Literarische Texte als Auslöser soziokultureller Erfahrungen

Der Sammelband „Machen – Erhalten – Verwalten“ beleuchtet Dimensionen einer „performativen Literaturgeschichte“

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das literarische Feld ist durch eine Vielzahl an Komponenten geprägt beziehungsweise wird durch sie beeinflusst. Relevante Faktoren gibt es viele: Neben dem Autor sind unter anderem Verlage, Kritiker, Zeitschriften, der Buchhandel, potentielle und reale Käufer, implizite wie tatsächliche Leser, Bibliotheken, Archive, die Papierherstellung, Dichterhäuser, Literaturmuseen, Literaturpreise und -stipendien, der Deutschunterricht, Literaturfestivals oder gar die Kulturpolitik zu nennen. Die Aufzählung ließe sich problemlos fortsetzen und zeigt, dass eine performative Literaturgeschichte ein weites Feld zu bearbeiten hat. Grundlegend dabei ist sicherlich eine Beobachtung, die der Herausgeber des Sammelbandes Machen – Erhalten – Verwalten, der Heidelberger Germanist Burckhard Dücker, einleitend als These hervorhebt: „Voraussetzung für die Gestaltung des Sozialen durch einen literarischen Text ist stets die Entscheidung des Autors, sein Manuskript einem Verlag anzubieten, was mitunter einen langwierigen und aufwändigen Arbeitsprozess erfordert“. Damit nicht genug: „Insofern ist Literatur als Prozess permanenter Evaluation darstellbar, zunächst durch die Entscheidung des Autors (Selbstevaluation), sein Manuskript einem Verlag anzubieten, dann durch Verlage, Editoren, Kritiker, Literaturpädagogen, Juroren, Übersetzer usw.“

Wegen dieser Vielfalt verknüpft der Sammelband die Vorträge zweier Tagungen zu den Themen „Aspekte einer performativen Literaturgeschichte“ sowie „Naturphilosophie – Naturdichtung“ und geht auf viele diverse „Evaluatoren“ ein, um im Bild von Dücker zu bleiben. Insgesamt vierzehn Beiträge fokussieren Literatur als Konstrukt sozialer und kultureller Prozesse und thematisieren so unterschiedliche Aspekte wie Edition, Verlegerberuf, Kleinverlag, Literaturkritik, Literaturarchiv, Literaturausstellung, Literaturübersetzung, „Internationale Schillertage“, Handschriftenkonservierung, Ethik, Wissen und Natur in der Literatur (mit Schwerpunkt auf dem Werk des Schriftstellers Christian Wagner) sowie „Kulturgeschichte der Kirsche“.

Nachdenklich stimmt beispielsweise der Beitrag der Schriftstellerin Maja Ludwig. Darin zeigt sie durchaus launig und tendenziell desillusioniert die – offensichtlich subjektiv wahrgenommenen – Schwierigkeiten junger beziehungsweise unbekannter Autorinnen und Autoren und führt pointiert aus: „Niemand wartet auf das Buch eines unbekannten Menschen, und nur in seltenen Fällen auf das eines bekannten. Ein Text ist prinzipiell erst einmal überflüssig.“

Dass dem nicht ganz so ist, zeigt der Editionsforscher Roland Reuß, dessen engagiertes Plädoyer für analoges Publizieren auch Wertdimensionen erkennen lässt: „wir wollen, dass Leute sich mit philologischen Fragen intensiv, aufmerksam und geduldig auseinandersetzen“, was auch manche Entdeckungen unbekannter Texte, gerade im Studium, aber auch in der Forschung, impliziert. Gleichfalls informativ liest sich das Interview mit dem Verleger Ulrich Kreider, dessen Kleinverlag ein klares Profil mit ökonomischem Realitätssinn verbindet, ferner der Beitrag von Thedel von Wallmoden „Über die performative Aushandlung von symbolischem und ökonomischen Kapital“. Der Mitbegründer des Wallstein-Verlages zeigt mit analytischer Präzision die Chancen und Probleme von Literaturverlagen auf: „Ich bin der Auffassung, dass Verlage grundsätzlich in zwei zueinander reziproken Märkten agieren. Reziprok sind diese Märkte insofern zueinander, als ein Verlag im Lesermarkt als Verkäufer auftritt, während er im Markt der Autoren und Programminhalte als Käufer agiert.“

Die Rolle der Literaturkritik beleuchtet der Beitrag von Sibylle Cramer, der nach einem Rückblick auf die Geschichte und auf richtunggebende Vertreter der Literaturkritik zu einem ernüchternden Fazit über die aktuelle Gemengelage gelangt: Durch die neuen Medien werde die kulturelle Öffentlichkeit sukzessive umstrukturiert, wobei die Gefahr entstehe, dass aus kritischer Distanz markt- und medienkonforme Laudationen, Jurierungen und Moderationstätigkeiten der Publikationsvielfalt erwachsen.

Trotz oder gerade wegen des Booms von Ausstellungen zu Autoren und Literatur wird immer wieder kontrovers diskutiert, ob Literatur überhaupt sach- und fachgerecht präsentiert werden kann. Vor diesem Hintergrund thematisiert Liselotte Homering an zahlreichen Ausstellungsbeispielen variantenreiche Mittel der Zurschaustellung von Literatur und reflektiert die Potenziale von performativen Literaturmuseen, welche nicht zuletzt eine „Animation der Besucher“ intendieren. Das Resümee Homerings verweist auf Forschungsdesiderata: „Würden aber Literaturausstellungen dazu beitragen, dass der eine oder andere Besucher seine möglicherweise neuen Erkenntnisse oder Anregungen zu vertiefen sucht, indem er die präsentierten Texte liest oder sich anhand weiterer Hilfsmittel informiert, ist vom Erfolg der Ausstellung zu sprechen.“

Ganz andere Akzente setzt unter anderem der Beitrag von Berbeli Wanning, die die Naturlyrik des Schriftstellers Christian Wagners (1835-1918) beleuchtet. Wanning zeigt die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung des Werkes, indem sie den Fokus auf „Literatur als kulturelle Ökologie“ richtet. Sie konstruiert plausibel einen Konnex zwischen  Wagners Diktum von der „größtmöglichen Schonung alles Lebendigen“ und Forschungsansätzen des ecocriticism. Dabei arbeitet sie die Wirkungsmacht des Gedankens einer „durch Natursprache ausgeführten Vervollkommnung der Natur“ heraus, die auf ein „hierarchiefreies Verhältnis von Natur und Kultur“ abziele.

Insgesamt belegt der Band, dass die wissenschaftliche Analyse und Interpretation von Literatur gut daran tut, praxeologische Kontexte und Bezüge stärker zu fokussieren. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben sich durch die diversen „turns“ vielfältige Forschungsparadigmen etabliert. Jedoch fehlen bislang weitgehend holistische Betrachtungsweisen, für die der Sammelband nachdrücklich wirbt.

Titelbild

Burckhard Dücker (Hg.): Machen – Erhalten – Verwalten. Aspekte einer performativen Literaturgeschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
188 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316232

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