Die gespaltene Gesellschaft

In seinem mutigen Essay „Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens“ konfrontiert der französische Soziologe Emmanuel Todd sein Land mit unbequemen Thesen

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es zeichnet einen wahren Wissenschaftler aus, wenn er sich trotz größter emotionaler Betroffenheit und schmeichelhafter Anfragen nicht öffentlich an einer hitzigen Debatte beteiligt, sondern monatelang schweigt und in dieser Zeit ein Buch verfasst, das einen sehr viel wertvolleren und substanzielleren Beitrag zu dieser Debatte liefert als es ein emotionales Interview oder ein kurzer Zeitungskommentar tun könnten. Gerade in einer Zeit, in der öffentliche Debatten generell rasch in hysterisches Geschrei ausarten und die jähe Emotion allerorts über die ruhige Überlegung siegt, sollte das als Leistung, als Zeichen des aktiven Widerstands gegen die gefährliche Verflachung und Überemotionalisierung des öffentlichen Diskurses hervorgehoben werden. Emmanuel Todd, einer der führenden Soziologen Frankreichs, hat nach den Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris im Januar 2015 genau das getan. Sein jüngster Essay, auf Deutsch Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens, bezieht sich unmittelbar auf diese Attentate, die Frankreich – und ganz Europa – im Januar 2015 in eine Art kollektive Hysterie versetzten. Der Text ist zweifellos mit allergrößter Emotionalität geschrieben, inhaltlich vertraut er jedoch dem rationalen Argument und der sozialwissenschaftlichen Methodik.

Eine ausführliche, detaillierte soziologische Analyse der kollektiven Hysterie nach den Januar-Anschlägen ist der Essay dennoch nicht. Qui est Charlie? Sociologie d’une crise religieuse, so der Originaltitel, von dem die deutsche Übersetzung im Untertitel aus welchem Grund auch immer leider abweicht, ist eine Streitschrift, die vor dem Hintergrund von Todds früheren Publikationen gesehen werden sollte, etwa Die neoliberale Illusion oder Das Schicksal der Immigranten, in denen er ausführlicher über Themenkomplexe gearbeitet hat, die für Wer ist Charlie? von zentraler Bedeutung sind und das ohne diese einschlägige Expertise auch gar nicht geschrieben werden hätte können, zumal in so kurzer Zeit (der Essay wurde auf Französisch im Mai 2015 publiziert).

Das Buch verzichte bewusst auf einen „akademischen Stil“, heißt es in der Einleitung, Todds Wortwahl ist oftmals drastisch und bewusst provokant, doch sei „der Autor dieses Buches über die Gesellschaft in seinem Land verzweifelt“. Etwas sei passiert mit Frankreich im letzten Jahrzehnt, denn 2005, als in den Problemvierteln Autos brannten und Jugendliche der Banlieus randalierten, zeigte sich Frankreich noch wesentlich ruhiger, „Emotionen blieben Privatsache“. 2015 dagegen kam es zu einer für Todd keineswegs „bewundernswerten“ Mobilisierung der Massen, sondern zu einem „Marsch der tugendhaften Ignoranz“, der Charlie Hebdo und seine Mohammed-Karikaturen „heiligte“, die die „zentrale Figur der Religion einer schwachen und diskriminierten Gruppe“ in Frankreich verhöhnten. Das Land ergab sich Todd zufolge einer kollektiven Hysterie anstatt nach Gründen für die Attentate innerhalb der französischen Gesellschaft zu suchen, obwohl die Attentäter doch „Produkte der französischen Gesellschaft“ waren und damit „in gewissem Sinn pathologische Widerspiegelung der moralischen Dürftigkeit unserer gewählten Führer“.
Man feierte sich selbst, zelebrierte die Demonstrationen als Ausdruck der Einigkeit und Stärke der französischen Gesellschaft. Doch damit „belüge“ sich Frankreich, so Todd, denn die unteren Gesellschaftsschichten – vor allem muslimische Jugendliche – fehlten bei diesen Demonstrationen genauso wie bestimmte Politiker (Marine Le Pen war beim Schweigemarsch in Paris unerwünscht). Die französische Gesellschaft sei zutiefst gespalten und befinde sich in einer großen religiösen Krise, und beides sei eine der Ursachen, aufgrund derer es zu solchen Anschlägen kommen konnte, so der grundsätzliche desaströse Befund, den Todd Frankreich ausstellt.

Die Argumentation, die Todd in der Folge entfaltet, beruht auf seiner bewährten Methode, traditionelle Familienstrukturen, Glaubenssysteme verschiedener Gesellschaftsgruppen und demografische Daten (in diesem Fall unter anderem die Verteilungen der Nein-Stimmen über den Vertrag von Maastricht 1992, der Stimmen für Hollande, Sarkozy und Le Pen 2012, der aktuellen Arbeitslosenzahlen oder der Anzahl der Je-suis-Charlie-Demonstranten nach französischen Departements) miteinander zu vergleichen, Ähnlichkeiten aufzuspüren und zu interpretieren. So kommt er zum Schluss, dass die herrschende Gesellschaftsschicht in Frankreich – jener Teil, der seiner Analyse nach auch die Mehrheit der Charlie-Demonstranten ausmachte – als „MAZ-Block“ beschrieben werden kann, was für „Mittelklasse, Alte und ,Zombie-Katholiken‘“ steht. Der MAZ-Block sei seit Jahren nur noch an der Erhaltung des Sozialstaates für sich selbst interessiert, und zwar durch eine Geld- und Europa-Politik, die auf globaler Konkurrenz beruhe und eine hohe Arbeitslosigkeit in Kauf nehme, unter der folglich vor allem weniger gut gebildete, sozial schwache Gesellschaftsschichten litten, die sich ihrerseits wiederum noch schwächere Gesellschaftsgruppen als Feindbilder suchten, so Todds weiterer Gedankengang. So erkläre sich der Aufstieg des Front National und die stark zunehmende Islamophobie als Teil einer generellen Xenophobie – und in weiterer Folge auch der zunehmende Antisemitismus, der in muslimisch dominierten Problemvierteln beobachtbar sei, in denen von der Gesellschaft zusehends exkludierte Muslime ihrerseits eine noch schwächere gesellschaftliche Gruppierung als Feindbild aufbauen.

Diese Gedankenkette entfaltet Todd in den fünf Kapiteln des rund 200-seitigen Buches, bevor er in einem Schluss-Kapitel als Ergebnis seiner Überlegungen eine Rückbesinnung Frankreichs auf die wahren republikanischen Werte der Freiheit und der Gleichheit sowie die Etablierung einer echten Plurikulturalität von der französischen Politik einfordert, die sich aus ihrer momentanen Lähmung lösen solle, die sich vor allem darin äußere, eine von Deutschland dominierte dysfunktionale Europa-Politik mitzutragen und keinerlei Selbstkritik oder Selbstreflexion zu betreiben. Keine Lösung ist für Todd eine direkte Konfrontation mit dem Islam, die der Front National sucht und die für Todd den Tod Frankreichs bedeuten würde, das in der Vergangenheit immer von seiner kulturellen Vielfalt gelebt hat. Stattdessen fordert er die grundsätzliche Akzeptanz des Anderen und zugleich eine echte Assimilation, die das Recht auf freie Ausübung des Glaubens beinhaltet.

Dass sich Todd mit seinen Thesen, die er selbst in der Einleitung als „überraschend oder vielmehr unbequem“ tituliert, wenig Freunde in der französischen Öffentlichkeit machen würde, war ihm bewusst. Als Wissenschaftler sei er aber der Wahrheit verpflichtet, als Soziologe sei es seine Aufgabe, verborgene Motivationen für gesellschaftliches Handeln aufzuspüren, selbst wenn die Ergebnisse möglicherweise für viele unbequem seien. Die erwartete Ablehnung blieb auch nicht aus und wurde unter anderem vom französischen Premierminister Manuel Valls persönlich formuliert, Mitglied der Sozialistischen Partei, die Todd wenig charmant als „Hauptakteur beim Sturz der nationalen Kultur“ ausmacht.
Inhaltlich beizukommen ist Todds Argumentation – die ja auch bei Weitem nicht allein steht im aktuellen soziopolitischen Diskurs und keineswegs genuin neu oder quergedacht ist – allerdings en gros nicht. Mögen für einige die hergestellten Ähnlichkeiten, mit denen Todd vor allem die Dominanz des MAZ-Blocks beschreibt, vielleicht zu gewagt wirken (sie könnten mit weiteren Statistiken und politikwissenschaftlichen Analysen sehr wahrscheinlich ausführlicher begründet werden), so ist es doch ein großer Verdienst des Essays, Verbindungen herzustellen zu versuchen zwischen Wirtschaftspolitik beziehungsweise Wahlentscheidungen einerseits und religiösen Einstellungen andererseits (selbst oder vielleicht sogar gerade wenn Religion nur noch eine Zombie-Existenz fristet und weniger bewusst als vielmehr unbewusst in unseren Handlungen nachwirkt).

Abgesehen davon sprechen die statistischen Zahlen, die Todd präsentiert, insgesamt doch eine eindeutige Sprache. „Den“ Islam als große Gefahr darzustellen, wie das der Front National tut, entpuppt sich angesichts der Statistik als wahre Farce. Die Assimilation ging in Frankreich in früheren Jahren geradezu in Rekordtempo vonstatten, das zeigen sowohl die Zahlen maghrebinischstämmiger Hochschulabsolventen als auch die Zahl der geschlossenen Mischehen, die um ein geradezu erstaunlich Vielfaches höher liegt als etwa jene der türkischstämmigen Migranten in Deutschland. Frankreich mit seiner Weltstadt Paris, in der im Moment mehr Bürger verschiedener Nationalitäten zusammenleben als in jeder anderen europäischen Stadt, hätte also vielleicht tatsächlich als Vorbild wirken können für den Rest Europas, wäre es bei seinem Kurs geblieben. Vom großen Bedauern, dass Frankreich diesen Kurs längst verlassen hat, ist Todds Essay von der ersten bis zur letzten Zeile getragen, dessen hohe rhetorische Qualität selbst Kritiker anerkennen müssen.

Mit Gewinn zu lesen ist Todds Analyse des gegenwärtigen Frankreich auch für alle Nicht-Franzosen, weil die darin beschriebenen gesellschaftlichen Dynamiken ganz Europa beziehungsweise die gesamte westliche Welt betreffen. Wer ist Charlie? spricht in mutiger Klarheit für viele unangenehme Thesen aus, die einmal mehr auch Todds prophetische Fähigkeiten bestätigen. Denn wie groß die Spaltung, die Todd exemplarisch für die französische Gesellschaft darstellt, innerhalb der europäischen Gesellschaften allgemein inzwischen ist, zeigte jüngst gerade das britische Referendum über den EU-Austritt, den die älteren gegen die jüngeren Briten durchsetzten. „Inzwischen ist jede Art des Zerfalls denkbar“, heißt es bei Todd, der in seinem Essay auch daran erinnert, dass Karikaturen schon einmal in der europäischen Geschichte die Vorboten für Verfolgung und Krieg waren – damals waren es Juden mit Hakennasen. Die Ablehnung, die Todd, in Frankreich aufgrund des Essays persona non grata, in seinem Land mit seinem Buch erfahren hat, das Verweigern eines echten, auch selbstkritischen Diskurses der französischen Gesellschaft über die Januar-Anschläge und das hysterische Diktat, sich als Franzose öffentlich als Je-suis-Charlie deklarieren zu müssen, lassen fürchten, dass sich auch diese seine Prophezeiung eines Wiedererstarken des Antisemitismus als Folge der rasant zunehmenden, gefährlichen Islam-Hetze bewahrheiten wird. Spätere Generationen werden dann – auch das hätte es dann schon einmal in der europäischen Geschichte gegeben – feststellen, dass die heutige Gesellschaft taub war für jene warnenden Stimmen der Vernunft, von denen Emmanuel Todd mit seinem Essay zweifellos eine der deutlichsten ist.

Titelbild

Emmanuel Todd: Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens.
Übersetzt aus dem Französischen von Enrico Heinemann.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
236 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783406686337

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