Misstrauen und Verzeihen

Jeanette Winterson variiert Shakespeares „Wintermärchen“ in einem zeitgenössischen Kontext

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Shakespeares Geister treiben weiterhin ihr Unwesen. Seine Stücke sind beliebte Folien für theatralische Adaptionen und seine Person ist Gegenstand von allerlei Hypothesen und Mystifikationen. Letzteres mutet zuweilen etwas bemüht an – die anhaltende Faszination dieses Dramatikers ist aber unverkennbar. In diese Kerbe schlägt auch eine Buchreihe, die seine Stücke als zeitgenössische Romanadaptionen präsentiert – gleich zu Beginn mit Jeanette Wintersons Vergegenwärtigung von Shakespeares Wintermärchen.

Zwei elementare Kräfte halten sich in diesem späten Stück von 1610/11 die Balance: Misstrauen und Verzeihen – wobei letzteres rettet, was erstes zerstört. Die verzwickte Handlung lässt sich in aller Kürze wie folgt umreißen: Der sizilianische König Leontes misstraut seiner schwangeren Gattin und glaubt allen Ernstes, das zu erwartende Kind sei die Frucht des zu Besuch weilenden Freundes, des böhmischen Königs Polixenes. Er verstößt die neugeborene Perdita, worüber die Gattin verstirbt. Etliche Zeit später verlieben sich Perdita und Polixenes’ Sohn Florizel aus Zufall und gänzlich im Ungewissen über die Komplikationen, die sie schließlich zu entwirren vermögen. Die Geschichte endet in Minne, doch: „Ein jeder frag’ und höre, welche Rolle / Wir in dem weiten Raum der Zeit gespielt / Seit wir zuerst uns trennten.“

Genau für solche Fragen eignet sich Jeanette Wintersons Roman-Adaption hervorragend. Sie folgt präzise dem Original und aktualisiert die 400 Jahre alte Geschichte zu neuer Dringlichkeit. Aus dem Königtum wird das Reich des Investmentbankers Leo sowie die virtuelle Spielwelt des Gameentwicklers Xeno. Die zwei ungleichen Freunde werden durch das Neugeborene entzweit und am Ende wieder zusammengeführt, weil die Kinder es so wollen. Aus Sizilien wird eine Firma namens „Sicilia“ und Böhmen erneuert sich zu einem kreolischen Ort namens New Bohemia, wo Perdita beim schwarzen Barbesitzer Shep und seinem treuherzigen Sohn aufwächst. Winterson achtet darauf, dass jede Dramenfigur und jeder Winkelzug eine aussagekräftige Entsprechung erhält. Der Gauner Autolycus wird durch einen gleichnamigen Autohändler verkörpert und die Edelfrau Paulina wird zu Leos Teilhaberin Pauline.

Die Antriebsquelle für das Drama ist jedoch die raffgierige Überheblichkeit von Leo, der den Geist der Londoner Bankenwelt spiegelt und sich selbst im Misstrauen gegenüber allen und jedem gefangen hält. In seinem Gegenspieler Xeno lässt Winterson ihre Vorliebe für Shakespeares Maskeraden spielen, indem sie ihn zum bisexuellen Außenseiter und Aussteiger stempelt, der aber letztlich ebenso unfähig ist wie Leo, seine Empfindungen zu zeigen. Das Computerspiel namens „Der weite Raum der Zeit“, das Xeno programmiert, symbolisiert mit seinen schwarzen und weißen Engeln die manichäische Welt der beiden Kontrahenten, in der der Fall, das Fallen, die Falle zur Leitmetapher werden. „Fall in love. Fall out of love. Tomber amoureux. Warum eigentlich fallen?“, fragt Xeno mit Verwunderung, um zu folgern: „Alles, was wir tun, ist im Grunde ein Fallen.“

Leo und Xeno sind Getriebene, der eine durch sein Erfolgsstreben, der andere durch seine Ungebundenheit. Unversöhnlich und rechthaberisch trotzen sie der Umwelt. Gegen Ende fragt Xeno vielsagend: „Das sind die Fakten, aber sind es auch Wahrheiten?“ Wer wäre demnach Perditas Vater: der zeugende Leo, der vermeintliche Xeno oder doch nicht etwa Shep, der die Kleine von der Straße aufliest und auf Anhieb liebt, woher das Kind auch kommen mag. Im Tatbeweis liegt die Wahrheit, der Rest sind bloße Fakten, lässt sich das Dilemma auflösen. Es ist erstaunlich und faszinierend zu lesen, wie exakt Jeanette Winterson die Stimmung und die Mechanik der Shakespeare’schen Komödie übernimmt und doch etwas gänzlich Neues daraus macht. Sie spielt souverän mit dessen Elementen und verleiht ihnen auf ebenso elegante wie gewitzte Weise neue Kraft.

Natürlich lässt sich einwenden, dass ein Stück ein Stück und ein Roman ein Roman sei. Die Kluft zwischen den Genres ist diesem Buch durchaus anzumerken. Die Differenz wird erst recht durch die Komödie manifest, die mit einem Happyend das Publikum versöhnt, was in Romanform leicht pathetisch, ja kitschig wirkt. Das trifft auch auf dieses Buch zu.

Die performative Anlage des Stückes bleibt spürbar, indem auch die Prosa rafft und überzeichnet. Vielleicht ist Der weite Raum der Zeit deswegen kein perfekter genuiner Roman, doch ein vor klugen Einfällen sprühendes Buch auf einer Shakespeare-Folie, welches Eigenleben entwickelt und am Ende durch die Vertraulichkeit der Autorin eine zusätzliche Qualität gewinnt. Wintersons intime Faszination für diesen Stoff findet sich in einer Bemerkung, die vor das allerletzte Kapitel eingeschoben ist. Das Wintermärchen, schreibt die Autorin, sei seit Jahrzehnten ein „sehr persönlicher Text“, denn: „Es ist ein Stück über ein Findelkind. Auch ich bin eins. Es ist ein Stück über Vergebung, Zukunft und darüber, wie beides ineinandergreift. Zeit ist umkehrbar.“ Ihr berührendes Warum glücklich statt einfach nur normal? erzählt von diesen Erfahrungen, die Jeanette Winterson auch im Shakespeare-Stück wiederfindet. 

Eine Geschichte könne nur auf drei Arten enden: „Rache, Tragödie. Vergebung. Mit Rache und Tragödien kannte sich Shakespeare bestens aus.“ Winterson verlegt den Schwerpunkt auf die Vergebung, dies verleiht ihrem Roman bei aller ekstatischen Schrillheit etwas sehr Warmes und Verletzliches.

Titelbild

Jeanette Winterson: Der weite Raum der Zeit. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Sabine Schwenk.
Knaus Verlag, München 2016.
384 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813506730

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch