Summer of 85

André Kubiczeks neues Buch „Skizze eines Sommers“ ist ein witzig-nachdenklicher Roman über das Erwachsenwerden

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem uns André Kubiczek in seinem letzten Roman Das fabelhafte Jahr der Anarchie (2014) jene Zeit in Erinnerung gerufen hat, in der im Osten Deutschlands das Alte noch nicht ganz verschwunden und das Neue noch nicht eingerichtet war und dieses machtpolitische Vakuum zu Träumen und Utopien einlud, blickt Skizze eines Sommers, Kubiczeks aktuelles Buch, nun noch weitere fünf Jahre in die Vergangenheit zurück.

Es ist der Sommer 1985, in dem die Geschichte des 16-jährigen René und seiner Freunde spielt. In London steigt das Live-Aid-Benefizkonzert, Michail Gorbatschow ist seit über drei Monaten neuer Generalsekretär der KPdSU und am Genfer See verhandeln Diplomaten aus Ost und West weiter über Frieden und Zusammenarbeit in Europa und bereiten das im November 1985 ebenda stattfindende historische Treffen von Gorbatschow und Reagan vor.

Letzteres verschafft Kubiczeks Helden eine fast zweimonatige Auszeit von dem nach dem Tod der Mutter schwieriger gewordenen Zusammenleben mit dem Vater. Der fliegt nämlich einen Tag vor Renés 16. Geburtstag für sieben Wochen in die Schweiz. Vorher gründlich von der Staatsssicherheit auf Zuverlässigkeit überprüft, darf er bei den Genfer Verhandlungen mitwirken. Tausend DDR-Mark lässt er dem Sohn zurück. Und der verfügt plötzlich außerdem  über eine sturmfreie Potsdamer Neubau-Wohnung und die Gewissheit, dass der letzte Sommer, bevor er seine alte Schule verlassen und in ein fernes Elite-Internat umziehen wird, mit Sicherheit der beste seines bisherigen Lebens werden wird.

Dass es genau so kommt, dazu tragen nicht unwesentlich drei Mädchen bei, die fast zur selben Zeit in Renés Leben treten: die ein paar Blocks weiter lebende Victoria, von der er zunächst wenig weiß, nicht einmal den Vornamen, die Disco-Bekanntschaft Bianca und Rebecca, die Tochter eines Künstlerehepaars. Dazu kommen drei Freunde, Mario, Dirk und Michael, von denen zwei sich ebenfalls um die Aufmerksamkeit Rebeccas bemühen, obwohl sie beide nicht den Hauch einer Chance bei der Bertolt Brecht und Heiner Müller Lesenden besitzen, während der deutlich jüngere Mario ob seiner Größe, des Bartwuchses und einer Hautfarbe, die er seinem libanesischen Vater verdankt, wesentlich bessere Chancen bei den Vertreterinnen des anderen Geschlechts besitzt.

Sieben junge, hormongesteuerte Menschen, das träge dahinfließende, sommerliche Leben in einer ostdeutschen Stadt mit viel historischem Flair, Disco-Besuche und Leseabenteuer, wie sie nur in einem Land zu haben waren, das, auch was die zur Verfügung stehende Lektüre betraf, das Leben seiner Bürger strikt durchreglementierte – Kubiczek hat mit Skizze eines Sommers einen Roman geschrieben, der aus der Perspektive seines Helden von den Problemen des Erwachsenwerdens erzählt. Das tut er authentisch, indem er sich eines cool-flapsigen Tones bedient, seine Leser immer wieder anredet und hineinzieht in all die für Menschen dieses Alters typischen existentiellen Kalamitäten und Konflikte mit sich selbst, den anderen und den Lebensumständen, in die man hineingeboren wurde.

Dass der Roman vor dem Hintergrund der späten DDR spielt, gerät bei all den Problemen, vor denen seine Protagonisten sich sehen, fast ein wenig aus dem Blick. „Es herrschte bei uns ja ständig ein Überschuss an irgendwelchem Mangel“, bemerkt der Ich-Erzähler gleich zu Anfang. Widerstands- oder gar Fluchtgedanken entwickelt er aus dieser lässig hingenommenen Tatsache nicht. Das auffällige Äußere, das er sich zulegt – schwarzer Anzug, Broschen aus falschen Diamanten am Revers, schwarzes T-Shirt, immer wieder nachlackierte schwarze Schuhe, das mittels Seife oder Frisiercreme nach oben gegelte Haar –, erregt in der Erweiterten Oberschule – dem DDR-Gymnasium, auf das er geht – zwar einiges Aufsehen, da er und seine Freunde Top-Leistungen erbringen, gehen den Kritikern ihres „dekadenten“ Äußeren freilich die Argumente aus. Durch die „Sülzfächer“ segelt man unter der „Ironie-Flagge“ und weil man – natürlich mit verschmitztem Grinsen – Sätze wie „Sowjetmacht plus Elektrifizierung gleich Kommunismus“ oder „Das Ziel der Entwickelten Sozialistischen Gesellschaft ist die Vereinigung von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ fehlerfrei aufsagen kann, ist die Angriffsfläche, die man bietet, nicht besonders groß.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen? René und die Seinen beweisen in ihrem Potsdamer Sommer zumindest, dass es ein richtiges Erwachsenenwerden wie überall in der Welt auch in dem sozialistisch sich nennenden kleineren Teil Deutschlands gegeben hat. Man hört die angesagte Musik, wobei es sich dabei natürlich um jene aus der englischsprachigen Welt handelt. Man liest nicht Karl May, obwohl der gerade nach jahrzehntelangem Verbot palettenweise in den „Volksbuchhandlungen“ herumliegt, sondern Charles Baudelaire, Joris-Karl Huysmans und Oscar Wilde. Mit immer wieder nachgespitzten Bleistiften schreibt man Tiefsinniges in ständig am Mann getragene Notizbücher – was die Schreibgeräte betrifft, gilt ausnahmsweise der hier einmal als der größere Held, der den kürzeren Stift zieht. Und ganz selbstverständlich interessiert einen das Cabaret Voltaire mehr als das SED-Zentralkommitee, die wöchentliche Disco in der „Mehrzweckgaststätte“ im Wohngebiet sticht jedes „Hausgemeinschaftsfest“ locker aus und mit tiefsinnigem Gesichtsausdruck in den angesagten Potsdamer Cafés zu sitzen ist natürlich besser als bei den „Subbotniks“ genannten freiwilligen und unbezahlten Arbeitseinsätzen zu schwitzen.

Skizze eines Sommers ist ein leichtes Buch über eine Zeit im Leben, die, wenn man mittendrin steckt, ungeheuer schwer sein kann. Erst wenn man sich erinnert an jene Jahre, wie das André Kubiczek in seinem Buch mit viel Witz, Detailreichtum und Souveränität tut, ist diesen Tagen, Wochen, Monaten und Jahren des Fragens und Zweifelns, Rebellierens und Neuorientierens, Vergleichens und Trotzens ein Surplus an Komik und Lebensklugheit abzugewinnen. Leser, die sich in demselben Lebensabschnitt befinden wie Kubiczeks Held René und seine Freundinnen und Freunde, werden sich in diesem Buch wiedererkennen – egal, wo sie gerade erwachsen werden. Teilt man Alter und ostdeutsche Sozialisation mit dem Potsdamer Autor, dürfte das Vergnügen an der Lektüre sogar noch ein bisschen tiefer gehen. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: An keiner Stelle sehnt sich dieser wunderbar zu lesende Roman in jene Zeit zurück, in der er spielt. Nur das Gefühl des Jungseins und Sich-jung-Fühlens – das möchte er gern konservieren.

Titelbild

André Kubiczek: Skizze eines Sommers. Roman.
Rowohlt Verlag, Berlin 2016.
376 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348112

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