Selbstbeobachtung der Literatur

In seiner „Thaumatographia“ versucht sich Jürgen Paul Schwindt an einer „Kritik der philologischen Vernunft“

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Den Anfang“, so kann man in Friedrich Schlegels Notizen zur „Philosophie der Philologie“ lesen, „macht das Erstaunen, wie ein Affekt Wissenschaft bedeuten könne“.  Mit diesem Zitat im Ohr liest sich wie die Klage eines Spätgeborenen, was der Altphilologe Jürgen Paul Schwindt in der Einleitung zu seiner neuen Monografie schreibt: „Am Anfang dieses Buches stand die Verwunderung über ein Fach, das sich – aus welchen Gründen auch immer – in Frage zu stellen aufgehört hatte.“ Der Bogen, den das Staunen über die Jahrhunderte hinweg spannt, rührt also an Grundsätzliches: Was ist das Wesen der Philologie, wie lässt sie sich als Wissenschaft begreifen? Und wieso hat diese Wissenschaft das Nachdenken über sich selbst aufgegeben?

Entsprechend nennt Schwindt sein Buch „Thaumatographia“ und meint damit eine Art ,Wunderkatalog‘, ein Verzeichnis des Sonderbaren und Staunenswerten, das ihm als Mittel einer „Kritik der philologischen Vernunft“ dienen soll. Dabei bleibt leider unklar, wo genau sich dieses Staunen verorten lässt, was sein Gegenstand ist. Auch die Interpretation der Jagd des Aktaion, wie sie Ovid im dritten Buch seiner „Metamorphosen“ schildert, trägt nur begrenzt zur Klärung bei, obwohl Schwindt 140 seiner 160 Seiten darauf verwendet.

Die zentrale These der „Thaumatographia“ ist, dass literarische Texte selbst eine eigene Philologie in sich tragen. Dieser „Philologie der Literatur“ stellt Schwindt die „Philologie der Philologen“ entgegen, deren eigentliche, aber bisher verfehlte Aufgabe es sei, ihr literarisches Gegenstück in ihrem jeweiligen Forschungsobjekt zu erkennen und zu benennen. Als Grund für dieses Versagen vermutet er, dass die Philologie der Philologen „nur das in den Werken anzuerkennen bereit und imstande war, das ihrem eigenen Können entsprach.“ Die textimmanente Philologie zählt Schwindt explizit nicht dazu, obwohl man fragen muss, warum gerade sie, gewissermaßen das Gleiche im Anderen, nicht dem Können der Philologen entsprechen soll.

Besser soll es die Thaumatographie machen. Als philologische Methode sei sie „der Nachgang […] zu all den widerständigen und gegenstrebigen Momenten der Texte, die die Philologie auf die Agenda ihrer exegetischen Praxis gesetzt hat.“ Widerständig und gegenstrebig, das müssen demzufolge die philologischen Elemente des literarischen Texts sein, eben das, was die Philologen wegen zu großer Verwandtschaft nicht sehen können.

Nennt man diesen Fokus „Thaumatographie“, impliziert das, dass die „Philologie der Literatur“ das staunenswerte Wunder ist, dem sich die Philologen widmen sollten. Dennoch zeigt sich Schwindt dezidiert als Anti-Schlegelianer (im Sinne der eingangs zitierten Worte), der die Rolle der Affekte für die Philologie zurückweist, wenn er mit Blick auf die Philologiegeschichte konstatiert, dass das Fach „ins Fahrwasser der klassisch-romantischen Genieästhetik geraten“ sei, „die Staunen und Bewunderung und […] Einfühlung an die Stelle nüchterner Anerkennung setzte.“ Stattdessen sei ein abgeklärtes Verhältnis nötig, um den Status unzureichender Erkenntnisfähigkeit (man könnte auch sagen: den Status der Traumtänzerei) der philologischen Wissenschaften zu überwinden.

Man darf sich darüber wundern. Wenn Philologie Thaumatographie sein soll, müsste sie staunen können, denn nur das Staunen kann ihr zum Indiz des Wunders werden. Und zeichnet sich nicht die ,klassisch-romantische‘ Philologie eines Friedrich Schlegel dadurch aus, dass sie Philologie und Literatur ihrer Identität annähert? (Christian Benne hat vor Kurzem in seiner „Erfindung des Manuskripts“ en passant eine hervorragende Analyse der Schlegel‘schen Philologie geliefert, die darüber Aufschluss bietet.) Wenn Schwindt also behauptet, dass den Philologen „die Vorstellung einer allzu großen Annäherung an den Text […] unbehaglich“ gewesen sei, kann dies doch sicher nicht für jene frühen Vertreter gelten, die als Genieästhetiker abgetan werden. Und auf der anderen Seite: Kann die Philologie den Wundern gegenüber überhaupt nüchtern bleiben? Rückte sie ein anerkennender Umgang, also eine Besichtigung auf Augenhöhe, nicht in die Nähe der theologischen Thaumatologie, der Wunderlehre, und damit näher an einen ihrer historischen Ursprünge heran, einen Ursprung überdies, der sich nur bedingt mit moderner Nüchternheit verträgt? Wie also soll man ein Verzeichnis des Staunenswerten erstellen, wenn man über das Staunenswerte nicht staunen darf?

Allem Anschein nach ist sich Schwindt des Umstands bewusst, dass seine Theorie noch etwas klarer konturiert werden muss, immerhin nennt er das vorliegende Buch ein „Vorspiel“ und kündigt weitere Bände zur Vertiefung an. Zunächst jedoch versucht er, das Postulat einer „Philologie der Literatur“ phänomenologisch zu fassen, um es mit Leben zu erfüllen. Zu diesem Zweck interpretiert er in mikrologischer Feinarbeit Ovids Jagd des Aktaion, schickt jedoch zunächst noch eine These voraus, die die Interpretation überprüfen soll: Die Philologie im Untersuchungsgegenstand des Philologen sei bereits mit dessen „Erscheinen anwesend zu denken“. Die „Philologie der Literatur“ verberge sich mithin in der Form dieses Erscheinens: „Die Form der Werke der Kunst ist ohne die Form der Philologie nicht zu haben.“ Über die Form könne der Philologe verstehen, wie sich der Text selbst versteht; Schwindt nennt das eine „aktaionische Perspektive“ und kehrt damit einen Spruch Emil Staigers um, demzufolge man zu begreifen habe, was einen am Text ergreife. Nicht das eigene Verständnis des Textes müsse der Philologe erläutern, so Schwindt, sondern das Selbstverständnis des Textes. Man könnte dem mit einer anderen Position des 20. Jahrhunderts, der Peter Szondis nämlich, entgegenhalten, dass die Interpretation das zu Interpretierende nicht ersetzen dürfe, die Darstellung des Selbstverständnisses eines Textes auch niemals so präzise sein könne wie der Text selbst.

Schwindts Interpretation lässt sich knapp referieren. Sie zielt auf jene Momente, in denen der Text auf sich selbst zu sprechen kommt beziehungsweise „Verantwortung“ für sich übernimmt. Damit ist gemeint, dass die Erzählung vom Schicksal Aktaions gerade das zur Sprache bringt, was nicht zur Sprache kommen soll: dass der Jäger das Bad der Diana gesehen hat. Schwindt geht den Text Ovids Vers für Vers durch, weist auf Nuancen in den Verschiebungen des Vokabulars hin, deckt auf, wie die Erzählung dem sprachlos gewordenen Hirschmenschen ihre Stimme leiht, um sein tragisches Geschick nicht nur in allen schmerzvollen Details auszuschildern, sondern um ihm gerade dadurch zur Seite zu stehen, dass sie das Schweigegebot durchbricht. Aktaion ist für Schwindt eine Gründerfigur der Philologie, weil es sein Schicksal ist, um die Worte ringen und wegen der Worte (unausgesprochener Worte gar) untergehen zu müssen. In Ovids Text verflechten sich beschreibende und interpretierende Elemente, Erzählung und Deutung des Erzählten und schaffen erst durch diese Verflechtung das eigentlich Literarische des Textes. Gerade dies sei das Sonderbare, das Staunenswerte der Literatur, das thaumatographische Gegenstück zur Philologie der Philologen.

Die Form der „Philologie der Literatur“ besteht also im selbstreferenziellen Sprechen des Textes; im Fall der untersuchten Episode bei Ovid sogar in einem Sprechen, das sich selbst auf sein eigenes Fortbestehen richtet: Nur, wenn die Erzählung Aktaion in seiner Sprachlosigkeit zur Seite steht, ist ihre eigene Erzählbarkeit gewährleistet. Dies ist die literarische Seite jener „aktaionischen Perspektive“, die der Philologe einnehmen sollte.

Inwiefern dieser Formbegriff eine befriedigende Phänomenologie jener Philologie ist, die Schwindt in der Literatur verortet, lässt sich kaum bestimmen. Die folgenden Bände seiner „Thaumatographia“ werden den Form- und den Philologiebegriff stärker verbinden müssen; auch die angedeuteten Brüche des theoretischen Modells warten noch auf eine Zusammenfügung. Vorderhand sind die einzelnen Elemente seines Philologiebegriffs auf irritierende Weise disparat; die Fragen, die sie aufwerfen, haben aber – gerade wegen der Radikalität, mit der Schwindt die Philologie in der Literatur verortet – durchaus das Potenzial, die (alt)philologische Theoriebildung voranzubringen.

Titelbild

Jürgen Paul Schwindt: Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Vorspiel: Die Jagd des Aktaion.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016.
174 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783825365509

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