ist vielleicht ein schlicht dramaturgisch begründeter Faktor der Weichenstellung, der für die große Erfolgsgeschichte der Universitätssatire eine Rolle spielt. Vermutlich blockiert eine genaue literarische Reflexion der ehrwürdigen Institution in der Frühen Neuzeit das vormoderne Autoritätsdenken, und natürlich ist ‚die‘ Universität gar nicht in den uns vertrauten Formen ausdifferenziert oder als Objekt der Literatur stabil. Womöglich kann man als einer ihrer Angehörigen aber auch sagen, dass ihr Alltag nicht immer geeignet ist, die besten Literaten herauszufordern.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen