Hausdichter des deutschen Bürgertums?

Zum 200. Geburtstag von Gustav Freytag

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Der vor 200 Jahren, am 13. Juli 1816, im schlesischen Kreuzburg geborene Gustav Freytag gehörte zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, sogar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – besonders in der Weimarer Republik und in der jungen Bundesrepublik. Vielfach wurde er als „Hausdichter des deutschen Bürgertums“ bezeichnet. Als Romancier und Dramatiker zählte Gustav Freytag neben Theodor Fontane, Theodor Storm und Paul Heyse nicht nur zu den bedeutendsten Autoren des Realismus, auch als liberaler Publizist und Kulturhistoriker gehörte er zu den Geistesgrößen der Gründerzeit.

Freytag entstammte einer angesehenen Familie, sein Vater war Arzt und Bürgermeister in der schlesischen Kleinstadt. Nach dem Gymnasium begann er mit 19 Jahren in Breslau Germanistik zu studieren, unter anderem besuchte er dort Vorlesungen von Hoffmann von Fallersleben. Breslau war Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur eine sich rasant entwickelnde Industrie- und Wirtschaftsstadt, sondern auch eine führende Kulturmetropole im Osten Preußens. Nach drei Semestern wechselte der junge Student an die Königliche Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Hier unternahm er neben den Vorlesungen ausgedehnte Wanderungen durch die brandenburgische Mark und war eifriger Besucher des Berliner Theaterlebens. 1838 schloss er das Studium mit einer Dissertation „Über die Anfänge der dramatischen Poesie bei den Germanen“ ab und kehrte nach Kreuzburg zurück.

Zunächst hatte Freytag keine genauen beruflichen Pläne. Nach seiner Habilitation über die Poetik der mittelalterlichen Dichterin Hrotsvit von Gandersheim bewarb er sich 1839 als Privatdozent für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau. Doch bereits im ersten Semester musste er seiner Militärpflicht nachkommen, wurde aber wegen häufiger Erkrankungen vorzeitig als Reservist entlassen. Neben seiner Tätigkeit als Privatdozent (bis 1847) beteiligte sich Freytag auch rege am Breslauer Vereinsleben und knüpfte so zahlreiche Kontakte zu führenden Kreisen von Professoren, Kaufleuten und Künstlern. In dieser Zeit entstanden erste Theaterstücke, denen jedoch wenig Erfolg beschieden war. Trotz dieser Misserfolge liebäugelte er mit einem Leben als freier Schriftsteller.

Eine weitere Enttäuschung musste Freytag 1844 mit einer gescheiterten Bewerbung auf einen Lehrstuhl der Breslauer Universität hinnehmen – sein verehrter Lehrer Hoffmann von Fallersleben war wegen seiner Gedichtsammlung „Unpolitische Lieder“ aus dem preußischen Staatsdienst pensionslos entlassen worden. Anfang 1847 verließ Freytag seine Heimatstadt und ging nach Leipzig. Hier in der sächsischen Metropole, die sich zu einem Zentrum des deutschen Buchhandels entwickelt hatte, versprach sich der junge und ehrgeizige Schriftsteller bessere Perspektiven. Er pflegte den engen Umgang mit Literaten (unter anderem Heinrich Laube oder Karl Gutzkow), Verlegern und Journalisten und gab gemeinsam mit dem Literaturhistoriker Julian Schmidt die Zeitschrift „Die Grenzboten“ heraus. Begünstigt durch eine tolerante sächsische Zensurbehörde formten sie die „Zeitschrift für Politik und Literatur“ zum einflussreichsten Organ des liberalen deutschen Bürgertums. In dieser Wochenzeitschrift verfasste Freytag selbst über 800 kritische politische Artikel – der Beginn seiner Karriere als Journalist.

Bereits ein Jahr später siedelte Freytag nach Dresden, kehrte jedoch bald wieder nach Leipzig zurück. Die beiden sächsischen Städte blieben für einige Jahre sein Lebens- und Wirkungsmittelpunkt, wo er neben der journalistischen Tätigkeit mit dem Lustspiel „Valentine“ und dem Schauspiel „Graf Waldemar“ auch erste Theatererfolge feiern konnte. Die revolutionären Ereignisse der Jahre 1848/49 beobachtete Freytag aufmerksam und unterstützte journalistisch die Bemühungen um ein vereinigtes Deutschland unter der Führung Preußens. Obwohl er von der Notwendigkeit einer politischen und gesellschaftlichen Neuordnung überzeugt war, lehnte er einen revolutionären Weg ab.

Im Sommer 1851 kaufte Freytag, der 1847 Emilie Scholz, geschiedene Gräfin Dyhrn, geheiratet hatte, in Siebleben bei Gotha ein Landhaus. Zunächst nur als Sommerresidenz gedacht, wurde es bald zum Hauptwohnsitz. Ein Beweggrund dafür war die Bekanntschaft mit Herzog Ernst II. von Sachsen Coburg und Gotha, der Freytag Asyl gewährte, als er wegen unliebsamer politischer Aufsätze steckbrieflich verfolgt wurde. Der liberale Herzog bot ihm an, gothaischer Staatsbürger zu werden, und ernannte ihn zum Hofrat und herzoglichen Vorleser. Daraus entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Wie Freytag, der eigentlich kein Freund des Adels war, suchten viele Schriftsteller die Nähe von Fürstenhäusern, nicht nur wegen der materiellen Absicherung, sondern weil sie durch diese die nationale Einheit am ehesten verwirklicht sahen.

In der Thüringer Abgeschiedenheit entstand nicht nur das Lustspiel „Die Journalisten“ (Uraufführung 1852 in Breslau), mit dem Freytag ein realistisches Bild vom Journalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete, sondern auch sein dreibändiger Zeitroman „Soll und Haben“ (1855) – ein zeitgenössischer Bildungsroman, der schnell große Verbreitung fand. Freytag postulierte hier bürgerliche Tüchtigkeit, Tugend und Obrigkeitsdenken, die ein biedermeierlich verklärendes Bild deutsch-bürgerlicher Rechtschaffenheit vermittelten. Außerdem offenbarte der Kaufmannsroman antisemitische Tendenzen, dargestellt an den beiden Protagonisten, dem ehrbaren Geschäftsmann Anton Wohlfart und dem gewissenlosen jüdischen Kaufmann Veitel Itzig. Jahre später rückte Freytag von seinem Antisemitismus ab.

Die folgende Zeit war für Freytag von schweren Schicksalsschlägen geprägt (Tod der Mutter und des Bruders) und dem Ausscheiden von Julian Schmidt aus der Redaktion des „Grenzboten“. Zwischen 1859 und 1867 entstand Freytags kulturgeschichtliches Hauptwerk „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ in vier Bänden, ein erfolgreicher Überblick über die deutsche Kulturgeschichte vom Beginn der Neuzeit um 1500 bis zu den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Diese historischen Momentaufnahmen – meist aus dem „Grenzboten“ – wie auch die kulturhistorischen Skizzen „Neue Bilder aus dem Leben des deutschen Volkes“ (18. und 19. Jahrhundert) aus dem Jahr 1862 stießen bei den Lesern auf große Begeisterung und erlebten bereits 1867 eine Neuauflage.

Nach dieser Herausgeber-Tätigkeit widmete sich Freytag wieder anderen Themen, so erschienen 1863 sein dramatisches Lehrbuch „Die Technik des Dramas“ und ein Jahr später sein zweiter dreibändiger Roman „Die verschwundene Handschrift“, mit dem er jedoch nicht annähernd an den Erfolg von „Soll und Haben“ anknüpfen konnte. Nach der Welt des deutschen Kaufmanns spielte die Handlung in den Gelehrtenkreisen einer Residenz- und Universitätsstadt.

In den Jahren 1867 bis 1870 engagierte sich Freytag als Abgeordneter der Nationalliberalen Partei im Reichstag des Norddeutschen Bundes. In Berlin traf der erfolgreiche Schriftsteller auf die führenden deutschen Politiker der damaligen Zeit. Für eine politische Laufbahn war er jedoch nicht geschaffen und so zog er sich wieder aus der aktiven Politik zurück, obwohl er später von den Berliner Jahren als eine wichtige Erfahrung sprach. In seinem Aufsatz „Der Streit über das Judentum in der Musik“ (1869), der gegen Richard Wagner gerichtet war, distanzierte sich Freytag von seinen früheren, teilweise antisemitischen Auffassungen und fordert die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft.

Im deutsch-französischen Krieg 1870/71 hielt sich der Autor einige Wochen als Begleiter und Berichterstatter des Kronprinzen Friedrich von Preußen in dessen Hauptquartier auf. Seine gewonnenen Eindrücke erschienen im „Grenzboten“ und sind erstmals Berichte über eigenes Erleben. Ein neues journalistisches Forum fand er außerdem für zwei Jahre (1871–73) in der neu gegründeten Zeitschrift „Im neuen Reich“.

Aus dem Krieg zurückgekehrt fasste Freytag den Entschluss, seine Erlebnisse im Feld und die politische Entwicklung der letzten Jahre in einem neuen Roman festzuhalten. So entstand von 1872 bis 1881 der sechsbändige Zyklus „Die Ahnen“, in dem er die fiktiven Schicksale einer deutschen Familie von der germanischen Vorzeit bis zur Gegenwart schilderte. Freytag wählte für seine Darstellung wichtige Wendepunkte der deutschen Geschichte aus, wobei er allerdings Ereignisse wie den Bauernkrieg oder die Revolution von 1848, die nicht in sein bürgerlich-liberales Weltbild passten, ausblendete. Während sich die Literaturkritik weitgehend von dieser „Kulturgeschichte in Romanform“ distanzierte (so bezeichnete Fontane „Die Ahnen“ als ein „Dekadenzprodukt zur Zeit des Wilhelminismus“), war die Resonanz bei den Lesern enorm. Überhaupt erreichten seine Werke zu Lebzeiten schwindelerregende Auflagen, beispielsweise sein Roman „Soll und Haben“ ganze 43.

Die fast zehnjährige Arbeit an dem Romanzyklus hatte seine schriftstellerischen und körperlichen Kräfte in Anspruch genommen. Darüber hinaus hatte Freytag sich in seiner dichterischen Freiheit von dem Zwang zu historischer Treue eingeengt gefühlt; allein das Pflichtgefühl war immer wieder Schreibmotor gewesen. Die Jahre waren zudem mit einem Rückzug ins Privatleben verbunden. Nach 28 Ehejahren verstarb 1875 seine Frau Emilie, es folgten noch zwei Ehen mit seiner ehemaligen Hausangestellten (1879) beziehungsweise einer Wienerin (1891). Zwischenzeitlich hatte er seinen Lebensmittelpunkt in Wiesbaden gefunden, doch zog es ihn immer wieder nach Siebleben zurück.

Bereits während der Arbeit an „Die Ahnen“ hatte sich Freytag sowohl mit den Gedanken einer Ausgabe seiner „Gesammelten Werke“ als auch einer Autobiografie getragen. Ein gegebener Anlass war sein 70. Geburtstag. In „Die Erinnerungen aus meinem Leben“ (1886), einem Gemisch aus autobiografischen Aufzeichnungen, Reflexionen und Gedanken zum Zeitgeschehen, schilderte er schließlich seine wichtigsten Lebensabschnitte; sie erschienen als erster Band der auf 22 Bände angelegten „Gesammelten Werke“ (bis 1888). In einem letzten Aufsatz „Über den Antisemitismus. Eine Pfingstbetrachtung“ (1893) bekannte er sich noch einmal zum Judentum in Deutschland. Am 30. April 1895 starb Gustav Freytag in Wiesbaden, wurde jedoch auf eigenen Wunsch in Siebleben beigesetzt.

Aus heutiger Sicht ist Gustav Freytag gewissermaßen ein literarischer Vorreiter des Realismus der Gründerzeit gewesen. Geschult an Charles Dickens und Walter Scott gaben seine Romane viele Anregungen für das Aufkommen des historischen Romans in Deutschland. Als Journalist strebte er stets die politische Bildung seiner Leserschaft im nationalliberalen Sinne an, während er mit seinen Romanen die patriotische Absicht verfolgte, ein historisches Bewusstsein für die vaterländische Geschichte zu wecken. Daher werden seine Erzählwerke heute kaum noch als poetische Werke wahrgenommen, sondern eher als zeitgeschichtliche Dokumente. Sein „Realismus“ war selten eine Darstellung der gesellschaftlichen Konflikte als vielmehr vorwiegend eine Beschönigung der Wirklichkeit. Der äußerst erfolgreiche Schriftsteller schilderte die bürgerliche Gesellschaft nicht, wie sie war, sondern wie sie sein sollte – er betrachtete dies gewissermaßen als seinen erzieherischen Auftrag.

Aus diesem Grund waren in den letzten Jahrzehnten Publikationen zu Gustav Freytag und seinem Werk äußerst rar. Erfreulich daher, dass nun zu seinem 200. Geburtstag gleich zwei wichtige Bücher über ihn erschienen sind:  Bernt Ture von zur Mühlens Biographie „Gustav Freytag“ im Wallstein Verlag und der von Rafal Biskup herausgegebene Sammelband „Gustav Freytag (1816–1895). Leben – Werk – Grenze“ im Leipziger Universitätsverlag. Neben einer Neubewertung des Schriftstellers beleuchten sie auch die wechselvolle Rezeptionsgeschichte seines Werkes.