Filmisches Erzählen

Irène Némirovsky beobachtet ihre Protagonistinnen schonungslos genau

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der Veröffentlichung des Romans Suite française 2004 (die deutsche Übersetzung erschien ein Jahr später) hat Irène Némirovsky den ihr gebührenden Platz in der Literaturgeschichte einnehmen können – über sechzig Jahre nach ihrer Ermordung in Auschwitz-Birkenau, wohin sie am 17. Juli 1942 zusammen mit neunzehntausend weiteren Jüdinnen und Juden, ein Fünftel waren Kinder, vom Lager Pithiviers ins Vernichtungslager deportiert wurde. Nur wenige Monate später wurde auch ihr Ehemann Michel Epstein abgeholt, nachdem er nichts unversucht gelassen hatte, dass seine Frau freigelassen würde. „Sogar an Marschall Philippe Pétain hatte er geschrieben, der als Staatschef die Führung des mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich kollaborierenden Vichy-Regimes übernommen hatte. Statt erhoffter Hilfe kam das Gegenteil: Nun wurde er in Issy-l’Évêque abgeholt – und im Oktober 1942 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.“ (Sandra Kegel im Nachwort zu Pariser Symphonie. Die beiden Töchter des Paares überlebten. Im Lederkoffer, der ihnen ihr Vater anvertraut hatte mit der eindringlichen Aufforderung, ihn ja nicht aus den Händen zu geben, befanden sich neben Familienpapieren und Fotografien auch Texte, darunter die Suite française. Das umfangreiche Werk der in Kiew geborenen und in St. Petersburg aufgewachsenen Tochter einer jüdischen Bankiersfamilie umfasst fünfzehn Romane und über fünfzig Erzählungen sowie Drehbücher und Skizzen fürs Kino. Aus Letzteren sind im Frühjahr 2016 eine Auswahl von elf Erzählungen aus der Zeit von 1929 bis 1942 erschienen, übersetzt von Susanne Röckel, der es auch hier gelingt, diesen ganz speziellen Ton ins Deutsche zu übertragen.

Musik und Film in der Großstadt in den Dreißigerjahren, das ist die Klammer, die diese Erzählungen zusammenhält. In der titelgebenden Geschichte erzählt Némirovsky von einem Musiker, der eben aus der Provinz in die Stadt gekommen ist, um am Konservatorium Komposition zu studieren. Mario, so sein Name, ist verwirrt, unendlich viele Eindrücke stürzen auf ihn ein, so wird das Geräusch des Springbrunnens zu einer Folge von Tönen und Akkorden, er „sagt laut: ‚Ich werde die Symphonie von Paris schreiben, eines Tages … Ich werde der größte Komponist der Welt sein, eines Tages.‘ Seine Worte werden von den Geigen aufgenommen, die immer lauter und mit fast feierlichem Ernst spielen. Das musikalische Thema erklingt zum ersten Mal.“ Natürlich wird er nicht der größte Komponist der Welt, vielmehr verliebt er sich in Gilda, eine Malerin, verfällt ihr, sie heiraten, führen ein Bohèmeleben, bis er die Prüfung verpatzt und in einem Büro arbeiten muss, seine Frau vergnügt sich, wird die Geliebte des vermögenden Meller, der in einer Bar verkehrt, in der Mario später als Barpianist eine Sängerin begleitet. „Mario fühlt sich einsam und unglücklich“, bis er Pierrette trifft, die Geigerin, die damals die Prüfung gewann. Vielleicht wird es ihm doch noch gelingen, die Pariser Symphonie zu komponieren, endet doch die Geschichte mit den Worten: „Eine freudige und feierliche Hymne beendet die Symphonie.“

Diese Erzählung – wie andere auch – lebt von den schnellen Schnitten, die hier Némirovskys Schreiben ausmachen. Szene folgt Szene, es sind kurze Momente, die in Worte gefasst genaue Bilder entstehen lassen. Ein Sprung – manchmal sind nur wenige Minuten vergangen, manchmal aber viele Monate –, und wir befinden uns an einem ganz anderen Ort, oft auch mit neuen Personen. Dieses tempo- und bildreiche Erzählen zeichnet auch die längste Novelle des Bandes aus, und sie heißt nicht zufällig Ein Film. Film parlé, so der Originaltitel, erschien erstmals 1931 in der Zeitschrift Les Œuvres libres, 1935 in Buchform zusammen mit drei weiteren Filmskizzen. Hier wechseln die Settings manchmal von Abschnitt zu Abschnitt, doch gibt es keine Leerzeilen dazwischen, sodass es einer gewissen Gewöhnungszeit bedarf, um einzusteigen und zu erfassen, wo man sich befindet und wer die auftretenden Personen sind. Im Mittelpunkt stehen die Prostituierte Éliane und ihre sechzehnjährige Tochter Anne, die bei ihrer Tante in der Provinz lebt. Als Anne erkennt, dass die Tante sie schamlos ausnutzt, etwa indem sie ihre Schwester um zusätzliches Geld bittet, weil sie doch in gehobeneren Kreisen verkehren würden, in Wahrheit das Mädchen jedoch in altmodische Röcke steckt, reißt sie aus und sucht ihre Mutter in der Großstadt. Alles dürfte besser sein, so ist sie überzeugt. Sie will wie ihre Mutter leben, ohne dass sie eine Vorstellung hat, was das bedeutet. Allzu schnell werden ihr die Augen geöffnet. In Luc findet sie einen Menschen, der ihre große Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit stillt. Trotz der Warnungen ihrer Mutter heiratet sie – und wird bald schon mit der harten Wirklichkeit konfrontiert. Doch sie lässt ihren Mann und den Vater ihres Mädchens nicht im Stich. Vielleicht wendet sich das Blatt zum Guten, denn Éliane will der hochverschuldeten jungen Familie helfen, sie möchte nicht, dass ihre Enkelin das gleiche Schicksal ereilt wie deren Mutter.

Auffallend ist bei den Geschichten in diesem Band, dass manche am Ende einen Türspalt offen lassen hin zu einem guten Ende – ein besseres Leben, so lässt sich erahnen, ist trotz allem möglich. Das könnte schnell kitschig und moralisch wirken. Dass dies bei Irène Némirovsky nicht der Fall ist, hängt mit dieser ganz besonderen Art des Erzählens zusammen. Neben den raschen Schnitten, die das Tempo vorantreiben, ist es auch das völlige Fehlen von Psychologisierungen, das dazu beiträgt. Die Autorin verzichtet auf Erklärungen, sie stellt dar, lässt die Figuren ihre Schritte tun, auch die Fehltritte, und die Konsequenzen ihres Handelns müssen sie tragen. Widersprüche treten so offen zutage, etwa in der Geschichte Die Jungfern, in der aus der Perspektive einer Tochter erzählt wird, wie diese als Siebenjährige mit ihrer Mutter zurück in die französische Provinz kommt, nachdem der Mann die Familie wegen einer Geliebten verlassen hatte. Mutter und Kind finden Zuflucht bei Tante Alberte. Vier ältere Frauen – zu den beiden Schwestern gesellten sich eine entfernte Verwandte und eine Kindheitsfreundin der Mutter – unterhalten sich über das Leben und die Liebe. Und da wird Camille, die Verlassene, heftig, denn keinesfalls hätte sie tauschen wollen mit den Frauen, die nie geliebt haben und geliebt worden sind.

Alberte, ich habe dir gesagt, dass ich nie glücklich gewesen bin, und es stimmt, es stimmt tausendmal, aber … Das ist nicht das Glück. Das ist etwas, was nur die Liebe dem Leben schenken kann, ein fruchtiger, flüchtiger, saftiger Geschmack, fast ein wenig bitter, der Geschmack junger Lippen […] ihr begreift es nicht. Die Liebe entsteht aus dem Schmerz, nährt sich von Tränen.

Camille leugnet nicht, dass sie unglücklich war, dass sie die anderen beneidet hat um ihr friedliches Leben. Doch tauschen hätte sie nicht wollen. Schmerzendes Glück – von diesem Widerspruch, der das Leben ausmacht, erzählt Irène Némirovsky in diesem Band auf eindrückliche Weise.

Titelbild

Irène Némirovsky: Pariser Symphonie. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Französischen von Susanne Röckel.
Manesse Verlag, München 2016.
221 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783717524120

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