Ein Spiegel unserer Zeit

Peter Gerdes’ Roman „Ostfriesische Verhältnisse“ versucht, mehr als nur ein Regionalkrimi zu sein

Von Svea WesselsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Svea Wessels

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf.“ – Der so genannte „Schwertvers“ prangt in goldenen, arabischen Lettern an der schwarz gestrichenen Wand in der Wohngemeinschaft, in der ein junger Mann einen blutigen Tod starb. Jene Stelle des Korans, „wegen der ständig irgendwo auf der Welt Menschen sterben müssen! Und wegen der alle Welt uns Moslems hasst“, wie der junge Kollege von Hauptkommissar Stahnke diesem zu verstehen gibt. Warum aber zieren gerade diese Zeilen das Zimmer des auf brutale Art und Weise ermordeten Studenten? War er Konvertit? Einer, der bekannt dafür war, ausgelassen zu feiern, Alkohol zu trinken und zwar „alles gerne in Gesellschaft“? Und hängt diese Tat womöglich auch mit dem Angriff auf den Kaufhaus-Erben Oliver Eickhoff in der Altstadt von Leer, der von einem fahrenden Motorrad aus angeschossen wurde, zusammen?

Die Aufklärung des Mordes wird Stahnke und seinen Kollegen naturgemäß nicht einfach gemacht: Die anderen Mitglieder der Wohngemeinschaft – sofern namentlich bekannt – sind verschwunden. Einer taucht als Terrorist im Irak wieder auf und ein anderer steht auf der Besatzungsliste der „Emssturm“, die in der Nordsee sinkt; er war aber gar nicht an Bord…

Peter Gerdes hat mit seinem neuen Kriminalroman um den eigenwilligen, aber durchaus gewitzten Hauptkommissar Stahnke einen Regionalkrimi vorgelegt, der mehr kann und vor allem mehr bietet als bloße Wiedererkennung des Handlungsortes und schnöde Unterhaltung. Die Verbindung mit dem islamistischen Terrorismus verleiht dabei dem Geschehen nicht nur Aktualität und eine gewisse Brisanz, sondern zeigt, ohne dabei lächerlich zu wirken, dass dieses Schreckensphänomen unserer Zeit nicht bloß die Großstädte dieser Welt betrifft. In rasantem Tempo entwickelt Gerdes immer weiter verzweigte Handlungsstränge, die aufzeigen, wozu Menschen fähig sein können, wenn sich religiöser Fanatismus und skrupelloser Geschäftssinn verbinden. Gerdes verliert an ein paar Stellen jedoch den Überblick und zuweilen leider auch den Leser: Den Überblick, wenn beispielsweise das Schicksal des Mitbewohners Karim Can, der sich im Irak dem Islamischen Staat angeschlossen hat und plötzlich wieder in Leer auftaucht, nicht weiter verfolgt wird. Den Leser, durch den Sprung vom Angriff auf den verwöhnten Kaufhaus-Erben, der – wie eine ehemalige Mitbewohnerin der Wohngemeinschaft amüsant formuliert – „von Beruf Sohn“ ist und dem wohlgemerkt in den Hintern geschossen wird, zum blutigen Mord mit scheinbarem terroristischen Hintergrund. Dieser Sprung ist doch zu gewaltig. Dass beide Fälle vom Ermittlerteam prompt miteinander in Verbindung gebracht werden, erschließt sich selbst einem aufmerksamen Leser zunächst nicht.

Der Kleinhandel in der ostfriesischen Stadt Leer fürchtet um seine Existenz, da Aktionen wie das Mitternachts-Shopping, das bis zu siebenmal im Jahr stattfindet und vom Kaufhaus-Mogulen Karl-Friedrich Eickhoff veranstaltet wird, nur Verluste bringen. Die einkaufswütigen Menschen ziehe es eher in die Einkaufszentren und nicht in die Altstadt, konstatiert der Besitzer eines Klamottengeschäfts, der die Entwicklung der Stadt schon lange kritisch beäugt. Die Macht über diese Entwicklung scheint in den Händen nur weniger Figuren zu liegen, denn nicht nur der Handel, sondern auch die Reederei gehört der Familie Eickhoff. Genauer: dem Bruder von Karl-Friedrich, der verwirrenderweise so ähnlich heißt, nämlich Karl-Joseph Eickhoff. Doch beide verbindet alles andere als Geschwisterliebe, so dass sie sich in ihrem jeweiligen Geschäft zu übertrumpfen suchen. Skrupellos verfolgen sie ihre Ziele und stellen dabei ihre Profitgier über das Wohl anderer Menschen: Neben der gestohlenen Festplatte des ermordeten Mannes finden Stahnke und seine Kollegen zudem viele gefälschte Pässe im Haus von Karl-Joseph Eickhoff. Hatte er mit dem alten Schiff, das in der Nordsee versinkt, vielleicht etwas anderes vor, als es abzuwracken?

Gerdes beweist einen scharfsinnigen Blick für menschliche Abgründe und gibt jeder Figur die Chance, ihre Sicht der Dinge darzulegen und neue Akzente zu setzen. Sowohl dadurch, als auch mittels der Thematik wird die unmittelbare Gegenwart widergespiegelt. Über einige kleine Stolpersteine lässt sich dabei hinwegsehen.

Das Ermittlerteam um Stahnke und den peniblen Kramer wird in diesem Kriminalroman durch den resoluten Schmitz und dem sensiblen Nidal Ekinci, der von sich selbst behauptet, er sei ein „Musterbeispiel an Integration“, vervollständigt. Der Oberkommissar und „Kurde aus der östlichen Türkei“ tritt innerhalb des Geschehens besonders hervor, da diese Figur die Zerrissenheit einer ganzen Glaubensgemeinschaft beleuchtet und dabei gleichzeitig moralische Fragen stellt, die jeden betreffen: „Und was hieß das für ihn, jetzt, da die schlimmsten Faschisten plötzlich nicht mehr aus Deutschland kamen und keine Hakenkreuze mehr trugen, sondern Koran-Zitate in arabischer Schrift? Jetzt musste er sich selbst an die Nase fassen. Und das tat unvermutet weh.“

Titelbild

Peter Gerdes: Ostfriesische Verhältnisse. Kriminalroman.
Leda Verlag, Leer 2015.
351 Seiten, 10,95 EUR.
ISBN-13: 9783864120770

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch