Stifter Revisited

Wolfgang Matz‘ Stifter-Biografie erscheint in einer Neuausgabe

Von Carsten RastRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carsten Rast

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unfraglich erlebt die Forschung zu Adalbert Stifter zurzeit erneut eine Renaissance. Ein Grund hierfür mag im literarischen Werk des österreichischen Autors liegen, das die Zerbrechlichkeit der Welt an der Nahtstelle von Traditionellem und Modernem identifiziert. Kaum ein Schriftsteller des Realismus hat so konsequent die Globalisierungssignale des 19. Jahrhunderts an der Textoberfläche unterdrückt und gerade auf diese Weise sprachliche Verfahren indirekter Darstellung entwickelt.

Es gilt also zuerst das Werk von seinem Schöpfer zu trennen. Für den Menschen Stifter überwiegen am Ende seines Lebens nicht die Höhen seines schriftstellerischen Erfolges, sondern die Tiefpunkte. Unentschlossen in der Liebe, allzeit im Kampf um materielle Sicherheit wird ihm die Literatur zum letztlich misslingenden „Therapeutikum“ – am Ende steht der Freitod. Seine literarischen Texte dagegen scheitern nicht in gleichem Maße. Zwar entwerfen sie radikale „Gegenentwürfe zur Gegenwart“, doch gerade in diesem Extrem vermitteln sie zur Moderne, machen die tatsächlichen Spannungen zwischen Neuem und Alten sichtbar.

Stifter erhebt die Technik der Aussparung zur Kunstform. Seine Figuren bleiben an abgelegenste Orte und ritualisierte Abläufe gebunden. Seine Sprache neigt zur Redundanz und Monotonie. In artifiziellen Weltgebilden werden vermeintlich stabile Wertehorizonte vorgeführt und durch die Art ihrer kunstfertigen Darbietung, die das Gemachtsein der Texte geradezu ausstellen, gleich wieder eingerissen. Dahinter identifiziert man einen Wertewandel, den diese Schreibform sichtbar macht. Auf ihn hat Stifter jedoch eine verblüffend einfache  Antwort: Die Welt beherbergt beides, die Möglichkeit einer „fürchterlichen Wendung der Dinge“ und den Erfolg einer stets neu ritualisierten Ethik des Miteinanders.

Wie kein anderer hat Stifter diese Bruchstelle beschrieben. Seine ganze Radikalität liegt dabei in der Betonung des Traditionellen. Denn genau hierin bleiben seine Texte paradoxerweise aktuell, weil sie die Grenze zum Vergangenen sichtbar machen. Wenn auch ihr Autor der Doppelbödigkeit der Welt zwischen hohem Ideal und schwieriger Realisation erlag, seine Texte tun dies nicht.

Wolfgang Matz widmet sich dieser Doppelbödigkeit des Autors zwischen Erfolg und Scheitern in seiner wiederaufgelegten Biografie Adalbert Stifter oder diese fürchterliche Wendung der Dinge. Kaum bestreitbar ist, dass mit Stifter ein Sonderfall vorliegt, sowohl literarisch als auch biografisch. Deshalb lohnt es, von seinem Leben zu berichten, obwohl es kaum dazu angetan ist, durch unverhoffte Wendungen den Leser zu fesseln. Matz ist zugleich ein versierter und erfahrener Stifter-Kenner. Dies zeigen diverse wissenschaftliche Beiträge und zwei größere Monografien (Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters und 1857. Flaubert, Stifter, Baudelaire). Die überarbeitete und ergänzte Neuauflage seiner Stifter-Biografie (zuerst Hanser 1995, dann 2005) erscheint nun erneut im Wallstein-Verlag.

Die Biografie hat sich behauptet und bleibt in Vielem vorerst nicht aktualisierungsbedürftig. Allerdings hinterlässt die pauschale Aussage im Schlusswort, es sei „nichts erschienen, was dieses Buch oder Teile davon grundsätzlich in Frage gestellt hätte“ einen unbefriedigenden Nachgeschmack. Die Forschung der letzten Jahre hat weitreichende Perspektiven zu ethischen Fragestellungen, zur Ökonomie sowie zum Kunst- und Raumbegriff Stifters eröffnet. Eine Biografie, die es sich zur Aufgabe macht, das Verhältnis von Werk und Leben parallel zu setzen, sollte diese in der Bibliografie nicht auf genau zwei Veröffentlichungen aus dem 21. Jahrhundert reduzieren.

In drei Teilen bietet Matz eine umfassende und gut informierte Darstellung von Werk und Leben des österreichischen Autors. Vor allem in Kapitel fünf des dritten Teiles wurden gegenüber früheren Auflagen stärkere Umakzentuierungen vorgenommen. Der frühere Verweises auf Stifters Selbstmord bereits im Titel („Auf Messers Schneide“) wurde durch „In die weiße Finsternis“ ersetzt. Die Biografie schließt nun mit dem Bericht Aus dem bairischen Walde (1867), dem berühmten Text über einen extremen Schneefall im Gebirge. Seine kuriose Gegensätzlichkeit von hell und dunkel bestätigt die Lesart einer Doppelbödigkeit in Stifters Leben und Werk. Entstanden ist er in der letzten Schaffensphase neben dem Witiko (1867), der „böhmischen Ilias“, wie sie Matz beschreibt, und nach dem Nachsommer (1857): „Die Summe seines ganzen Lebens und Schreibens“.

Bemerkenswert bleibt, dass sich Stifter vor allem literarisch weiterentwickelt. Als Mensch dagegen kennzeichnet ihn zeitlebens ein „Schwanken zwischen den Extremen“.  So verfolgt die Biografie im ersten Teil Stifters frühen „Hang zur Beobachtung“ parallel zu einem sich entwickelnden Egozentrismus. Ein treffendes Beispiel ist die selbstversagte Beziehung zu Fanny Greipel und die Ehe mit Amalia Mohaupt, die Matz von verschiedenen Seiten aus beleuchtet. Zeigen sich hier Stifters menschliche Schwächen, gelingt literarisch eine Überwindung der romantisierend-sentimentalischen Erstversuche. An diese schließt Kapitel zwei an. Mit dem Hochwald (1841) als werkgeschichtlichem Einschnitt, so Matz, „beginnt Stifters eigentliches Werk“. Die überarbeiteten Erzählungen der Studien kennzeichne die Emanzipation vom Sockelheiligen Jean Paul durch einen eigenen Stil. Es folge seine antike Wende zu Johann Wolfgang von Goethe und Johann Gottfried Herder. Stifter gehe über zu einem Sujet, das Menschen in Extremsituationen vorführe. Eine kurzfristige häusliche und finanzielle Stabilität ermögliche diese Phase höherer Themen. Matz rühmt vor allem den Abdias (1841/1847) für seine „faszinierende Vieldeutigkeit“. In der Mappe meines Urgroßvaters (1847) werfe Stifter erstmals das Thema des Miteinanders im Ganzen auf. Ein emphatisches Lob erhält auch der Hagestolz (1845) als Stifters „erstes wirkliches Meisterwerk“. In Der Waldgänger (1847) dagegen sieht Matz erneut den „langen Atem dieser großartigen Prosa“ zugleich als „Ausdruck einer massiven persönlichen Verstörung“.

Die Biografie bleibt eng an historisch-politische Zusammenhänge gebunden. Dies führt notwendigerweise dazu, dass Werkinterpretationen in ihrer Perspektive beschränkt bleiben. Eine Andeutung der vielfältigen, von der Forschung herausgearbeiteten Themen, wäre informativ gewesen. Dies zeigt sich besonders in Bezug auf Stifters Geldsorgen parallel zur Beschaffenheit der Nachsommerwelt. Dass der Nachsommer eine durch Geld konstituierte, zugleich aber sorgenfrei darüber verfügende Welt beschreibt, hätte der Erwähnung bedurft. Dies wirft für Stifters erzählerisches Programm die Frage auf: Kann Ökonomie also auch gelingen? Entscheidend aber ist, dass Stifters „schwankende Stellung zu seiner Epoche“ sich literarisch nicht auf Restauration und Resignation verengen lässt.

Abgerundet wird die Neuauflage von einem bereits 1993 erschienen Beitrag zu „Literatur und Biografie“. In Auseinandersetzung mit dem bekannten Diktum einer von der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft für die Textanalyse marginalisierten Autorschaft setzt sich Matz erneut für eine produktive Parallelbetrachtung von Leben und schriftstellerischem Werk ein. Dabei dämpft er die Hoffnungen auf ein vollständiges Verstehen dieser Zusammenhänge und profiliert die Biografie als „Annäherung an ein Geheimnis“.

An der routiniert geschriebenen Neuauflage der Stifter-Biografie ist auszuloben, dass sie erneut das Wagnis biografisch orientierter Werkanalyse beschreitet, indem sie dieses mitreflektiert und  Biografie und Werk in permanenter Vermittlung begreift. Dennoch wünscht man sich an manchen Stellen ein wenig mehr ironische Doppeldeutigkeit, wie sie für Stifters Leben durchaus angemessen scheint. Gerhard Schulz beispielsweise hat dies überzeugend über die ‚Enigma-Variationen‘ in seiner Kleist-Biografie gelöst. Dass vor allem die Werkinterpretationen gegenüber der Lebensbeschreibung etwas abfallen, liegt im Konzept biografischer Rekonstruktion begründet, das unmöglich beides zu leisten vermag, sich dies aber auch nicht zum Ziel setzt.

Titelbild

Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
392 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317994

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch