Nie mehr 1895

Sherlock Holmes’ Weg zu einer Kultfigur der Gegenwart

Von Klaus-Peter WalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Peter Walter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit den Worten „Und es bleibt immer 1895“ endet das Gedicht 221B des Sherlock-Holmes-Darstellers Vincent Starrett. Sherlock Holmes und das viktorianische Zeitalter – das schien bislang auf ewig eins zu sein. Dass dem heute längst nicht mehr so ist, macht der 1971 geborene Schwede Matthias Boström in seinem Buch Von Mr. Holmes zu Sherlock augenfällig. Boström, ein Sherlock-Holmes-Afficionado von Kindesbeinen an und inzwischen stolzes Mitglied der renommierten Baker Street Irregulars, beschreibt darin den Weg des Meisterdetektivs zum Mythos und zum Medienstar. Das Buch handelt natürlich in erster Linie vom Altmeister selbst, aber in zweiter Linie auch von Matthias Boström, denn es ist eine Art Autobiographie vor dem Hintergrund einer lebenslangen Baker-Street-Infektion, einer regelrechten Passion. Der Autor legt Zeugnis ab von seiner gelebten Liebe zu Sherlock Holmes in Literatur, Film und Fernsehen, auf das Prallste mit meist selbsterlebten, stets aufs Gründlichste recherchierten Fakten angereichert.

Der heutige Sherlock Holmes, wie wir ihn kennen oder zu kennen glauben, ist nämlich längst nicht mehr ein „Original-Holmes“, sondern das Ergebnis eines jahrzehntelangen  Wandlungsprozesses, der mit Conan Doyle lediglich seinen Anfang nimmt und noch längst nicht abgeschlossen ist. Diese allmähliche Gestaltwandlung beschreibt Boström in seiner jederzeit hochspannenden Literaturgeschichte mit nur wenigen Abschweifungen unter strenger Konzentration auf den Kanon – die rund sechzig Romane und Erzählungen Doyles, auf Holmes as shown by Arthur Conan Doyle.

In kondensierter Form führt er uns noch einmal die unzähligen Menschen vor, die unsere Vorstellung von Sherlock Holmes beeinflusst und das eine oder andere Puzzleteil zu dessen Bild hinzugefügt haben. Literaten wie zum Beispiel der unermüdliche Strand-Herausgeber Greenhaugh Smith, der Literaturagent A.P. Scott, Robert Barr vom Magazin The Idler oder der deutsche Verleger Baron Tauchnitz gehören ebenso dazu wie verschiedenen Illustratoren, die Holmes-Darsteller in Hörfunk, Kino oder Fernsehen oder die Kinder Sir Arthurs, die durch serielle Rechtsstreitigkeiten, zum Teil auch untereinander, das Schicksal der gewinnträchtigen Figur beeinflussten und – mal mehr, mal weniger – voranbrachten. Doyles Tochter Dame Jean zum Beispiel achtete sehr darauf, dass Filme und Pastiches den Geist des Original atmeten. Daneben gab es aber auch eine gewisse Andrea Plunket, die – wohl eher unberechtigterweise – behauptete, die Rechte an Doyles SH-Geschichten zu besitzen und daraus sogar einigen Gewinn zog. Doyle-Sohn Adrian war nicht der allererste, aber doch einer der ersten Pastiche-Autoren. Zusammen mit John Dickson Carr versuchte er im Rahmen eines oft verzweifelten fundraising Sherlock Holmes’ Nachlass – so der Reihentitel seiner Nach-Schöpfungen – auszuschlachten. Dabei stützte er sich bevorzugt auf jene Fälle, die Watson, das auktoriale Alter Ego seines Vaters, nur erwähnte, ohne sie je zu vollständigen Berichten auszuarbeiten.

Natürlich – manches, was der Schwede berichtet, ist schon aus anderen Büchern bekannt. Die Rettung des indischstämmigen, trotz einer schweren Sehschwäche als angeblicher Pferderipper 1903 zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilten Rechtsanwaltes George Edalji durch den Detektiv spielenden Conan Doyle selbst hat schon Julian Barnes’ in seinem Roman Arthur & George (dt. 2007) dargestellt. Boström greift sie wieder auf, um zu den Quellen der Doyleschen Detektivfigur zurückzugehen. Deren Entwicklung von ihren viktorianischen Anfängen führt schließlich zur Kultfigur Sherlock, wie sie Benedict Cumberbatch verkörpert, der Holmes unter der genialen Anleitung von Mark Gatiss und Steven Mofatt erfolgreich ins 21. Jahrhundert verpflanzte. Dabei zeigt sich übrigens, dass die Doyle’schen Dialoge auch in unseren Tagen bestens funktionieren und keineswegs antiquiert wirken. Fanclubs in aller Welt schließlich, die alle auf den rastlosen Clubgründer Christopher Morley zurückgehen, der die Baker Street Irregulars aus der Taufe hob und höchst prominente Zeitgenossen wie die US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Harry S. Truman als Mitglieder gewinnen konnten, vertieften die Popularität und die Rezeption der Figur in der gesamten Welt.

Bekanntermaßen verdankte Doyle, das wissen wir längst, die Idee zu Holmes’ phantastischer Deduktivität seinem akademischen Lehrer Joseph Bell, der einem Patienten auf den ersten Blick Beruf, Herkunft und seine Krankheit auf den Kopf zusagen konnte. Natürlich spitzte Doyle Bells Fähigkeiten und Methoden dramaturgisch effektvoll zu, aber ohne den Edinburgher Professor hätte es Holmes wohl nie gegeben. Die Edalji-Episode belegt jedoch, dass Doyle bis zu einem gewissen Grade tatsächlich über die bemerkenswerten Fähigkeiten seiner Figur verfügte. Vieles andere dagegen ist spätere Zutat. Die Deerstalker-Mütze, ohne die wir uns Holmes gar nicht mehr vorzustellen wagen, hat Doyle zwar irgendwo beiläufig erwähnt. Zum wichtigsten Kleidungsstück aber machte sie erst der Illustrator Sidney Paget, der durch einen Zufall anstelle seines Bruders Walter die Holmes-Geschichten illustrieren durfte. Inzwischen steht diese Kopfbedeckung pars pro toto für die ganze Figur, ähnlich wie die gebogene Pfeife, derer sich erstmals der Schauspieler William Gilette bediente, weil ein Stecker (eine gerade Pfeife) ihn auf der Bühne am deutlichen Sprechen behinderte. Von ihm stammt auch ein Theaterstück. Ebenso viel wie Paget verdankt das Holmes-Bild dem US-Illustrator Frederic Dorr Steele.

Die Vorstellung, die das Publikum von Holmes entwickelte, hing immer stark von den Schauspielern ab, die ihn darstellten. Noch heute wird viel darüber diskutiert, ob Basil Rathbone oder doch Jeremy Brett die bessere Holmes-Verkörperung war. Auch hier trägt Boström manches Bekannte vor, sofern es zum Verständnis der „Holmesianität“ der Figur notwendig ist. Die Schauspieler Robert Downey jr. in den Guy-Ritchie-Filmen und Benedict Cumberbatch in der TV-Serie Sherlock machten Holmes zu modernen Kino- und Actionhelden ohne betulich-nostalgischen Touch. Dabei fußt die rabiate Kampfsportkunst Downeys oder die militärische Schlagkraft Jude Laws als Watson durchaus auf Charakterzügen, die bereits Doyle ihnen zugemessen hat. Die Figuren bleiben gleich, nur die Akzentuierungen wechseln.

War der Sherlock-Holmes-Kosmos anfangs noch recht klein dimensioniert, so dehnte er sich – analog zum wirklichen Universum – nach dem „Urknall“ immer weiter aus. Conan Doyle hatte sich noch das Auftreten von Realpersonen versagt. Er wählte immer Camouflagen, man denke an Skandal in Böhmen. Eine der ersten Realpersonen, mit denen es Holmes zu tun bekam, war Jack the Ripper, der uns in einem Roman des Autorengespanns Ellery Queen begegnet. Mit dieser Begegnung von Holmes mit einer Realperson lässt es Boström bewenden. Mehr würde den Rahmen seines akribisch recherchierten Buches sprengen.

Man möchte jedoch gerne endlos weiterlesen, denn die Welt des Sherlock Holmes ist lange noch nicht vollständig vermessen. Wir hoffen zuversichtlich auf einen Folgeband über die zahllosen Pastiches aus aller Welt, also die unkanonischen Nachahmungen oder Nachdichtungen. Boström wäre sicher wie kaum ein anderer Kenner in der Lage, eine solche Zusammenschau zu leisten. Wie gerne würden wir noch viel mehr über die Riesenratte von Sumatra lesen, jenen Fall, von dem zu erfahren laut dem kanonischen Holmes die Welt noch nicht reif war! Oder über all die Realpersonen, mit denen die Pastiche-Autoren nach Doyle Holmes zusammenkommen lassen, über die Begegnungen des Meisters mit Sigmund Freud, Karl Marx oder Albert Einstein, um nur einige wenige zu nennen.  Und nahezu jede Figur aus Doyles Sherlock Holmes-Kosmos hat es inzwischen zu eigenen literarischen Auftritten oder gar zu Serien gebracht: der viel gescholtene Lestrade wurde in einer ziemlich blutigen Romanreihe von M.J. Trow rehabilitiert, Mrs Hudson ermittelt ebenso auf eigene Faust wie Mycroft Holmes oder Basil, der mäusische Held aus Eve Titus’ Kinderbüchern, der vom  Keller der Baker Street 221B aus Kriminalfälle löst. Basil ist übrigens eines der wenigen Beispiele für Boströms Beschäftigung auch mit diesem Subaspekt des Themas. Nicht zu vergessen wäre der „Erbfeind“ Professor Moriarty, der gleich einem Wiedergänger immer wieder aus seinem feuchten Grab in den Reichenbach-Fällen aufersteht (oder in Wahrheit nie hineingestürzt ist). Ihm hat zum Beispiel der nachmalige James-Bond-Autor John Gardner zwei Memoirenbände in die Feder diktiert; Moriarty ist darin ein gut organisierter Vorläufer der Mafia, fürwahr ein „Napoleon des Verbrechens“.

Unbehandelt lassen muss Boström notgedrungen auch die Crossover-Pastiches, in denen Holmes mit den Helden anderer Autoren konfrontiert wird, wie zum Beispiel bei Philip José Farmer, der Holmes und Tarzan gemeinsam ins Rennen schickt. Oder Schatten über Baker Street, eine richtungsweise Anthologie, in der Holmes die Ungeheuergottheiten von Doyles amerikanischen Zeitgenossen Howard Philip Lovecraft bekämpft. Ganz und gar nicht erwähnen kann er all die vielen Bücher, in denen Holmes nur noch als Echo und Zitat lebendig wird wie in dem Roman Die Besessenen des Polen Witold Gombrowicz oder dem Theaterstück Pygmalion von George Bernard Shaw (und später dem Musical My Fair Lady), in dem Holmes und Watson, man möchte fast sagen gut geklaut, in Gestalt von Henry Higgins und Oberst Pickering Wiederaufstehung feierten. So wenig wie sich Boström dem großen bösen C’thulhu zuwenden kann, so wenig kann er sich den Büchern zu wenden, in denen der „Ur-Holmes“ Professor Bell und sein junger Assistent Doyle in Edinburgh ermitteln.

Holmes ist also ein ubiquitäres, facettenreiches Phänomen geworden, ein Welt-Detektiv im wahrsten Wortsinne. Beschränkte sich dereinst sein Aktionsradius auf Großbritannien, allenfalls die USA, so gibt es inzwischen kaum ein Land mehr, in dem er nicht schon gesichtet wurde, man denke nur an Sherlock Holmes in Rio von Jô Suares. Auch in Deutschland herrscht eine rege Pastiche-Kultur, die noch auf ihren Vergilius wartet. Gar nicht zu reden von Hörbuch-Reihen wie den Sherlock Holmes Chronicles.

Wir sehen, hier eröffnet sich einem glänzenden Fan und Kenner wie Boström ein nahezu unbegrenztes Tätigkeitsfeld. Wir glauben, hier den dank seiner überbordenden Belesenheit bestens geeigneten Chronisten der schier grenzenlosen Pastiche-Welt gefunden zu haben. Er weiß es nur vielleicht noch nicht. Nur Mut, Mr. Boström!

Titelbild

Mattias Boström: Von Mr. Holmes zu Sherlock. Meisterdetektiv, Mythos, Medienstar.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann und Hanna Granz.
btb Verlag, München 2015.
608 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783442713363

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