Der Sportweltensammler
Wozu hat der Schriftsteller Ilija Trojanow 80 olympische Disziplinen trainiert und beschrieben?
Von Markus Joch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin irres Projekt: Binnen vier Jahren in allen Einzeldisziplinen des olympischen Programms anzutreten, mit dem Ziel, als Amateur immerhin halb so gut zu sein wie die Sieger von London 2012. Was treibt einen Schriftsteller in den Achtzigkampf? Und wie konnte der Kerl die kühne Idee in die Tat umsetzen, fragt der Neid.
Von gemeinen Schreibtischlurchen unterscheidet Trojanow schon mal die sportaffinere Biografie. Angefixt von olympischer Begeisterung wird er mit sieben, als das bulgarische Flüchtlingskind zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, im München des Spätsommers 1972: „Bernd Kannenberg“, der Geher, „kommt mit dynamischen Schritten näher, die Menschen klatschen, Fahrradfahrer rasen an mir vorbei, die Menschen jubeln“ ‒ ein Schlüsselerlebnis brennt sich ein. Auch waren die Eltern Leistungssportler, und das britische Kenton College von Nairobi, wohin die Familie später zog, legte gesteigerten Wert auf Leibesübungen. Rugby, Hockey, Querfeldeinlauf, im Tennis bringt es der 10-Jährige sogar zum inoffiziellen kenianischen Meister. Da seht ihr’s, Kids, sich früh an den Sportplatz gewöhnen, dann muss man im biblischen Alter von 47 den Athleten in sich nur wiederbeleben.
Doch es braucht 2012 schon einen Anstoß, damit Trojanow nach langen Jahren als nikotinfreudiger Schreiber und durchschnittlicher Fernsehsportkonsument wieder sportlich aktiv wird. Den Anlass liefern die TV-Übertragungen der Londoner Spiele, geistlose Kommentatoren, die nur noch Sieg oder Niederlage kennen. „Der Reichtum menschlicher Phantasie, die jede Sportart zu einem lebendigen Kunstwerk formt, wurde auf einen simplen binären Code reduziert: Daumen rauf oder Daumen runter.“ Wer gewinnt, kommt diesem Zuschauer aber belanglos vor, er kennt sie ja gar nicht, die versammelten Kanuten, Gewichtheber und, und, und. Andere Fragen drängen sich auf: „Was macht den Reiz dieser Sportarten aus? Was erzählen sie vom Menschen? Und: Wie würde ich mich anstellen, wenn ich sie betreiben würde?“
Die Story von der plötzlichen Initialzündung vor dem Fernseher mag stilisiert sein; auch macht es sich zu einfach, wer den „Kult des Siegens“ generell verachtet. Interesselosigkeit kann man sich bei Kurzkarrieren leisten, Leistungssportler können es nicht. Für sie steht wenn nicht zu viel Geld, dann das Mehr an geopferter Lebenszeit auf dem Spiel – und Platz eins oder vier macht da einen Unterschied. Einleuchtend aber ist die Kritik an der Zahlenfixierung, soweit sie sich auf (das unkritische Gros der) Sportmoderatoren bezieht.
Denn deren angemessen sarkastisch beschriebene Mentalität ‒ „der Medaillenspiegel ist das olympische Testament“ ‒ führt im Verein mit goldhungrigen Funktionären zu einem nationalistischen Gequengel, das auch in Rio dräut. Seine Konsequenz hat der Philosoph und Sportsoziologe Gunter Gebauer im August 2006 in der Berliner Zeitung am Beispiel Deutschland benannt:
Wenn der Stand deutscher Sportler im Verhältnis zur Weltspitze zu schlecht ausfällt, scheint das eine Kränkung zu sein. Dann werden die Trainer schlecht gemacht, der Verband diffamiert und Sportler als Olympiatouristen abqualifiziert. Das Abschneiden deutscher Sportler wird ganz naiv gesehen als Repräsentanz der Leistungsfähigkeit des Landes. So lange die Öffentlichkeit den Rekord für das Wichtigste hält, ist das eine Einladung zum Doping.
Wie derselbe Analytiker unlängst ergänzte, macht künstliche Leistungssteigerung in Gestalt großartig aussehender Körper Werbung für sich. Sie ermuntert die Zuschauer, ihrerseits der Selbstoptimierung medikamentös nachzuhelfen. Auch deshalb setzt Gebauer allen künstlichen Formen der Verbesserung das Prinzip entgegen, wonach sportliche Leistung allein durch Training und Talent erworben sein muss (FAZ, 24. Oktober 2014). Nur das natürliche Leistungsvermögen auszuloten und zu akzeptieren, die menschenfreundliche Ethik, findet eine schöne Veranschaulichung im Buch von Trojanow. So sehr es den Ehrgeiz hochhält, so deutlich betont es immer wieder den Moment, wo der Aktive an seine Grenze stößt, den individuellen Punkt, an dem es einfach nicht mehr weitergeht. (Am schnellsten erreicht ihn dieser Athlet beim Bodenturnen.) „Meine Olympiade“ ist ein ehrliches Buch.
Sport vom Konkurrenzdenken zu lösen wirft aber auch poetischen Gewinn ab. Will einer nur sich selbst besiegen und davon berichten, entstehen teilnehmende Beobachtungen, die die Aufmerksamkeit auf das lenken, was über verbotenen Substanzen, Sponsorendiktaten und dem Handaufhalten des Internationalen Olympischen Komitees fast in Vergessenheit geraten ist: die Schönheit der Sportarten, ihre Künste und Tücken.
Bahnfahren in der Gruppe zum Beispiel ist eine Form der Schwarmintelligenz, lernen wir. Beim Badminton ist noch wichtiger als Geschwindigkeit die richtige Platzierung, nicht nur des Federballs im gegnerischen, auch des eigenen Körpers im eigenen Feld. Besonders peinlich auseinander gehen Selbst- und Fremdbild beim Wasserspringen ‒ kann Stefan Raab sicher bestätigen. Zehnkämpfer unterstützen, zumindest als Amateure, auch den Schwächsten im Feld, die Kajakfahrer dagegen lässt Ilijas Dauerkentern kalt. Die Gehergemeinde schweißt der mangelnde Respekt der Außenwelt zusammen; auch die Leistung der notorisch Unterschätzten erklärt Trojanow sympathisch genau, in Treue zu Kannenberg.
Lieber in vielen Disziplinen passabel sein als in einer der Beste ‒ es geht dem Selbstversuch um eine Aufwertung des Diversen. Darin steckt neben der Überzeugung, dass Vielseitigkeit den wahren Olympioniken aumacht, die Lust auf Entdeckungsreisen. „Wieso nur eine Sprache lernen?“, die Begründung fürs Unternehmen, hätte von Richard Francis Burton stammen können, dem Afrika- und Orientforscher, der gleich 29 Sprachen beherrschte, den Trojanow in Der Weltensammler (2006) verewigt hat und an dem er nun merklich Maß nimmt, wenn auch auf ganz eigenen Wegen, als Erkunder der Sportwelten.
Eine Hauptrolle in ihnen spielen die Fremdsprachenlehrer, vulgo Trainer, deren gelassener Kompetenz hier ein Denkmal nach dem anderen gesetzt wird. Viel von Ethnologie hat das Ganze, weil der Anfänger mit dem Alphabet jeder Disziplin auch ihren heiligen Ernst erlernen muss. Schöpft die Schwimmtrainerin Verdacht, „dass sich irgendetwas in Dir dagegen wehrt, Dich dieser Aufgabe ganz hinzugeben“, war es das.
Obgleich der 80er-Parcours verlangt, sich jeder Sportart wohlwollend zu stellen, beginnt sich ein Gefälle von Ge- und Missfallen abzuzeichnen, manchmal zur Überraschung des Betroffenen. Das im Herkunftsland großgeschriebene Gewichtheben etwa findet Trojanow, ganz unbulgarisch, öde. Köcher und Pfeil hingegen haben es ihm angetan. Das Kapitel zum Bogenschießen wird immer länger und zählt zu den kurzweiligsten, da wir hier der Kehrseite des Vergnügens, der Verbissenheit, im plastischsten Erzählmodus begegnen: „Was ist da passiert? Das darf doch nicht wahr sein. Gut, den einen habe ich verzogen, aber die anderen sind alle zu weit oben. Ich muss nachjustieren. Vielleicht liegt’s ja am Visier.“ Inneren Monologen hätte man vielleicht öfter vertrauen können; dies als kleiner Einwand zum ansonsten überaus gelenkigen Erzählen.
Es geht mal wieder schwer weltläufig zu bei Trojanow: Judo in Tokio, Boxen in Brooklyn, Schwimmen in Sri Lanka, der Verlag scheint erfreuliche Vorschüsse zu zahlen. Gut investierte allerdings, denn bei aller Freude an interessanten Orten führen die die globalen Begegnungen vor, was im Mund des IOC zur Phrase verkommen ist: Völkerverständigung. Augenfällig wird das in einer der situationskomischen Szenen ‒ als der Protagonist auf der Teheraner Ringermatte die Hilfe seiner einheimischen Dolmetscherin braucht, „verwirrend umschlungen von meinem Trainingspartner, und sie neben uns kniet, um meinen dröhnenden Ohren auf Englisch eine dringend benötigte Erklärung zu verabreichen“.
Erlaubt war der jungen Frau das Betreten der Trainingshalle nur als begleitende Übersetzerin des Gastes aus Wien, schon deshalb hat sich der Flug gelohnt. Zusammengeführt hat die beiden der Respekt vor der jahrtausendealten Kunst des Ringens, die einige IOC-Mullahs 2013 allen Ernstes aus dem olympischen Programm werfen wollten. Sie ist ihnen nicht telegen genug, missfällt dem Gott der Einschaltquoten und Werbeeinnahmen.
Goldverdächtig wirkt Trojanows Duathlon aus Information und Unterhaltung. So war mir unbekannt, wer das Kraulen nach Europa brachte und wie auf dem Trampolin der Salto vorwärts mit dreieinhalbfacher Schraube heißt: zwei Ojibwa-Indianer und Adolf. Seinen Witz bezieht der Selbsterfahrungsbericht vor allem aus dem Zelebrieren von Fehlleistungen. Da landet der Weitspringer in der Grube des eigenen Unvermögens, schlägt der Tischtennisspieler unschöne Luftlöcher, und mit einem vor dem Triathlon falsch herum angezogenen Neoprenanzug agiert man fast schon Jürgen-Hingsen-mäßig. „Explosiver Start. Der anderen“, die unschlagbare Formulierung zum 100-Meter-Lauf, hätte auch einen guten Titel abgegeben.
Doch wird die Kette der Demütigungen von vornherein durch die Strahlkraft des Gesamtprojekts ausgeglichen, durch kleine Triumphe wie das erste Nichtkentern, Glücksgefühle wie das beim Trampolinspringen ‒ „mein ganzer Körper lächelt“. Eine Heldengeschichte wird uns erspart, aber dafür eine vom Vergnügen der Selbstüberwindung erzählt. Womöglich mit erzieherischer Wirkung auf den ein oder anderen Leser, der auf die 50 zugeht. Zuläuft!, verdammt noch mal.
Anmerkung der Redaktion: Eine Kurzfassung des Textes ist in der „Tageszeitung“ erschienen.
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