Angst verschlingt das Vertrauen

In seinem großen Roman „Der Trost des Nachthimmels“ blickt Dzevad Karahasan 1.000 Jahre zurück auf die Gegenwart

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Omar Chayyam (1048 – 1131) ist einer jener Intellektuellen, die der islamischen Kultur zur höchsten Ehre gereichen. Er war Dichter, Philosoph, Mathematiker und Astronom. Seine intensiven Himmelsbeobachtungen fanden ihren Niederschlag in dem verblüffend präzisen persischen Kalender, der 1073 eingeführt wurde und dem alten christlichen Kalender damals weit voraus war. Begünstigt wurde Chayyams Wirken durch die Blütezeit des Seldschukenreichs unter dem Sultan Malik Shah und seinem Großwesir Nizam al-Mulk. Sie machten Isfahan zu einer Hauptstadt der damaligen Welt. In diesem historischen Raum situiert der bosnische Autor Dzevad Karahasan seinen Roman Der Trost des Nachthimmels, ein dreiteiliges Opus, das den Blick in die Vergangenheit wirft und auf subtile Weise in die Gegenwart zurück weist.

Omar Chayyam verbirgt seine Geistesschärfe gerne unter dem Mantel der Bescheidenheit. Er neigt nicht zu großen Worten, weil er weiß, dass intellektuelle Überlegenheit bloß Missgunst und Gerede erzeugen. Dafür kann er äußerst hartnäckig sein. Als der Vater seines Freundes Feridun unvermittelt stirbt, glaubt er aufgrund von Indizien zu erkennen, dass jener vergiftet worden ist. Er bohrt nach, auch zum Leidwesen der Trauerfamilie, und findet schließlich die überraschende Lösung. „Wir müssen wissen“, verteidigt er sein Tun: „der Wahrheit dienen, so gut wir können“, ohne jedoch zu vergessen, dass der Mensch nie in den Besitz der ganzen und einen Wahrheit gelangt. Diese bleibt auch für den gläubigen Chayyam allein bei Gott. Trotz solcher Beschränkung ist er ein glühender Aufklärer. Er besitzt dafür den Mut, über die begrenzenden Horizonte hinaus zu schielen. Sein Glaube nimmt weder ihn selbst noch Gott in Geiselhaft, vielmehr lässt er diesem die Größe zu tun, was auch der aufgeklärte Mensch nicht zu erkennen vermag. Wenn er Feridun gegenüber einschränkt: „fast würde ich sagen, wir finden hauptsächlich das, was wir suchen“ – so steckt in dem beiläufig klingenden „fast“ trotz allem eine Zuversicht, kraft Vernunft und Beobachtungsgabe das menschliche Wissen erweitern und vermehren zu können.

Bei seinen Untersuchungen verliebt sich Chayyam in Feriduns Schwester Sukayna, die seine Zuneigung erwidert, so dass sie ein Paar werden und eine Tochter bekommen, die früh sterben wird. Ihre Liebe ist unermesslich – zugleich vereinigt das Paar ganz unterschiedliche Talente: Sukayna ist offen und pragmatisch, Chayyam diskret und verschlossen. So erstaunt es nicht, dass Sukayna innerlich erschaudert, als Chayyams Jugendfreund Hassan auf der Bildfläche erscheint. Er ist ihr nicht geheuer, mit Recht, denn seine Reden stecken voller Hass und Gewalt, so klug sie sein mögen. Chayyam bleibt ihm dennoch als Freund zugetan. Hassan erzählt von seinem Plan, einen neuen Orden zu gründen, der ganz auf die menschliche Ohnmacht baut. Der gefallene Luzifer ist sein Gott. Entsprechend predigt Hassan eine Strategie der Angst und des Terrors, zu der sich seine Jünger bedingungslos verpflichten. Später wird man sie als „Assassinen“ bezeichnen. Ihr erstes Opfer ist 1092 der Großwesir Nizam al-Mulk, der brutal erdolcht wird. Mit diesem Mord endet die Blütezeit des Seldschukenreichs und schlägt um in eine Epoche der Intrigen, Unruhe und Gewalt. Und Chayyam verliert nicht nur seinen Schutzherrn, mutmaßlich geht auch der plötzliche Tod von Sukayna auf das Konto von Hassans Terrorbande.

Auch Chayyams Trauer ist unermesslich. Er verlässt Isfahan und kehrt in seine Heimatstadt Nischapur zurück. Die Trauer dauert fort, bis wir ihm fast vierzig Jahre später im dritten Teil des Romans wieder begegnen. Ums Jahr 1130 lernt Chayyam einen zufällig nach Nischapur versprengten bosnischen Jungen kennen. Die Zeiten sind düster und wirr, ganze Landstriche sind vom Krieg verheert. Alle Gräuel erscheinen möglich. Chayyam fühlt sich alt, er ist auf stoische Weise verzweifelt. In der Zuneigung des jungen Vukac findet er aber eine letzte Freude.

Nach Omar Chayyams Tod wird dieser Vukac wieder nach Hause finden und vor seinem Tod im hohen Alter das Erlebte niederschreiben. Nochmals viele Jahrhunderte später wird  ein gewisser Livnjak exakt dieses Manuskript aus der Asche der 1992 verbrannten Bibliothek von Vijećnica retten und rekonstruieren.

Dieser doppelte Schluss, der nur wenige Seiten umfasst, deutet an, wie meisterhaft und diskret Dzevad Karahasan seinen historischen Roman mit der eigenen Gegenwart verknüpft. Er selbst war anfangs des 1990er-Jahre inmitten des Bosnienkriegs hautnah Zeuge der Belagerung und Beschießung von Sarajevo, bis er 1993 mit einem UNO-Konvoi die umkämpfte Stadt verlassen konnte. Weil jede Epoche einzigartig ist, unterlässt er es aber, die ungleichen Epochen miteinander kurzzuschließen.

In  seinem Roman verneigt sich Karahasan vor einem überragenden Gelehrten jener Epoche um das Jahr 1100, dessen Wirken äußerlich von Erfolg gekrönt war, der innerlich aber keinen Frieden fand. Dabei unterlegt er ihm und seinen Zeitgenossen keine falsche moderne Psychologie. Die Liebe zwischen Chayyam und Sukayna wird mit größter Zurückhaltung in der Manier jener vergangenen Epoche erzählt. Und Chayaams tiefe Trauer bleibt leise, wie es sich nach seiner eigenen Ansicht für einen Hakim, einen weisen Gelehrten, gebührt. Auch stilistisch hält sich Karahasan vor modernen Experimenten zurück. Sein Roman liest sich wie ein gemächlich fortlaufender Lebensstrom aus früheren Zeiten.

Und dennoch ist Der Trost des Nachthimmels ein ganz und gar geistes-gegenwärtiger Roman. Für uns Leser hat Karahasan gewissermaßen zwei Bücher in einem geschrieben, die sich in der Lektüre-Wahrnehmung beständig überlagern und ineinander verschmelzen. Sein Blick in die Vergangenheit hält unterschwellig auch die Gegenwart fest und liefert damit so etwas wie einen Gegenentwurf zu Boualem Sansals 2084. das Ende der Welt, der die Gegenwart in die Zukunft imaginiert:

„Ein Blick muss sehen, was in seiner Zeit und Gegenwart existiert, und nicht das, was Jahre oder hunderte Jahre nach ihm gekommen ist.“ Omar Chayyam spricht diesen Satz, mit Bezug auf die faszinierende Frage, ob der Blick sich gleich schnell fortbewege wie das Licht. Wenn ja, würde ein Blick, „der sich vor 400 Jahren aus einer fernen Welt zu uns aufgemacht hat, nun den Aufbau Kufas und der ersten Moscheen“ zeigen? Mag sein, doch ein Blick braucht das Künftige nicht zu erkennen, hält Chayyam entgegen. In vergleichbarer Weise schaut Karahasan in die Vergangenheit zurück – doch nicht um einer wahrheitsgetreuen Rekonstruktion willen. Sein durch poetische Imagination induziertes Bild der alten Welt erscheint glaubhaft, er kümmert sich aber nicht speziell darum, in allem historisch korrekt zu sein. Es geht um eine Stimmigkeit, die doppelt ist: Er beschreibt rückblickend ein Klima der heraufdämmernden Unruhe und Angst, das in unserer Gegenwart seinen Widerhall findet.

So gilt Omar Chayyams Satz auch für Dzevad Karahasan. Wenn jener mit dem Großwesir durch eine von Krieg verheerte und mit Leichen übersäte Landschaft reitet, hat sein Autor alle die Verwüstungen und alle die Leichen mit im Blick, deren Zeuge er selbst in Bosnien anfangs der 1990er-Jahre geworden ist. „Aber warum waren sie verstümmelt und geschändet worden? Wer hatte das nötig gehabt und warum?“, fragen Chayyam und Karahasan mit Schaudern im Chor, um dieses Schaudern in einem geradezu emblematischen Bild des Kriegsgrauens festzuhalten: eine entstellte Männerleiche krümmt sich um den Körper eines kleinen Mädchens, um es zu beschützen, vergeblich. Goya hätte daraus einen schauderhaft schönen Druck für seine Desastres de la guerra gemacht.

Indem wir Karahasans Blick auffangen, arbeiten wir Leser mit an diesem Buch, wie schon Chayyam bemerkte: „Was du siehst, hängt von deinem Blick ungefähr so stark ab wie von dem, was das Auge betrachtet“. Diese Einsicht bildet das Scharnier für diesen doppelstöckigen Roman. „Der Paradiesblick war für sie ein Blick voller Vertrauen“, heißt es gegen Ende des Buches – doch Angst, Terror und Wut haben das Paradies zerstört. Für Omar Chayyam lebt es noch im Nachthimmel fort. Auf Erden aber ist ihm nicht zu helfen. Gegen die stille Verzweiflung kommt all sein Wissen und seine bescheidene Klugheit nicht an.

„Die Dinge entwickeln sich gut für uns, die ganze Welt riecht bereits nach Angst“, schreibt der Assassine Hassan an seinen Freund Chayyam. Ein Schelm, wer hierbei heute nicht an IS und Terror und Selbstmordattentate denkt. Die Angst verschlingt das Vertrauen, äschert ganze Bibliotheken ein, bringt sinnlos Menschen um. Es ist dieselbe Angst, die der Mensch längst in sich trägt, wie Hassan glaubt. Auf dieser Grundlage erhebt er seine Doktrin der negativen Wahrheit. Woher aber rührt sie, wenn nicht allein aus der subjektiven Wut eines Enttäuschten?

Das Licht der Vergangenheit wirft bloß einen Schatten auf die Gegenwart. Wenn es dennoch eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen Historie und Gegenwart gibt, so ist sie in Omar Chayyam zu entdecken. Genauer in seinem Widerstand gegen die Unbescheidenheit der Zeit, in seinem aufklärerischen Mut sowie auch in der Ohnmacht des Dichters.

Dzevad Karahasan macht sich keine Illusionen, doch sein opulenter und schön trauriger Roman steckt voller wunderbarer Figuren, Geschichten, Rätsel und Bilder. Zu denken ist beispielsweise auch an den Auftritt einer gelehrten Frau namens Shohda, die mit verblüffender Gewitztheit demonstriert, wie „unanständig“ die männlichen Gebote des Islams seien. Zu denken ist auch an den immer wiederkehrenden Tratsch im Café von Basurmedschid, beispielsweise.

Das menschliche Schicksal ist nicht planbar, und vielleicht auch nicht gerecht. Zu ändern ist daran nichts. Omar Chayyam erfährt am eigenen Leib, dass weder Dichtkunst noch Nachthimmel den Menschen davor erretten. Wenigstens aber vermögen sie ihn zu trösten.

Titelbild

Dzevad Karahasan: Der Trost des Nachthimmels. Roman in drei Teilen.
Übersetzt aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
724 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425312

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