Wiederentdeckung einer erschütternden Autobiografie

Ein herausragendes Dokument kindlichen Erlebens im Nationalsozialismus

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was unter „Kindheit“, einem Begriff, der meist mehr sozial oder kulturell als biologisch gemeint ist, zu verstehen ist, scheidet die Geister. Doch eine vage, oft idealisierte Vorstellung davon hat jeder Mensch, der glücklich aufgewachsen ist: Kindheit bedeutet, nachmittags sorglos in den Straßen zu spielen, bunte Bilder zu malen, im Sandkasten zu sitzen, Geburtstagsgeschenke auszupacken, Fahrrad fahren zu lernen und sich über den Sonnenschein zu freuen. Ein Kind bekommt Geschichten vorgelesen, hat Zeit für fantasievolles Welterleben und lernt die Umgebung spielerisch kennen. Grundsteine der späteren Entwicklung werden gelegt, sei es in der Schule mit anderen Kindern, an der Hand der Mutter, in den Armen des Vaters oder am Frühstückstisch der Großeltern.

Nun spricht Jona Oberski von seiner Kindheit – genauer von den „Kinderjahren“, so der Titel seines Buchs, und schon dieser Begriff ist ganz eigenartig konnotiert. Kindheit in Jahren, das ist eine bewusste, fast strukturierte Umdeutung dieser Lebensphase. Hier ist Kindheit nicht kaleidoskopische Ganzheit, sondern wird definiert als klare, fast unerträgliche zeitliche Ausdehnung, als spürbar getaktetes Treiben und Vergehen. Der in 21 Prosatexte unterteilte Roman, in dem der niederländische Autor, von Beruf eigentlich Atomphysiker, seine Erlebnisse und Erinnerungen aus den ersten Lebensjahren verarbeitet, wurde bereits 1978 publiziert, später verfilmt und bereits in 16 Sprachen übersetzt. Der Diogenes Verlag hat den Roman nun noch einmal herausgegeben und sorgt damit für die Wiederentdeckung einer literarisch wie historisch hochinteressanten Autobiografie, die gleichberechtigt neben dem Tagebuch der Anne Frank zu sehen ist, die im März 1945 in Bergen-Belsen an Typhus starb.

Oberski wurde im Jahre 1938 in Amsterdam geboren, doch schon 1940 soll das, was man Kindheit nennt, für ihn einen radikalen Bruch erfahren, bevor sie sich überhaupt entfalten konnte: Er und seine Familie werden in das Durchgangslager Westerbork deportiert, wenig später in das Lager Bergen-Belsen. Den Nationalsozialismus in der Retrospektive aus der Sicht eines jüdischen, 4-jährigen Jungen zu beschreiben, ist nicht nur eine emotional, sondern auch literarisch anspruchsvolle Aufgabe, der sich Oberski in diesem Buch stellt. Im Lager verlor der Autor seinen Vater und nach seiner Befreiung die Mutter. Mit acht Jahren wird er von Pflegeeltern in Amsterdam aufgenommen, denen das Buch, das er knapp 30 Jahre später verfasste, gewidmet ist. Geschrieben ist der Roman aus der Sicht des Kindes, literarisch gestützt durch die analytische, feinfühlige Perspektive des mittlerweile erwachsenen Schriftstellers. Die karge, parataktische Sprache voller Wortwiederholungen macht deutlich, dass der Leser hier mit einem Kind konfrontiert ist. Es gibt keinerlei Textpassagen eines erinnernden Ich. Durch die fehlende Distanz zum fürchterlichen Geschehen, von dem das Kind dem Leser berichtet, wird deutlich: Diese Geschichte ist restlos authentisch, ernst und tieftraurig. Die grausamen Repressalien, denen die Familie schon bei der Reise in das Konzentrationslager ausgesetzt ist, stehen dem warmen innerfamiliären Verhältnis, das Oberski beschreibt, diametral entgegen.

In der von den Eltern übermittelten Überzeugung, er befände sich auf einer Reise nach Palästina, gerät das Wirklichkeitserleben des Jungen durcheinander. Die Mutter gibt ihm Schlaftabletten, manchmal entfallen Jona daraufhin ganze Tage, er gerät aus dem Rhythmus, zweifelt an seinem Verstand, und die wenigen und dunklen Jahre ziehen sich in die Länge. Als der Vater stirbt, soll der nun 6-jährige Jona seine Mutter holen, vergisst dies aber auf halbem Wege, weil er mit seinem Schatten spielt. So taumelt er unter einer enormen emotionalen Belastung durch die Jahre seiner Kindheit, die von gut gemeinten Lügen, quälender Rastlosigkeit und einem unüberwindbaren Nicht-Verstehen geprägt sind.

Wegen einer Mutprobe unter den Kindern soll der kleine Jona beispielsweise in das „Tropenhaus“ einbrechen – ein sprachliches Missverständnis, welches das kindliche Welterleben inmitten des menschenverachtenden Kriegstreibens erbarmungslos akzentuiert, denn es handelt sich eigentlich um das „Totenhaus“. Auch seine Kleidung hält er für einen Schlafanzug und unweigerlich erinnert dies an John Boynes Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“, der 2006 erstmals erschien. Obwohl Jona, seinem Alter und den euphemistischen Vertuschungsstrategien seiner Eltern gemäß, die größeren Zusammenhänge, deren Opfer seine Familie wird, nicht nachvollziehen kann, kristallisiert sich an vielen Stellen seine genaue Beobachtungsgabe heraus. Die Interaktion der Soldaten mit den Opfern des Nationalsozialismus, die feinen, schneidenden Zwischentöne und die überwältigende Brutalität hinter den für ihn unverständlichen Ereignissen werden nicht nur beiläufig angedeutet, sondern mit schmerzhafter Genauigkeit skizziert. Hunger, Elend, Tod, die Transporte in den Waggons und die Furcht vor dem Unsagbaren laufen in der infantilen Wahrnehmung so unschuldig und zart zusammen, dass darin eine emotionale Wahrhaftigkeit liegt, die über Schilderungen eines Erwachsenen nicht in gleicher Intensität hätte transportiert werden können. Kinder, so lernt man hier, sind nicht naiv – die Erwachsenen sind es. Jona hört gehorsam auf die Wünsche seiner Eltern, nimmt das ihn umgebende Leid anders und abgeschwächter wahr als man es erwarten würde, ist wohlerzogen, nimmt trotz allem die stillen Emotionen auf und richtet sich nach den Umständen, ohne in die Knie zu gehen. Der Leser blickt dem Jungen nicht nur über die Schulter, sondern läuft mit; die Koffer, die Hände der Erwachsenen und die Türklinken sind dabei auf Augenhöhe. Fast bis zuletzt hält Oberski diese Perspektive durch.

„Kinderjahre“ ist eine Herausforderung – nicht nur die Übersetzerin musste hier Großes leisten und hat dies gemeistert, auch der Leser reift an dem schmalen Band. Die kurzen Sätze passen zum gehetzten Geschehen und erwecken den jungen Protagonisten zum Leben, sind jedoch gewöhnungsbedürftig, ebenso wie es gewöhnungsbedürftig wäre, einem Kind bei der Schilderung all jener Zustände zuzuhören. Ein Buch kann man aus der Hand legen, wenn es zu sehr erschüttert. Mit einem Schicksal geht das nicht. Die Tatsache aber, dass man mit jeder Seite mehr mit einem Schicksal als mit einem Buch konfrontiert ist, hindert diesen Prozess. So fühlt es sich falsch an, den Text zwischendurch wegzulegen, und erst, wenn die letzte Seite erreicht ist, ist Raum für eine ehrliche Erschütterung geschaffen, die sicherlich noch lange nachwirken wird.

Titelbild

Jona Oberski: Kinderjahre.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Maria Csollány.
Diogenes Verlag, Zürich 2016.
149 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069624

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