Metaphern, die im Sand versacken

Vergebliche Suche nach der melancholischen Magie der Meteorologie in Volker Mohrs Novellen

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schlichter, weißer Band mit elegantem Lesezeichen, dessen grüne Farbe hervorragend zum grünen Schriftzug des Titels „Der zerrissene Vorhang“ passt, und auf dem Cover eine kafkaeske Zeichnung: Mit dieser Eleganz lockt der Verlag den ahnungslosen Leser in eine Falle. Stutzig müsste man schon werden, wenn man nur einen Blick auf die literarischen Allgemeinplätze wirft, in denen es laut Verlag in Volker Mohrs Novellen gehen soll: Zwischenbereiche, das Zeitlose, das Unsagbare, Schicksal und Identität. Sieben Novellen mit vielversprechenden, rätselhaften Titeln erwarten den Leser des Bandes.

Gleich die erste Novelle heißt – nicht nur für den Musikkenner einladend – „Präludium und Fuge in D-Dur“, und wenn der Leser nun erwartet, dass diese hochtrabende, bildungsbürgerliche Anspielung auf Was-auch-immer in der Novelle ihre interpretationswürdige Erfüllung fände, liegt er falsch. In dieser ersten Geschichte trifft ein Mann namens Franz Bohlmeier an einem wunderschönen, romantisch bis verklärt kitschig umschriebenen Herbsttag in einer weißen Kapelle – die sich natürlich auf einer hübschen Anhöhe befindet – auf einen Organisten, der hingebungsvoll Johann Sebastian Bach spielt, ohne Bach zu kennen. Wenigstens der Leser sollte Bach kennen – Gershwin und Sousa hätte man ihm nicht zumuten können. Wie es der Zufall will, kennt Bohlmeier den Fremden von einer alten Fotografie aus dem Archiv des Ortsmuseums. Seine Nachforschungen ergeben, dass der fremde Organist, sein Name ist Johann Melchior von Tobel, offenbar schon tot ist. Für den Protagonisten war der Fremde folglich nur Einbildung, und für den Leser alles nur Metapher.

Abgesehen davon, dass diese Enthüllung nach etlichen Andeutungen, die der Autor bis dahin bereits gemacht hat, nicht erstaunt, erfährt jeder Wetterumschwung nach Möglichkeit melancholische Schilderung und wird mit einer Bedeutung aufgeladen, die nicht vorhanden ist. Die milchig schimmernde Sonne, der zarte Windhauch, die bunten Herbstblätter, der feine Regen, das rauschende Meer und der rieselnde Schnee – alles vieldeutig und atmosphärisch. Und wenn das nicht genug verblüfft, macht man eben einfach einen weiteren Absatz und markiert damit die künstlerische Pause.

Das Lieblingswort des Autors ist „sonderbar“, manchmal ersetzt durch „seltsam“. Und an zweiter Stelle steht das Wort „überrascht“. Beschrieben werden angeblich außergewöhnliche Ereignisse aus dem Leben gewöhnlicher Mittvierziger oder Mittfünfziger mit gewöhnlichen Namen wie Feldmann, Feldheim, Mayer, Graf, Buchmann und Bohlmeier (interessant ist hierbei auch, dass die männlichen Protagonisten im Verlauf der Handlung hauptsächlich mit Nachnamen genannt werden, Annette allerdings Annette und Maria weiterhin Maria bleibt). Die Protagonisten haben ein Schlüsselerlebnis nach dem anderen. Wobei fraglich ist, wofür der Schlüssel sein soll. Sie frühstücken und trinken Tee, besteigen dann Berge, wandern im weich aufwirbelnden Sand, blicken über Dünen und das glitzernde Meer in den weiten Horizont – der ihnen leider fehlt –, verirren sich in der Schönheit der Natur, treffen rätselhafte Fremde, finden im stahlblauen Himmel die Erkenntnis ihres Lebens, hören selbstverständlich klassische Musik und wissen ungefähr, was Dodekaphonie ist. Dass dieser Begriff fällt, macht aus Volker Mohr allerdings keinen Thomas Mann mehr und aus Johann Melchior von Tobel keinen Adrian Leverkühn. Die Charaktere sind schwach bis gar nicht umrissen, was dem ohnehin mageren Handlungsstrang der Novellen einen enormen Abbruch tut. Wer denkt, dass diese Leerstellen gefüllt würden, irrt sich. Gerade dann, wenn seine Figuren zu denken beginnen, hält der Autor sie wieder davon ab – so beginnt der Protagonist Buchmann an einer Stelle endlich, über „das Wesentliche“ nachzudenken, „verwirft den Gedanken“ aber wieder. Sonderbar. Mohr legt seinen Protagonisten sinnentleerte Aphorismen in den Mund, die mit großen Worten noch Größeres suggerieren sollen. Tiefe dort anzudeuten, wo es so flach wird, ist jedoch gefährlich und schmerzt im Extremfall. Damit das Ganze also nicht zu poetisch und damit langweilig wird, würzt Mohr seine Novellen mit wahnsinnigen Figuren wie einem Amokläufer, der seine Tat leugnet, und einer Frau, die sich in einem Film sieht, an dem sie nie beteiligt war – natürlich alles allegorisch.

Dass die Motive und Erzählstrukturen sich in jeder Novelle märchenhaft wiederholen und aneinander anknüpfen, macht aus dem Band zwar eine wohlgeformte Symbiose einzelner Geschichten, aber Form reicht nicht aus, wenn die Linie ins Nichts führt. Das Gute: Der schmale Band liest sich an einem Abend und hinterlässt die wohltuende Illusion von einer Welt, in der das größte Problem ist, ob es sich bei dem Vogel im Gras um eine Bachstelze handelt und ob der frische Wind bereits die ersten verschneiten Tage einläutet.

Titelbild

Volker Mohr: Der zerrissene Vorhang.
Loco Verlag, Schaffhausen 2016.
132 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783952417423

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