Das Interesse an der Interesselosigkeit des Schönen

Julia Schöll skizziert den Metadiskurs von Ethik und Ästhetik um 1800

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Delectare et prodesse. Nach dieser berühmten Formel Horaz‘ besteht die Aufgabe der Kunst darin, zu unterhalten und zu nützen, den Rezipienten während des Vergnügens moralisch zu bilden. Horaz‘ Auffassung von der Kunst findet bis in unsere Zeit sowohl Anhänger als auch Kritiker. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert wehrten sich Künstler und Autoren dagegen, zum bloßen Medium der Ethik erklärt zu werden. Sie pochten auf die Autonomie der Kunst und erklärten mit Kant, dass das „Wohlgefallen […] ohne alles Interesse“ sei. Nach Niklas Luhmann löste sich in dieser Zeit die Einheit von Gutem und Schönem auf und es erfolgte eine strikte Unterscheidung von Ästhetik und Ethik. An dieser These setzt Julia Schölls Studie an, die auf ihre Habilitationsschrift aus dem Jahre 2011 zurückgeht, die mit dem Habilitationspreis der Otto-Friedrich-Universität Bamberg ausgezeichnet wurde.

Die Literaturwissenschaftlerin geht davon aus, dass es trotz der Distinktionsproklamationen eine enge Verknüpfung von Ethik und Ästhetik gibt und dass „vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Unabhängigkeitserklärungen […] Ethik und Ästhetik in eine moderne Auseinandersetzung treten“ konnten, „die in ihren gemeinsamen Aufstieg zum Metadiskurs mündet“, der bis in unsere Gegenwart fortdauere. Die Verbindung des Guten und Schönen erweise sich während der „zweiten Aufklärung“ um 1800 als zentral für ein subjektzentriertes Selbstverständnis. Die Zweckmäßigkeit der Kunst ergebe sich aus der transzendentalen Subjektkonstitution, die sich vollziehe, wenn das Subjekt „in der ästhetischen Erfahrung zum Beobachter seiner selbst“ wird. Das „Interesse an der Interesselosigkeit des Ästhetischen“ zeige sich um 1800 vor allem moralisch.

Julia Schöll stellt für ihre Studie die These auf, „dass es sich bei der Konjunktur des Ästhetischen um 1800 um ein interessiertes Wohlgefallen am Schönen, um eine immer auch ethisch kodierte Ästhetik handelt.“ Die Analyse des ethisch-ästhetischen Metadiskurses vollzieht sie an den vier „paradigmatischen Feldern“ Philosophie, Anthropologie, Religion und Gesellschaft, die sie als repräsentativ für den Diskurs ansieht, auch wenn ihr bewusst ist, dass sie damit nicht den gesamten Diskurs erfasst. Innerhalb der Felder untersucht sie durch close readings, wie das Schöne und Gute in den ausgewählten Texten konstruiert und in Beziehung gesetzt und in innerhalb „eines Diskursfeldes positioniert werden.“ Methodisch orientiert sich Schöll an den Verfahren der Diskursanalyse, ohne jedoch eine Diskursarchäologie betreiben zu wollen.

In ihrem Querschnitt zum ethisch-ästhetischen Metadiskurs stellt Schöll zunächst die theoretische Programmatik anhand von Kants Kritik der Urteilskraft, Schillers Kallias-Briefen und Über naive und sentimentalische Dichtung, August Wilhelm Schlegels Kunstlehre und Schellings Philosophie der Kunst vor. Sie beschreibt darauf den anthropologischen Diskurs um die Liebe durch die Analysen von Schillers Essay Über Anmut und Würde, Caroline von Wolzogens Roman Agnes von Lilien, Friedrich Schlegels Roman Lucinde und Kleists Drama Penthesilea. Kunst und Religion sind Gegenstand ihrer Analysen zu Lavaters Physiognomik, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen sowie Schleichermachers Reden Über die Religion. Abschließend untersucht sie die Gesellschaft als Kunst in Knigges Gesellschaftsentwurf Über den Umgang mit Menschen, Christian Garves Essay Über die Moden, Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen und Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften.

Jeder genannte Text erfährt eine umfassende und gekonnt durchgeführte textnahe Analyse, durch die Julia Schöll ihr Vorhaben des close readings eindrucksvoll umsetzt. Aufgrund dieser Methode ergibt sich, dass die Kapitel ihres Buches in sich geschlossen sind und durchaus für sich stehen könnten. Wegen der Dichte der hermetisch wirkenden Textanalysen zerfällt ihre Studie in einzelne paradigmatische Untersuchungen, die aber nicht zu einem Ganzen zusammengeführt werden. Schöll beschreibt zwar die Texte in ihren Diskursanalysen, unterlässt es aber, ihre Ergebnisse für das jeweilige Diskursfeld zu bündeln und skizziert daher den ethisch-ästhetischen Metadiskurs nur an seiner Oberfläche. Vermisst wird ein die Kapitel verbindender roter Faden, der argumentativ durch die Studie führt und im Hinblick auf die aufgestellte These die Bedeutung der Texte für die gesamte Darstellung begründet. Entsprechend knapp und – angesichts der hohen sprachlichen und wissenschaftlichen Qualität der Interpretationen sowie des betriebenen Aufwandes – auch enttäuschend fällt im Resümee das Ergebnis der gesamten Studie aus, welches die eingangs aufgestellte These bestätigt, dass die im späten 18. Jahrhundert gewonnene Autonomie des Ästhetischen die Voraussetzung dafür war, dass Ethik und Ästhetik Verbindungen eingehen konnten.

Titelbild

Julia Schöll: Interessiertes Wohlgefallen. Ethik und Ästhetik um 1800.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
412 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770553907

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