Auf der Suche nach dem Ende der Nacht

Margriet de Moor zeichnet Erinnerungen einer Liebe nach

Von Sebastian EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Situation: Eine Frau lebt allein im Haus ihres Mannes. Das Paar hat sich im Studium kennengelernt. Sie haben geheiratet, die Frau zog zu ihm ins Haus seiner verstorbenen Eltern, raus aus der holländischen Großstadt in die Abgelegenheit des Landes. Sie begann, nach ihrem Studium ebendort als Lehrerin zu arbeiten. Dann erschießt sich nach kurzer Ehe ihr Mann im Gewächshaus. Die Schwester des Mannes empfiehlt ihr, eine Anzeige aufzugeben, um Männer kennenzulernen und so ihre körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Keine Beziehung, keine langfristige Bindung. Nur eine Nacht.

Mit den ersten Impressionen einer solchen Nacht beginnt Margriet de Moors Erzählung Schlaflose Nacht. Eindrücklich und mit treffenden Worten beschreibt sie in leichtem Ton den Gedankenfluss und die rhythmisierten Handlungen der Frau in der Küche. Sie backt einen Kuchen; das tut sie immer, wenn sie nachts neben den Männern nicht schlafen kann. In der Dunkelheit der Nacht ist sie mit ihren Gedanken allein – nur der Hund leistet ihr Gesellschaft.

Ausgehend von dieser Situation entwickelt de Moor die Gedanken ihrer Protagonistin weiter. In Rückblenden wird die Geschichte beleuchtet, die grundlegenden Motive tauchen facettenhaft immer wieder auf. So ergibt sich eine Gesamtheit aus vielen Elementen, die gut zur Situation passt: In der Nacht wird anders gedacht als am Tage, die Erinnerungen sind näher und luzider. Die Verletzung der Protagonistin wirkt jederzeit nach. Subkutan ist sie enttäuscht von der Liebe. Vor allem aber ist sie unabgeschlossen, es gab keinerlei Anzeichen für den Selbstmord ihres Mannes. So unerklärlich das die Erzählung antreibende Erlebnis ist, so stilvoll und nachvollziehbar wird die nicht vorhandene Kausalität des Buches erzählt.

Die Leserin erfährt von der Schwester des toten Ehemanns, die auf ihre besondere Art als erste die Treffen mit fremden Männern angeregt hatte. Einer dieser Männer ist während der Erzählung schlafend anwesend im Bett. Auch über ihn wird berichtet – die Konturen bleiben jedoch schwach. Er kam am selben Tag am Bahnhof an. Diese Situation schildert de Moor mit treffenden Worten. Es gelingt ihr, die Situation des Wartens am überfüllten Bahnsteig und die Augenblicke bevor man jemand Unbekannt-Bekanntes, eine Freundin aus dem Internet, eine lang nicht gesehene Person oder gar eine Brieffreundin, wieder- oder zum ersten Mal sieht. Die Distanz und zugleich die Nähe aufgrund der völligen Irrelevanz der Begegnung. Man trifft sich, weil man einsam ist. Nicht um eine Beziehung zu beginnen, sondern nur um Bedürfnisse zu befriedigen.

Die Erzählung selbst entwickelt sich auf unterschiedlichen Ebenen. Die Situation in der nächtlichen Küche bildet den Rahmen. Gedankensplitter an den vergangenen Tag mit dem unbekannten Mann sind zeitlich damit verbunden, werden aber kaum ausgeführt. Sie sind jedoch von Relevanz, da sie die Denkanstöße liefern, welche die Protagonistin zu Gedanken an ihren toten Ehemann anregen und die bereits zurückliegende Suchbewegung nach den Umständen seines Todes für die Leserin zugänglich machen.

Auf dieser Ebene liegt die eigentliche Geschichte der Erzählung – verborgen hinter der Schilderung von Alltäglichkeiten und der Beschreibung des Kontakts zwischen der Protagonistin und ihrem Besucher. Und hier wird es dann auch tatsächlich berührend, wenn die Autorin ihre Protagonistin mit ihrem zukünftigen Ehemann regelrecht kollidieren lässt. Die Anziehung zwischen den beiden ist sofort vorhanden, sie verbringen eine kurze, intensive Zeit miteinander, so als hätte es keine andere Möglichkeit gegeben. Alles fügt sich, und schließlich verschwindet der geliebte Mensch wieder aus ihrem Leben. Die Protagonistin fragt sich nur, wieso dies geschehen musste und mit ihr fragt sich das auch Margriet de Moor, die die oben bereits erwähnte Suchbewegung ihrer Protagonistin einleitet. Angetrieben von der Annahme einer Kausalität – wahrscheinlich einer anderen Frau – macht diese sich auf den Weg. Sie findet aber nichts, maximal sich selbst oder das, was sie meint zu sein. Die Protagonistin spricht mit alten Bekannten, merkt, wie sehr sich diese verändert haben und wie sehr sie sich selbst verändert hat. Am Ende löst sich alles in Wohlgefallen auf. Die Erzählung endet in der Küche. Manchmal braucht es solche Auflösungen, die im Nichts enden und deren Ziel die Suche ist. Nicht immer können wir alles auf einen Grund zurückführen. Diese Spannung gilt es auszuhalten.

Margriet de Moor legt mit Schlaflose Nacht ein zutiefst berührendes Buch vor. Dabei verwendet sie kaum Pathos, ihre Sprache ist präzise und nüchtern. Es sind die Zwischentöne, die die Erzählung zu einer großartigen Reise, auch zur eigenen Angst vor der Welt und vor dem Unverständlichen macht. Wie gelingt de Moor das? Die studierte Sängerin und Pianistin, die heute wohl zu den relevantesten niederländischen Schriftstellerinnen gehört, hat ein Gefühl für die Komposition von Texten, das sich sonst eher in Lyrik wiederfindet. In Schlaflose Nacht verschwimmen die Gattungsgrenzen zwar nicht, doch die Anleihen sind deutlich. So überzeugt de Moors Text vollends. Neben dem für eine Erzählung typischen Stil, dem mitreißenden und trotzdem langsamen Erzähltempo und der Anschlussfähigkeit für vielerlei eigene Gedanken beeindruckt besonders die Atmosphäre: Nachts ist alles anders, die Gedanken schweifen ab. Margriet de Moor gelingt es, dieses Abschweifen im Text greifbar zu machen. Das ist nicht nur erzähltechnisch gelungen, sondern auch emotional ergreifend. So wie das gesamte Buch.

Titelbild

Margriet de Moor: Schlaflose Nacht.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
127 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783446252806

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