Universitätsreform als Kommunikationsreform

Warten auf die Wiederherstellung der Universität

Von Julia AmslingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Amslinger

Dass Wissenschaftler nicht nur alleine, sondern auch zusammen forschen, gilt als eine banale Tatsache, die wahrscheinlich so alt ist wie die Wissenschaften selbst und sich durch die gesamte neuzeitliche Geschichte der wissenschaftlichen Spezialisierung, Institutionalisierung und Disziplinierung nachzeichnen ließe. Die Begriffsprägung „Denkkollektive“ des polnischen Mediziners und Wissenssoziologen Ludwik Fleck wurde schnell in den umgangssprachlichen Wortschatz der Gegenwart eingegliedert, und interdisziplinäre Forschungsvorhaben sind im gegenwärtigen universitären Forschungsbetrieb keine Ausnahmen, sondern eher die Regel.

Die moderne Lehranstalt hat Kommunikationsformen ausgeprägt, die sich, nach abgeschlossener Ausdifferenzierung der Einzeldisziplinen im 19. Jahrhundert, insbesondere auf die Zirkulation von Wissen zwischen den spezialisierten Gebieten anwenden lassen. Objektivierbare Gestalt gewonnen hat diese neue Emphase auf Vernetzung und Verbindung von Wissensgebieten in den projektierten bundesrepublikanischen Reformuniversitäten der sechziger Jahre, deren architektonische Anlage bereits Kommunikation und „Networking“ auf den Ebenen ihrer Mitglieder und Organe ermöglichen sollte.

Die Geschichte der Reformuniversitäten wird zumeist unter den Stichwörtern „Bildungsrevolution“ oder „Bildungsexpansion“ verhandelt, und nicht nur Ralf Dahrendorf bekannte sich engagiert zu einem „Bürgerrecht auf Bildung“. Das Aufstiegsbewusstsein einer Wirtschaftswunder-Wohlstandsgesellschaft machte vor den Toren der Universitäten keinen Halt, so dass – ganz wörtlich – mitten auf grünen Wiesen Universitäten gebaut wurden und sich das Personal an deutschen Hochschulen in kurzer Zeit verdoppelte: eine glänzende Zeit für Bauherren und akademische Karrieren. Die wissenschaftlichen Akteure verstanden unter der Neuausrichtung und Neugründung von Universitäten jedoch nicht die massenhafte Inklusion neuer Studierender unter dem (damals noch wenig geläufigen) Begriff der Bildungsgerechtigkeit, sondern die Etablierung einer neuen Kommunikationskultur. Diese wurde zunächst als forcierte Amerikanisierung der Universitäten bewertet. Da sie allerdings schon in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einer eingehenden philosophischen Reflexion unterzogen wurde, konnte sie als neue Anbindung an einen gekappten Traditionsbestand inszeniert werden. Unter dem kämpferischen Imperativ „Demokratisiert die Universitäten!“ engagierten sich verschiedene deutsche Professoren (wie Helmut Schelsky, Gerhard Hess u. a.) aktiv beim Umbau der Universitätslandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, worunter sie vor allem die Einrichtung von übergreifenden Forschungsverbünden, Fachbereichen oder Forschungszentren (z. B. ZiF, Bielefeld) verstanden.

Bereits am 17. April 1963 übergab die baden-württembergische Landesregierung dem Landtag eine Denkschrift zur Einrichtung der Modell-Universität Konstanz, seit 1959 eines der Lieblingsprojekte des damaligen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger. Dass ausgerechnet der konservative Christdemokrat, dessen spätere Kanzlerkandidatur aufgrund seiner NS-Vergangenheit zu wütenden Protesten führen sollte, die Vaterfigur der bundesrepublikanischen Modelluniversitäten abgab, führt zu den dunklen Aporien der gesamtgesellschaftlichen Nachkriegsmentalität – und zu der Frage, ob es die oft beschworene „Stunde Null“ jemals gegeben habe. Anstatt die noch nicht (lange) vergangene Vergangenheit des Dritten Reichs wenn nicht „aufzuarbeiten“, so doch zumindest anzuerkennen, war der Blick verschiedener Akteure allein auf die Zukunft gerichtet, die plötzlich als wandel- und gestaltbarer Zeitabschnitt erschien.

Modernisierungen und Reformen lassen sich so auf ganz unterschiedlichen Ebenen – biographisch, theoretisch, institutionell – aufzeigen, die verdeutlichen, wie reflexiv das Wissen um die eigene Geschichte und um „Geschichte machen“ in den sechziger Jahren bereits geworden war. Wenn der Philosoph und anfänglich reformbegeisterte Hans Blumenberg in seinem Buch Die Legitimität der Neuzeit konstatiert, dass es „keine Zeugen von Epochenumbrüchen“ gebe – denn die „Epochenwende ist ein unmerklicher Limes, an kein prägnantes Datum oder Ereignis evident gebunden. Aber in einer differentiellen Betrachtung markiert sich eine Schwelle, die als entweder noch nicht erreichte oder schon überschrittene ermittelt werden kann“ –, so muss man den Protagonisten der Universitätsreform zugestehen, dass sie genau dies sein wollten: Zeugen, ja mehr noch: Akteure eines Epochenumbruchs, der als Reform, also begriffsgeschichtlich als Wiederherstellung oder Wiedereinsetzung proklamiert wurde. Wiedereinsetzung von was? In der Zwischenkriegszeit wurde von verschiedenen Wissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern an einer Neuausrichtung der Wissenschaftstheorie und vor allem der Bewertung wissenschaftlicher Praxis gearbeitet. Paul Valéry bemühte sich schon 1931 als Antwort auf ein Preisausschreiben der Zeitschrift Revue de synthèse (historique), beide Groß-Gebiete der Forschung, Natur- und Geisteswissenschaften, gleichsam pazifizierend als gleichwertige Kulturen des Ästhetischen zusammenzufassen:

„Ob man sich nun mit theoretischer Physik oder mit Geschichte befasst, es geht immer darum auszuwählen, zu ersinnen, zu vereinfachen, zu trennen oder zu vereinigen, zu kombinieren oder zum Ausdruck zu bringen, es handelt sich um innere Arbeit, und es ist nicht einzusehen, warum diese innere Arbeit grundverschieden sein sollte, wenn sich ein Descartes oder ein Leibniz nun mit der Mathematik oder mit der Seele befasst.“

Ähnlich wie die Wissenschaftler des Wiener Kreises um Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Otto Neurath und Hans Hahn plädierten auch die französischen Fachvertreter in ihren Beiträgen zum Synthèse-Heft für eine verbindende Wissenschaft bzw. für vernetzte Verbundforschung und bezogen sich dabei auf die Neopositivsten und Philosophen des logischen Empirismus aus Deutschland, obwohl gerade Berr in seinem programmatischen Eingangsessay mit dem Titel Nous postulons l’unité darauf hinwies, dass in Frankreich zu keiner Zeit eine so starke Aufspaltung in zwei Wissenskulturen vorgeherrscht hätte wie eben in den deutschsprachigen Ländern.

Trotz der nationalistischen Zwischentöne kann die Debatte um eine Einheitswissenschaft – oder zumindest um einheitliche Arbeitsgebiete – durchaus als europäisches Projekt einer Wissenschaftsutopie der Zwischenkriegszeit verstanden werden, die sich ganz bewusst von älteren, modernisierungstheoretischen und damit fortschrittsgläubigen Versuchen absetzte. Man konnte demnach C. P. Snows Thesen von den „Zwei Kulturen“ schon in Frage gestellt sehen, bevor er sie überhaupt das erste Mal in der ihm eigenen Radikalität vortrug. Seinen Vortrag hielt Snow im Jahr 1959. Wüsste man dieses Datum nicht, könnte man leicht darauf schließen, denn ohne die schockartige Wirkung der erfolgreichen Sputnik-Mission und der darin zum Ausdruck gekommenen technischen Überlegenheit der Sowjetunion lässt sich Snows eindringliches Plädoyer für die Naturwissenschaften nur in Teilen nachvollziehen.

Folgt man Snows Argumentation, sah sich die westliche Welt Ende der fünfziger Jahre im Angesicht des frappanten (militär-)technischen Vorsprungs der Sowjetmacht vor allem mit einer knapper werdenden Ressource konfrontiert: der Zeit. Wie viel Zeit bleibt, um eine potentielle Aufholjagd noch als Sieger beenden zu können? Wie kann zeitökonomisch geforscht werden? Nach Snows Verständnis können allein die Naturwissenschaften Auswege aus der drohenden Niederlage gegen die UdSSR bieten, weil nur sie konform zum politisch-wirksamen zeitgenössischen Diskurs ein Verständnis von Zeit als „eine[r] an den unerbittlichen Zeittakt gebundene[r] Größe empfänden, wohingegen die an der Geschichte orientierten Geisteswissenschaften glaubten, über eine unbegrenzte Zeit verfügen zu können.“

Die Atmosphäre der späten fünfziger und beginnenden sechziger Jahre charakterisiert der Kunsthistoriker Horst Bredekamp unter der Leitvorstellung der Zeitknappheit und statuiert, dass die so genannten Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften bis heute durch die von Snow vorgeschlagene Trennung in eine unterlegene Situation geraten sind. Dass die Geisteswissenschaften sich daraufhin aber ebenfalls dem zeitökonomischen Paradigma einer raschen Innovationsfolge unterwarfen, charakterisiert Bredekamp als eine grundsätzliche wissenschaftsgeschichtliche Fehlleistung.

Hans Blumenberg konnte diesem Wettlauf nur feine Ironie entgegenbringen. Sputnik, der „erste falsche Komet, der piepende Kunstmond“, fordere explizit zur Beantwortung der „Frage ‚Und was haben wir Vergleichbares?‘“ heraus: „So kam es zu den Anfragen und Umfragen, wie und was man denn diesseits zu forschen habe, begleitet von der Ermunterung: Holen Sie auf! Stellen Sie Anträge!“

Forcierte Innovation im unangemessenen Zeitkorsett auf der einen Seite, Anknüpfungen an eine Tradition der Wissenschaftsphilosophie der Zwischenkriegszeit, Demokratisierung, nachgeholte Westernisierung auf der anderen: Diese Anforderungen stellten die beschädigte deutsche Universitätslandschaft vor zu große divergierende Herausforderungen, als dass die Geschichte der Universitätsreform in der BRD als Erfolgsgeschichte erzählt werden könnte. Auch die Beteiligten waren sich dieser Tatsache bewusst. Die 1977 erschienene Festschrift für den Konstanzer Gründungsrektor Hess trägt den lapidaren Titel Gebremste Reform. Fünf Jahre später antwortete Blumenberg – eben noch Zeitzeuge eines Epochenumbruchs im Kleinen – auf die Frage des FAZ-Magazins: „Welche Reform bewundern Sie am meisten?“ reichlich desillusioniert: „Die ums Jahr 1995 fällige Wiederherstellung der deutschen Universität.“

Die Idee der Reformuniversität der BRD in den sechziger Jahren war (auch) eine Verständigungsutopie. Ein aus Stein oder Beton gebautes Bekenntnis zu zwischenfachlicher Zusammenarbeit mit einem gemeinsamen Zentrum in den großen Universitätsbibliotheken, die die Reliquien des Geistes für die Betrachter zugänglich machten. Es war eine Zeit, die ihre Emphase auf ‚Bildung‘ legte. Schon kurze Zeit später, in den siebziger Jahren, wurde diese Definition des Studiums vom funktionalen Diskurs über zielgerichtete Ausbildung abgelöst. Die Lehre wandelte sich zum Mittel der Berufsvorbereitung, während in der Forschung die Naturwissenschaften und ihre Forschungsorganisation Vorbildcharakter gewannen. Und anstelle humanistischer Bildung entwickelte sich ökonomische Effektivität zum neuen Paradigma der Universitäten.

Dabei ist der Diskurs um „Reformen“ bis heute angeschwollen und kann innerhalb der Geisteswissenschaften als ein andauerndes, episches Gesprächsspiel verstanden werden: In ihm verknüpfen sich jedoch nicht mehr, wie im 17. Jahrhundert, auf galante Weise gelehrte und unterhaltende Inhalte; die Parallele erschöpft sich in der theoretisch unendlichen Verlängerbarkeit eines Dialoges, in dem sich die Rede von der Neuorientierung philologischer, philosophischer und historischer Disziplinen mit der Rede über methodische, wissenschaftspolitische, universitäts- und institutionengeschichtliche Angelegenheiten verquickt.

Bibliografische Angaben:

Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt a. M. 1997.

Hans Robert Jauss und Herbert Nesselhauf (Hrsg.), Gebremste Reform – Ein Kapitel deutscher Hochschulgeschichte, Universität Konstanz 1966–1976. Konstanz 1977.

Charles P. Snow, The two cultures and the scientific revolution. New York 1961.

Paul Valéry, Sind die Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften grundverschieden?. In: Ders., Werke. Hrsg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, Band 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, Frankfurt a. M. 1995, S. 391. Zuerst unter dem Titel „Les sciences de l’esprit sont-elles essentiellement différentes des sciences de la nature?“, in: Revue de synthèse, 1. Oktober 1931, S. 9–11.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen