Neuauflage eines spannenden Klassikers

Über Ernst Doblhofers „Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen“

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Doblhofers „Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen“ ist ein wahrer Evergreen: Das erste Mal vor mehr als 50 Jahren unter dem Titel „Zeichen und Wunder“ erschienen, erlebte es Übersetzungen in diverse Sprachen und Neuauflagen. Reclam hat den Klassiker in ein neues Gewand gekleidet und wieder für ein breites Publikum verfügbar gemacht. Dabei hat er nichts von seiner Faszination und nur wenig von seiner Aktualität eingebüßt.

Doblhofer, 2002 verstorben, ist ein meisterhafter Erzähler, der sich fundiert, aber leicht verständlich eines überaus spannenden Themas annimmt: Mit Leichtigkeit, Witz und profunden Kenntnissen der Materie nimmt er seine Leser nicht nur mit in die (Schrift-)Kultur der alten Ägypter, der Kulturen des Zweistromlandes (Sumerer, Hethiter, Perser, Akkader), nach Kreta, Italien, an den Indus und bis auf die Osterinseln, sondern er zeichnet auch die Forschungsgeschichte nach. Dabei stellt er faszinierende Charaktere wie Jean François Champollion, den Entzifferer der ägyptischen Hieroglyphen, oder den streitbaren Gelehrten Peter Jensen vor, die die Fachgeschichte der Altorientalistik lebendig werden lassen.

Sicher und gewandt leitet Doblhofer seine Leser durch die Geschichte der uralten Kulturen und die teils verworrene Forschungsgeschichte. Dabei zeichnet er auch leicht verständlich Übersetzungsversuche nach, gibt zahlreiche Schriftproben und Abbildungen von Artefakten oder Forscherporträts vervollständigen „Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen“. Dem Leser wird dabei nicht nur die Kultur des alten Orients vorgestellt, sondern er taucht auch ein in die engen Verflechtungen einer regelrecht eingeschworen wirkenden Forschergemeinde, in die Geschichte Europas, die den Nahen Osten immer wieder zum Ziel von Sehnsüchten, Projektionen und kriegerischen Expeditionen macht. Es gibt nicht nur viel zu lernen und entdecken über Hieroglyphen und Keilschrift, sondern auch über die europäische Vergangenheit, deren dunkle Stunden und Glanzleistungen.

Das letzte Kapitel, in dem das Etruskische, die Indus-Schrift und die Schrift der Osterinseln im Fokus stehen, führt über die Grenzen der Altorientalistik hinaus: Das bis heute geheimnisvolle Etruskische, das doch der lateinischen Schrift teilweise so ähnlich erscheint, beschäftigt Doblhofer nur kurz, denn hier kann er nur einen Einblick in die Schriftfunde geben und dann vermelden, dass alle Versuche (bis dato!), das etruskische Rätsel zu lösen, kaum Ergebnisse bringen. Mit spürbarer Begeisterung schnürt der Autor dann die Siebenmeilenstiefel und nimmt seine Leser mit nach Indien, um sich den ebenso unenträtselten Zeichen der Harappa- und Mohendscho-daro-Kultur zu widmen, bei denen noch nicht einmal klar bewiesen ist, dass es sich überhaupt um eine Schrift handelt. Die Entdeckung dieser uralten Kultur fällt ins 19. und 20. Jahrhundert, die Entzifferung der Schrift lässt allerdings immer noch auf sich warten. Ähnliches gilt für die sogenannten sprechenden Hölzer der Osterinsel, die auf den ersten Blick eine frappierende Ähnlichkeit mit den Zeichen vom Indus haben. Auch hier ist für den Leser deutlich zu spüren, wie faszinierend Doblhofer diese Aufzeichnungen findet – mit einem Augenzwinkern berichtet er dann von Entzifferungsversuchen und den Parallelisierungen von Schriftzeichen, die tausende von Kilometern auseinanderliegen und durch Jahrtausende voneinander getrennt sind.

Schade ist, dass auch in der Neuauflage drei Kapitel zu einem weiteren Keilschriftenalphabet, einer hieroglyphenartigen Schrift von Byblos, alttürkischen Runen und der zyprischen Silbenschrift, die noch in der Originalausgabe „Zeichen und Wunder“ zu finden sind, fehlen. Hilfreich für den interessierten Laien wäre zudem eine Karte der Grabungsstätten im Zweistromland, damit man zumindest mit dem Finger auf der Landkarte den Forschern folgen kann. Die im Vorwort abgedruckte Grafik, die die Entwicklung und Abhängigkeiten der einzelnen Schriften dokumentiert, ist sehr hilfreich und lädt immer wieder zur Konsultation ein, aber für einen tatsächlich hilfreichen Überblick ist die Abbildung zu klein geraten – gerne hätte man ihr eine ganze Seite widmen dürfen.

Als Kind seiner Zeit verrät sich Doblhofer ganz klar in seiner Einführung: Man mag schmunzeln, wenn er von der Audiokassette, dem Sprechfunk und dem Diktaphon schreibt und über die Abschaffung des Schönschreibens klagt, aber Begriffe wie „Indianer“, „Eskimo“ und „Neger“ lassen den heutigen Leser zusammenzucken und man hätte sich gewünscht, dass der Autor wenigstens in der letzten Neuauflage von 1992 diese Ausdrücke getilgt hätte. 

Bei allen Ausführungen von Doblhofer bleibt eines dem Leser aber nicht verborgen: Hier schreibt nicht nur ein meisterhafter Erzähler, der seine Leser nicht nur belehren, sondern auch unterhalten will, sondern einer, der weder das Staunen verlernt hat noch die Liebe zur Schrift verbirgt. „Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen“ ist eine Liebeserklärung an die Schrift, das Schreiben und besonders an die Menschen – egal ob das nun der altägyptische Schreiber ist, der Forscher oder der interessierte Leser. Denn wie Doblhofer ganz am Anfang seiner Ausführungen feststellt: Die Schrift ist eines der Dinge, die uns zu Menschen macht.

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Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2016.
350 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783150204153

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