„Denn wer redet, ist nicht tot“

Paul Wühr starb 89jährig in seiner italienischen Wahlheimat

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Paul Wühr hat das Gespräch wie das Selbstgespräch gesucht, und er hat es in seine Dichtungen hineingetragen. Seine Gedichte sind lesbar als Dialoge, und seine Gedichtbände sind vielstimmige Gesprächsangebote: „Grüß Gott“ (1976) hieß ein Band, „Rede“ (1979) ein anderer, „Sage“ (1988) ein dritter – er wurde 2015 ins Italienische übersetzt.

Aber auch seine Prosa war vom Dialog dominiert. Da fegten echte kynische Hunde über den Platz der Münchener Freiheit und debattierten mit Niklas Luhmann und dem kleinen „Bucky“ (Richard Buckminster Fuller) über System und Umwelt. „Das falsche Buch“ (1983) kam zum richtigen Zeitpunkt und trug dem Autor den Bremer Literaturpreis ein, welcher sich zu einer Auszeichnung für Autoren der Avantgarde gemausert hatte. Und noch sein „Selbstgespräch“, 1993 unter dem Titel „Wenn man mich so reden hört“ erschienen, entstand im Dialog mit dem jungen Grazer Lucas Cejpek.

Seine ersten Gedichte waren katholische Nachkriegsreprisen und erschienen als zyklische Großkompositionen in schmal aufgebundenen Privatdrucken. Es waren emergente Wortwechsel mit einem Deus absconditus – und sie wirkten auf den nach Bayern eingewanderten niedersächsischen Protestanten dunkel und verwegen.

Noch die frühe Hörspielarbeit kleidete das Zwiegespräch mit Gott in das Gewand sozialer Präsenz des Vaters und des Sohnes: „Gott heißt Simon Cumascach“ wurde 1965 vom Westdeutschen Rundfunk produziert und ließ die großen Stimmen von René Deltgen, Ernst Jacobi und Hannes Messemer erklingen. Religiöse Dogmatik, absoluter Gehorsam und ein rigides Erziehungssystem erinnerten hier an den alttestamentarischen Abraham, und an Isaac, seinen eingeborenen Sohn.

Der Schöpfungsgedanke, der bei jeder Autorschaft nahe liegt, wurde bei Paul Wühr geradezu manisch und mantisch. Nach einem Herzinfarkt zog der pensionierte Lehrer auf seinen Monte Veritá am Lago Trasimeno und produzierte allerdickste Gedichtbände: „Salve res publica poetica“ (1997), „Venus im Pudel“ (2000) und „Dame Gott“ (2007). Dreißig Jahre lebte er mit Blick auf den See und akkumulierte, dem Literaturbetrieb fast ganz entzogen, generische Stöße von Lyrik zu tragenden Wänden von Papier. So trotzt man dem Tramontana!

Nicht nur das Motto dieses Nachrufes, auch die Arbeitsweise erinnert dabei an Gottfried Benn, der zeitweilig für die Schublade schrieb. Doch weit gefehlt, wenn man meint, dass der Alte vom Berge in seiner Weltabgeschiedenheit das Gespräch verlernt hätte. Da war Sancho, der Hauskater, der mit ihm auf Wörterjagd ging. Und gelegentlich pilgerten Leser, die die besondere Herausforderung suchten, nach Passignano und übten sich in dem, was Benn als „philologische Vivisektion“ bezeichnet hätte. Paul Wühr widerstand, und seine Poesie hielt dem mühelos stand. Am Ende kam der Dichter auf den Gottsucher Francis Thompson zurück, der schon an seiner poetischen Wiege gestanden hatte: „Soviel Demut ist zuviel, wird heutzutage kaum empfunden.“

Literaturhinweise

Francis Thompson: Der Himmelhund und andere Gedichte. Ins Deutsche übertragen nach einer Interlinearübersetzung von Holger Klein von Paul Wühr. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2009.

Paul Wühr: Sage. Leggenda. A cura di Nanni Cagnone. Traduzione di Antonio Rossi. Tempere su carta di Sandro Chia. Edizioni Galleria Mazzoli, Modena 2015.

Weitere Hinweise der Redaktion hier (https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=22286).