In Glut und Farbe gemalt

„Nolde. Der Maler“ – ein prächtiger Text-Bild-Band aus dem Brücke-Museum Berlin

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Emil Nolde ist der Maler des Nordens. Aufgewachsen in der norddeutschen Küstenlandschaft zwischen Nord- und Ostsee, ist er zwar oft genug aufgebrochen in ferne Gegenden, aber immer zog es ihn zurück in seine heimatliche Landschaft, in der er zu seinem unverwechselbaren Stil finden sollte. Das weite, flache, einsame Land zwischen den Meeren, der hohe Himmel und die ewig bewegte See, Symbol unbezähmbarer Naturgewalt, die zyklischen Rhythmen der Natur, Gezeiten und Jahreszeiten, das Hintergründige und das Legendäre dieser nordischen Schicksalswelt haben in seinen Bildern stets die bestimmende Rolle gespielt. Es genügte „eine vage Vorstellung nur in Glut und Farbe“, so Nolde, um den Bilderstrom seiner Fantasie auszulösen. Die Erregung, die ihn vor der Natur erfasste, äußerte sich als Extase. „Die Skala der Farben und eine leere Leinwand waren mir wie ein Kampf gegeneinander“. Den Anforderungen des drängenden Bilderstroms wurde der Pinsel nicht mehr gerecht. Mit Fingern, dem Handballen, Papp- oder Lederstücken hat er die Farbe pastos aufgetragen, deren Leuchtkraft expressiv gesteigert ist.

Es ist kaum zu glauben, dass die jetzige Ausstellung „Emil Nolde. Der Maler“ im Brücke-Museum (bis 23. Oktober, vom 5. November 2016 bis 5. Februar 2017 wird sie dann im Kunstmuseum Ravensburg gezeigt) die erste Gemälde-Retrospektive von Nolde in Berlin sein soll, obwohl sein Werk ja in den letzten Jahrzehnten hier – in unterschiedlichen Themenbereichen, Schaffensperioden und Gattungen  – facettenreich präsentiert wurde . Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt mit der Nolde Stiftung Seebüll und zeigt auch Gemälde aus dem Nachlass von Noldes zweiter Frau Jolanthe, die vor zwei Jahren als Dauerleihgaben in die Sammlung des Brücke-Museums eingefügt werden konnten. Mit mehr als 70 Gemälden und Papierarbeiten kann Noldes Selbstverständnis als „nordischer Künstler“, sein tiefes Erleben der heimatlichen Landschaft, ihrer Menschen, ihrer Spuk- und Sagengestalten, der Ostsee in ihren wechselnden Stimmungen vorgestellt werden. Von der impressionistischen, lichtsprühenden Malweise wird sein Weg zur Befreiung der Farbe und zur expressiven Geste verfolgt.

Der von der Direktorin des Brücke-Museums, Magdalena M. Moeller, verfasste Katalog-Text untergliedert das malerische Werk Noldes in die Themenbereiche „Aufbruch“ (Noldes Frühwerk bis zu seinem Aufenthalt in Lildstrand 1901), „Die bunten Jahre“ (Noldes endgültige Hinwendung zur Farbe mit der Übersiedlung auf die Insel Alsen), „Religiöse Visionen“ (Noldes biblische Bilder, seine Hinwendung zu einer Welt der inneren Vorstellungen) „Das Wesentliche“ (die Darstellungen der Berliner Vergnügungswelt im Winter 1910/11), „Instinkt und Urgewalt“ (Noldes Figurenstillleben, seine Südseereise und ihr künstlerischer Ertrag), „Ferne Gestalten“ (Das Groteske und Phantastische in Noldes Kunst), „Innerer Einklang“ (die Einheit von Empfindung, Wirklichkeit und Bild in Noldes späterem Schaffen) und fügt ihnen jeweils  einen großformatigen Tafelteil bei. Diese Tafelbilder werden von Texten des Künstlers selbst, von Freunden und Sammlern (Rosa Schapire, Hans Fehr, Gustav Schiefler), Künstlerkollegen (Paul Klee), Kunstkritikern und –historikern (Max Sauerlandt, Werner Haftmann) begleitet, die eine wesentliche Interpretationshilfe für die abgebildeten Gemälde und Aquarelle darstellen.

Während sich der profunde Beitrag von Magdalena M. Moeller mit dem malerischen Gesamtschaffen Noldes beschäftigt, sollen hier – sozusagen beim Blättern in dem großzügig ausgestatteten Band von Tafelwerk zu Tafelwerk, von Bild zu Bild – einige Gedanken geäußert werden, die sich dem Leser und Betrachter der Bilder  vielleicht als orientierend erweisen könnten.

Noch auf der Ostseeinsel Alsen, die er mit seiner Frau Ada von 1903 bis 1916 bewohnte, sind Noldes frühe Blumen- und Gartenbilder entstanden. „Ich liebte die Blumen in ihrem Schicksal emporsprießend, blühend, leuchtend, glühend, beglückend, sich neigend, verwelkend, verworfen in der Grube endend. Nicht immer ist ein Menschenschicksal ebenso folgerichtig und schön“. Er begann sich hier mit der Farbe auseinanderzusetzen, mit ihrer physischen Präsenz, ihrer Ausdruckskraft und emotionalen Ausstrahlung. Das leuchtende, mitunter glühende Kolorit der Blumen im Sonnenlicht führte zur expressiven Steigerung und gab ihm den entscheidenden Impuls, das Eigenleben der Farbe für sich neu zu entdecken. Farbe wird hier als emotionsgeladene Materie erlebt.

In Ruttebüll, einem kleinen Dorf an der Westküste, unweit seines späteren Wohnsitzes Seebüll, auf dem er dann von 1926 bis zu seinem Tode leben sollte, entstanden insgesamt 1909 Bilder der friesischen Landschaft: Darstellungen der Marsch mit ihren Sielzügen, ihrem hohen Himmel, breit gelagerten Bauernhöfen oder den Tieren auf den Fennen. Während eines Hamburg-Aufenthaltes im gleichen Jahr hat Nolde Dampfer, Schlepper oder Barkassen auf der Elbe mit ihren schwarzen, von Sturmwind verwehten Rauchwolken und dem aufschäumenden Kielwasser unter dem Bug festgehalten. Sie bringen die Betriebsamkeit und die Hektik des Hafenlebens zum Ausdruck. In dem Bild Qualmende Dampfer (1910) entsteht aus quirlenden Pinselbewegungen, die die Dynamik der Wellen bis in den Horizont weiterführen, die Rauchfahne eines Schleppers. Äußerste Spannung wird hier als eine magische Fläche beschworen und die farbliche Qualität bis an die Grenzen des Möglichen gesteigert.

1910/11 schuf Nolde eine Folge von Bildern, die er Herbstmeere nannte und die bis an den Rand der Gegenstandslosigkeit gehen: bewegte Meere mit glühenden Sonnenuntergängen, das Brausen der Wellen, die sich stets wandelnden Wolkenformationen, das Ineinanderübergehen oder Aufeinandertreffen der Elemente am Horizont. Die Farbe hat hier einen eigenständigen Bildwert erhalten, hinter dem die Motivschilderung zurücksteht. Fasziniert vom unerschöpflichen Gestalt- und Farbenreichtum des Meeres suchte Nolde auch später immer wieder nach adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten für das Urzuständliche und fand sie in der lebhaften Pinselführung und im pastosen Farbauftrag wie in der vehementen Dramatik des Kolorits mit irisierenden Reflexen aus Weiß, Gelb, Blau und Rot. Hier existiert keine Distanz mehr zwischen Mensch und See, der Betrachter befindet sich inmitten des tosenden Meeres, das ihn von allen Seiten umgibt, während sein Blick doch nur einen Ausschnitt aus der Unendlichkeit zu erfassen vermag.

Nicht mehr Formauflösung, sondern Formverfestigung, Vereinfachung und Verdichtung bestimmen dann die Gestaltung seiner Bildnisse und Figurenbilder. Über das unmittelbare, momentane Seherlebnis hinaus wollte Nolde das Wesentliche und Allgemeingültige ins Bild heben. Die Gemälde Marktleute und Bauern (Viborg) (beide 1908) zeigen schon die gleitenden Übergänge zwischen Alltäglichem und Fantastischem. Bereits die karikaturhafte Überzeichnung der typisierten Physiognomien der zusammenstehenden Marktleute genügt, um etwas Unheimliches und Gefährliches ins Bild hineinzubringen. Doch diese Arbeiten mit ihren karikaturistischen Übersteigerungen bilden nur eine Vorstufe zu den seit 1912 „allein mit den Farben“ und „jenseits von Verstand und Wissen“ (Nolde) geschaffenen Bildern mit fantastischen Motiven. Ihre beunruhigende Spannung ergibt sich sowohl aus der grotesken Konfrontation der Figuren als auch der Ausdruckskraft der grellen Farbkontraste.

Schon in seinem Bild Vor Sonnenaufgang von 1901 beleben frei erfundene Fantasiegestalten die Bildwelt. Nolde hatte damals den Sommer am Lildstrand verbracht, einem einsam gelegene Fischerdorf an der Nordküste Jütlands, und sich in einen rauschhaften Zustand hineingesteigert, in dem Wahrgenommenes und Fantasiertes ineinander überzugehen begannen. Urtümliche Naturwesen sollten von nun an seine fantastisch-grotesken Arbeiten bevölkern. Er sah sich von Gesichtern umgeben: „wohin ich schaute, die Natur war belebt, der Himmel, die Wolken, auf jedem Stein und zwischen den Zweigen der Bäume, überall regten und lebten in stillem oder wildem lebendigen Leben meine Gestalten, die mich in Begeisterung versetzen und auch plagend nach Verbildlichung riefen“. Diese Traum-Gesichte werden wohl auch von alten Sagen inspiriert worden sein, doch zumeist sind sie Erfindungen aus einer persönlichen Erfahrung der Natur.

Nolde, dem das Leben auf dem Lande Geborgenheit und Sicherheit, vor allem ein Leben im Einklang mit der Natur bot, fand im Winter 1910/11 in Berlin ein neues Thema: die Vergnügungswelt der Metropole, die Großstadt als „Hure Babylon“, die Kälte und Anonymität der modernen Zivilisation. „Ob Halbwelt oder ganz verdorben, ich zeichnete die Kehrseite des Lebens“. Es entstanden Gemälde wie die Slowenen, ein verlorenes Paar in einer fremden Welt, Am Weintisch in hektischem Malstil, wie er Kirchners Straßenbildern eigentümlich ist, Publikum im Cabaret mit grotesk-maskenhaften Gesichtern oder Gesellschaft (alle 1911) im Kreuzfeuer totaler Beziehungslosigkeit – jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt.

Ekstatisch wirbeln Noldes Kerzentänzerinnen (1912) umeinander, scheinen über den Bildrand hinauszustreben – sie sind  rasenden Mänaden vergleichbar, den mythologischen Begleiterinnen des Dionysos, des griechischen Gottes des Weines und der Fruchtbarkeit.  Lebensgroß und um ein Vielfaches heißer finden sich die kleinen Flämmchen der Kerzen in den zuckenden Körpern der Tänzerinnen wieder. In der ausgelassenen, enthemmten Sinneslust, dem Entfesselten, Rauschhaften lässt dieses berühmte Bild an Friedrich Nietzsches „Zauber des Dionysischen“ denken.

Ins Auge fallen bei Nolde die stark vereinfachten Gesichter und Körper, die an Kinderzeichnungen erinnern. Der Rückgriff auf „primitive“ Formen sollte den Ausdruck steigern und zugleich zu den Grundlagen der seelischen, geistigen und Lebensverhältnisse zurückführen. Vor allem die Farbe wurde ihm zu einem psychischen Ausdrucksmittel, seine Porträts ließ er zu „sprechenden“ Farbflecken werden. Eine knisternde Spannung entfaltet sich zwischen der Hieroglyphe der Figur und der Fläche, zwischen Farbe und Papierweiß, Linienzug und verschwimmender, raumloser Ebene. Das Darunter und das Dahinter ist das Tragende, die Farbe in ihren schwimmenden Ebenen und ihren schroffen Konfrontationen. Vor allem in den Aquarellen mit ihrer so zarten Materie, dem in Wasser gelösten Farbkörper auf leichtem Papierblatt oder auf saugfähigem, dickem Japanpapier gelingt Nolde ein erster großer Höhepunkt.

Nolde wollte mit seinen Darstellungen Gesehenes, Momenthaftes einfangen und nichts interpretierend aussagen. Aber zugleich das für ihn Wesentliche und Allgemeingültige ins Bild bringen. Mitunter genügt bereits die karikaturhafte Überzeichnung der Physiognomie, um den Eindruck des  Unheimlichen und Gefährlichen auszulösen. Sein Expressionismus entspringt – zumindest in den damaligen Berlin-Bildern – mehr der Farbe als der Form. Wenige Farben reichen aus, um das zu vermitteln, worauf es Nolde ankommt. Die Spannweite der Ausdrucksmöglichkeiten der Bildsprache wird er sich dann in den folgenden Jahren in der Gegenüberstellung so unterschiedlicher Arbeiten wie der Aquarellfolge der Südseereise, den wild tanzenden Mädchen (Kerzentänzerinnen) oder der Leute im Dorfkrug weiter erarbeiten. Seine Farbenstürme sollten den Norddeutschen weltbekannt machen.

Ein weniger bekanntes Kapitel in der Malerei Emil Noldes sind seine Figurenstillleben, denen er sich selbst passionierter Sammler von kunstgewerblichen Gegenständen aus aller Welt Jahrzehnte lang widmete. Das Malen nach Objekten, seien es nun museale Zeugnisse der Volks- und Hochkulturen Nord- und Südamerikas, Ostasiatika, der Stammeskunst aus Afrika und Ozeanien oder Objekte aus der eigenen Figuren-, Puppen- und Maskensammlung machte ihm immer wieder Freude. Ideenreich experimentierte er mit Farben und Formen, Ornamenten und Strukturen, subtil balancierte er die unterschiedlichen Spannungsverhältnisse der Skulpturen und Objekte aus. Aus der Vielfalt der Formen und Materialien sollte wieder ein multikultureller Zusammenklang, aus der Polarität wieder ein Dialog hervorgehen. Indem er die Dinge mit koloristischer Raffinesse magisch durch seine Malerei belebte, sie wie auf einer Bühne agieren ließ, sie zu ungewöhnlichen, mitunter surrealen und grotesken Verabredungen zusammenführte, erweiterte er den traditionellen Begriff des Stilllebens und schuf die Voraussetzungen einer multikulturellen Malerei.

Noldes künstlerische Beschäftigung mit exotischen Figuren setzte 1910/11 ein, als er nach Skulpturen im Berliner Völkerkundemuseum zeichnete. Hier konnte er die Formensprache ferner Kulturen eingehend studieren, und zugleich beflügelte sie seine Imagination.

Diese Studien dienten ihm dann als Vorlage für seine noch vor der Südseereise 1913/14 geschaffenen Stillleben-Bilder mit exotischen Figuren, Fetischen und bizarren Masken. In dem Stillleben Exotische Figuren II (1911) wird eine Kachinafigur der Hopi-Indianer aus Arizona von einem flächig gemalten Katzenpaar mit furchteinflößenden Fangzähnen misstrauisch beäugt, während die auf wenige kubische Elemente reduzierten, kantigen Formen der afrikanischen Figuren in Mann, Frau und Katze sowie Mann, Fisch und Frau von 1912 durch das jeweilige Tiermotiv miteinander verbunden sind. In Mann, Frau und Katze hat Nolde ein Motiv aus dem Thron des Königs Njoya aus Bamum im Nordwestkameruner Grasland verwendet, während die Katze auf eine ebenfalls im Berliner Völkerkundemuseum befindliche Schnitztür aus Nigeria zurückgeht. Nolde interessierte nicht die originalgetreue Wiedergabe der außereuropäischen Objekte, sondern der Ausdrucksgehalt, den er durch seine Farbwahl, das Arrangement, die Kombination beziehungsweise die Synthese der Skulpturen verstärken wollte.

Im Anschluss an einen Atelierbesuch bei dem belgischen Maler James Ensor in Ostende entstanden mehrere Maskenstillleben; das erste (1911) zeigt in einer diagonal in die Tiefe führenden Anordnung fünf an Schnüre aufgehängte Faschingsmasken, deren unterschiedlicher mimischer Ausdruck die Skala menschlicher Gefühle von hämischer Freude, grimmiger Heiterkeit, ungläubigem Erstaunen, mürrischer Skepsis bis hin zu blankem Entsetzen umfasst. Dabei erinnert die mittlere, in Rottönen gehaltene Physiognomie unverkennbar an Edvard Munchs epochales Werk Der Schrei. Der Missionar (1912) wiederum, eine Karikatur auf den Kolonialismus,  gibt eine Tanzmaske der Bongo aus dem Sudan, eine nach einer kleinen Skulptur der Yoruba aus Nigeria modellierte Mutter mit ihrem Kind auf dem Rücken und einen im Original riesengroßen Wegegott aus Chemulpo in Korea wieder; in letzteren hat Nolde einen missionierenden Europäer unter einer  grässlich blutroten Maske versteckt, der die verängstigte Afrikanerin von ihrer angestammten Gottheit entfremdet und zum christlichen Glauben bekehrt. 

Im Gegensatz zu Paul Gauguin, der 1891 Frankreich verließ und zur „Insel der Seligen“ nach Tahiti aufbrach – er wollte dort zum Eingeborenen werden –, hatte der Norddeutsche Emil Nolde nie die Absicht, nach einem fernen Arkadien zu entfliehen. Als er und seine Frau Ada 1913 mit einer „medizinisch-demographischen“ Expedition nach Deutsch-Guinea reiste, damals eines der kolonialisierten „Schutzgebiete“ des wilhelminischen Kaiserreichs in der Südsee, hatte er ganz andere Beweggründe: Er war auf der Suche nach Urexistenzen des Menschlichen, nach „Urvölkern“, die noch im Einklang lebten mit der Natur. Der Rückgriff auf „primitive“ Formen sollte den Ausdruck steigern und zugleich zu den Grundlagen der seelischen, geistigen Lebensverhältnisse zurückführen. Eine originäre Welt jenseits der Kälte und Anonymität der modernen großstädtischen Zivilisation sollte in der Kunst entstehen.

In den Gemälden suchte Nolde das Mythische sichtbar zu machen, das ihm in der exotischen Natur entgegentrat, das metaphysische Empfinden der Ureinheit Mensch – Natur zum Ausdruck zu bringen. In Tropenwald lockt der Dschungel mit seinem in alle Richtungen wuchernden Grün, dessen leuchtender Komplementärkontrast die beiden auffliegenden knallroten Papageien sind, aber gleichzeitig hemmt die Angst vor dem Unbekannten am tieferen Eindringen in die Vegetation. In Buschweg und Krokusblüte ist der Dschungel nicht mehr so abweisend, er lädt ein in eine gebändigte „Urnatur“, in die sich auch der Maler hineinwagt. In Tropensonne (alle 1914) blickt der Betrachter in Meeresspiegelhöhe auf einen faszinierenden Sonnenuntergang. Über den Baumwipfeln steht die Sonne als glutroter Ball inmitten einer strahlenden Aura. Eine intensiv orange-gelbe Wolke spiegelt dagegen das Farbenspiel der gerade unter den Horizont gesunkenen Sonne. Nolde hat die Farben in großen Flächen aufgetragen und nicht wie in seiner norddeutschen Heimat expressiv übersteigert.

Demgegenüber sind die Figurenbilder ausgesprochen dunkel in ihrer Farbigkeit. In Familie (1914) verschmelzen die auf dem Boden sitzenden Insulaner ganz mit dem Bildgrund. Aus den dunkelbraunen Flächen leuchten nur die roten Lippen, das Weiß der Augen und Zähne des Mannes hervor. Angst und Aggression mischen sich in seinem suggestiv bohrenden Blick.

Nolde hat die atemlose Spannung gegenseitiger Fremdheit in seine Malerei übertragen, er wollte – anders als in seinen nordischen Bildern – eine Distanz zum Betrachter herstellen.

Wollte er zunächst ein Kaleidoskop von Formen und Typen zwischen Figur und Maske schaffen, setzte der Künstler ab 1915 Figuren aus aller Welt neben Blumen aus dem eigenen Garten. Durch Verfremdungs- und Verkehrungseffekte verloren die Stillleben zusehends ihr dramatisches Pathos und das Anekdotische zugunsten einer stilleren, gesammelten Schau.

Von der multiethnischen Gruppendynamik ging er zum Wechselspiel von Kultur und Natur über. Die „Urvölkerkunst“ verband er zunehmend mit seiner nordischen Phantastik, er bezog „biblische und Legendenbilder“ mit ein und ging schließlich vom Stillleben ganz zum  freien Figurenbild über. Diese „Ausflüge ins Traumhafte, ins Visionäre, ins Phantastische“ zeigen Noldes Meisterschaft in  Farbtemperatur und Lichtregie, in Korrespondenzen oder Asymmetrien.

Immer wieder ging es Nolde darum, ein Drama höchster  exemplarischer Emotionen zu schaffen. Während Arnold Böcklins Triton, eine Nereide auf dem Rücken tragend (1857) uns in mediterrane klassische Welten führt, ist Noldes  Meerweib (1922) in der nordischen Sagen- und Seenwelt zu Hause und macht die Urgewalt des Meeres fühlbar. Der Strand wird bei Nolde oft zu einem Ort fantastischen Zusammentreffens, so in Begegnung am Strand (1920), einer Weiterführung von Botticellis Geburt der Venus. Während bei Botticelli der Westwind Zephyrus und der sanfte Lufthauch Aurora die schaumgeborene Liebesgöttin behutsam ans Land wehen, wütet bei Nolde ein Sturm über den Strand, der die See aufwühlt und die Wolken den Himmel entlangjagt.

Das auch in der Kunstgeschichte reiche Beziehungsspiel zwischen Mann und Frau hat Nolde um weitere Facetten erweitert. Erste Menschen (1922) stellt zwei sich in animalischem Verlangen nach körperlicher Nähe im Kuss vereinigende Menschen dar, zwischen die sich die züngelnde Schlange als die Aussage unterstützendes Symbol gedrängt hat. Dagegen trennt  in dem monumentalen Verlorenen Paradies (1921) die Schlange am Baum der Erkenntnis das Menschenpaar Adam und Eva, „zerknirscht und ratlos in die Zukunft schauend, verstoßen und leidend“, so Nolde in seiner Autobiografie.

Der von Nolde bewunderte Edvard Munch sah die Frau weniger als soziales Wesen denn als Elementargewalt, entweder als Vampir oder Urmutter und als unerbittliches Fruchtbarkeitssymbol. Ob die Frau den Mann in ihrem Schoß zärtlich liebkost oder ihm einen tödlichen Nackenbiss versetzt, das lässt sich an Munchs Vampyr II (1895/1902) nicht ablesen. Auch Noldes erschütterndes Porträt Thora (1921) mit dem so sprechenden, durchdringenden  Blick ähnelt einer Sphinx, die die Zukunft des Betrachters vorauszusagen scheint.

Das Kräfteverhältnis zwischen Mann und Frau verbildlicht Nolde in direktem Gegenüber ohne szenischen Hintergrund in den beiden Varianten von Weib und Mann (1919).   Während in Fassung I der nackte Frauenkörper sozusagen als Vexierbild erscheint, um das Liebesspiel zwischen Mann und Frau erotisch aufzuladen, erträgt die nackte Frau in Fassung II selbstbewusst und gelassen die ersten Annäherungsversuche des machohaft grinsenden Mannes. Gleich wird sie ihn abrupt zurückweisen. Dagegen scheint sich in Noldes Aquarell Tier und Weib (1931/35) der Mann beim Anblick der begehrenswerten nackten Frau in ein lüstern-triebhaftes Raubtier verwandelt zu haben. Gibt es hier eine Assoziation zu Pablo Picassos Minotaurus, dem Stier als Sinnbild der männlichen Lust und Potenz, wie in dessen Radierung Bacchanal mit Minotaurus? Aber bei Nolde hat der Panther nicht die Kontrolle über die Frau. Es ist ihr jederzeit möglich, ihn abzuwehren oder sich zu befreien. Auch hier wieder ist die Szene vielschichtig angelegt und offen für verschiedene Deutungen.

Inspiriert durch die Werke anderer Künstler und getrieben von seinem fantasiereichen Gestaltungswillen brachte Nolde  eine Vielfalt unterschiedlicher wie vielfältig deutbarer Frauendarstellungen hervor, die als Suche nach einem Frauenbild gelten kann, das Klischees durchbrechen und den veränderten Lebens- und Verhaltensformen der Frauen entsprechen, aber zugleich den Reiz und das Geheimnis der Frau bewahren soll.

Überall, wo Nolde seinen Wohnsitz aufschlug, hat er selbst Blumengärten angelegt, auf Alsen, in Ruttebüll, einem kleinen Dorf an der Westküste, und – unweit davon – um sein späteres Wohn- und Atelierhaus in Seebüll, in dem er dann von 1926 bis zu seinem Tode lebte. Die Stauden, Sommer- und Herbstblumen seines Gartens sollten sich dann in seinen Gemälden und Aquarellen wiederfinden. In harmonischer Chromatik, voller Luminosität, ohne schreiende Akzente, brachte er der delikaten Schönheit der Natur, diesem seinen ersten Lehrer in Sachen Kunst, eine lichtvolle Huldigung dar. Eine zarte Mohnblüte ist für ihn bereits Anlass zu lyrischer Meditation. Seine Aquarelle mit rotem und lila Mohn, Feuerlilien und gelben Blüten, roter und blauer Iris und dunklen Dahlien, diese wunderbar strahlenden Lichtgewebe, die eigentlich als Vorwand dienen, um nuancierte Seelenzustände (vor allem der Heiterkeit, aber auch der Schwermut) zum Ausdruck zu bringen, überschreiten die rein botanische Wahrheit. Das Licht umfließt die Formen, verwischt die Einzelheiten, hebt jedoch die Konkretheit der Pflanzenart hervor. Eine Sprache, in der scharfe Akzente von reinem Rot oder Zitronengelb mit Blau und Grün einen vibrierenden Dialog führen.

Den Glauben an die Möglichkeit, in der Malerei Wesentliches aufscheinen zu lassen, hat Nolde nie aufgegeben und die bildnerische Gestaltung flüchtiger Erscheinungsbilder abgelehnt. Nie wollen sich bei ihm die Gegenstände in farbige Zerstäubung auflösen. In den 1930er- und 40er-Jahren entstanden Gemälde mit Sonnenblumen. Das Licht lagert sich um die Blütenscheiben, umhüllt diese wie mit einem materialisierten Dunst. Die Sonnenblumen stehen hochgewachsen vor dem tiefen Blau des Himmels oder vor mächtigen Wolkenformationen. Die Blumen aus dem herbstlichen Garten werden regelrecht zu einem seelischen Selbstbildnis – sie brechen auf und vereinen in sich die sonnigen oder düsteren Farben zu einem unglaublich gegenständlichen Erscheinungsbild. Manchmal verwandeln sich die Blumenkronen in wahre, ausbrechende Sonnen, die Blütenblätter wirbeln in heftiger Bewegung, die intensiven Rot-, Gelb- und Blautöne brechen sich in einem Aufflackern, dass die umgebende Atmosphäre mit in den Flammenwirbel einzustimmen scheint.

Der Band von Magdalena M. Moeller macht uns mit einem faszinierenden malerischen Werk bekannt, das in Freude wie Erschütterung versetzen, das aufwühlen, aber auch wieder eine kathartische, die Leidenschaften „reinigende“ Wirkung entfalten kann. 

Titelbild

Magdalena Moeller: Nolde. Der Maler.
Mit einem Vorwort von Christian Ring und Magdalena M. Moeller. In Kooperation mit der Nolde Stiftung Seebüll.
Hirmer Verlag, München 2016.
228 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783777426761

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