Die Formung eines Mythos

Neuere Publikationen zur Schlacht bei Verdun

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gilt der Erste Weltkrieg den Franzosen nach wie vor als der „Große Krieg“, als militärische Auseinandersetzung, die in ihrer Bedeutung aus nationaler Perspektive das zweite große ‚Völkerringen‘ übertraf, so ist die im Februar 1916 begonnene Schlacht um Verdun geradezu mythisch aufgeladen. Auf 300 Quadratkilometern traten sich insgesamt 1,5 Millionen französische und deutsche Soldaten gegenüber. 350.000 dieser jungen Menschen verloren ihr Leben. Noch einmal so viele kehrten als physisch Versehrte in ihre Heimat zurück. In Frankreich ist keine andere Schlacht der Geschichte derart im nationalen Gedächtnis verhaftet, obgleich sie keineswegs die blutigste Auseinandersetzung des Ersten Weltkrieges war. Das Schicksal Frankreichs würde hier entschieden, urteilte die Öffentlichkeit bereits im Verlaufe der Schlacht, und nach dem Krieg pflegten sowohl ehemalige französische als auch deutsche Soldaten diesen Gedanken. Dass ihr auch in der deutschen Erinnerungskultur Rang zukommt, beweisen die zahlreichen zum 100. Gedenktag hierzulande erschienen Publikationen.

Monographische Arbeiten, die aus Anlass eines bestimmten Jahrestages erscheinen, setzen sich jedoch leicht dem Verdacht aus, mit flinker Feder verfasst zu sein, um ökonomischen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Die Arbeit des englisch-amerikanischen Historikers Paul Jankowski hingegen stammt bereits aus dem Jahr 2013 und wurde nun erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht. Verdun. Eine Jahrhundertschlacht wendet sich an ein interessiertes Publikum und fußt hierbei dennoch auf einem breiten Spektrum internationaler Quellen. Jankowski zeichnet zunächst das militärische Geschehen nach und wendet sich sodann ihren zeitgenössischen Wirkungen zu. Er beschließt seine lesenswerte Studie mit eingehenden historisch-soziologischen Betrachtungen. Jankowski verwendet einen umfassenden Fundus deutscher und französischer Quellen, die bislang von der Forschung nicht beachtet wurden. Hierin liegt ein großer Verdienst des Buches. Dennoch sind die Ausführungen der ersten Kapitel, also jene, die den Kern des Militärischen betreffen, eher schwach geraten. Dort finden sich Passagen wie diese: „Unterdessen blieb die französische Artillerie stumm. Feindliche Gaswolken hatte [sic!] einen scharfen Geruch nach Chlor, Äther und gebrannten Mandeln.“ ‒ Eine Anspielung auf den Einsatz chemischer Kampfstoffe. Nun ist Diäthylether als Kampfstoff nicht nutzbar. Der einzige im Ersten Weltkrieg eingesetzte Ether war Oxollost. Blausäure wurde aufgrund der hohen Flüchtigkeit nicht im Blasverfahren eingesetzt und in Granaten verschossen erfüllte Cyanwasserstoff bei Weitem nicht die Erwartungen des Militärs. Aus dem Befehlshaber der „Angriffsgruppe West“ der 5. Armee, Max von Gallwitz, wird „der deutsche Kommandeur am linken Ufer“. Die 24 Maschinengewehre in einem französischen Regiment reichten aus, so Jankowski, je Bataillon eine Maschinengewehrkompanie zu bilden, die „nun ausschließlich aus Maschinengewehrschützen“ bestanden habe.

Interessant wird Jankowskis hochgelobte Studie, sobald sie „das Schlachtfeld verlässt“ und sich der Verfasser aus übergeordneter Sicht dem Geschehen zuwendet. Während das deutsche Kontingentheer grundsätzlich an allen Fronten, so Jankowski, deutlich effektiver handelte als alle Kriegsgegner, änderte sich dies bei Verdun. Kamen sonst auf jeden getöteten deutschen Soldaten 2,2 auf Seiten der Entente, sei dieses Verhältnis bei Verdun deutlich geschrumpft. Das statistische Pendel habe dann nur noch leicht zu Gunsten der deutschen Soldaten ausgeschlagen. Auch hier wäre jedoch zu bedenken, dass der Angreifer eigentlich immer mit den höheren Verlusten zu rechnen hat.

Spannend lesen sich auch die Abschnitte zur Darstellung der Schlacht in der deutschen und französischen Presse. Beide Seiten begannen im Laufe der Kampfhandlungen, das auf wenige Quadratkilometer beschränkte Geschehen zu offensivem Handeln umzudeuten, zum Abschied vom verlustreichen Bewegungskrieg.

Die kürzlich erschienene Arbeit Verdun. 1916 von Gerd Krumeich und Antoine Prost knüpft unmittelbar an Jankowskis Studie an, zielt jedoch auf eine andere Kernaussage ab. Beiden Professoren geht es um den Nachweis, dass Verdun erst im Zuge der Schlacht und in der Folgezeit mythisch aufgeladen wurde. Hierzu galt es unter anderem, Erich von Falkenhayns „Weihnachts-Denkschrift“ zu dekonstruieren. 1920 publizierte der ehemalige Generalstabschef seine Erinnerungen an die große Schlacht und behauptete darin, er habe Frankreich ausbluten wollen. Hierzu sei es nötig gewesen, einen Ort zu wählen, mit dem die Franzosen auf besondere Weise verbunden waren. Verdun als Geburtsort Frankreichs wäre unmöglich aufzugeben und würde durch das französische Heer mit aller Macht verteidigt werden. Im Dezember 1915, unmittelbar vor Weihnachten, habe Falkenhayn nach eigener Aussage dem Kaiser eine entsprechende Denkschrift vorgelegt. Prost und Krumeich erklären nun, dass es die von Falkenhayn behauptete Denkschrift nie gegeben habe. Abgesehen davon, dass diese ohnehin nicht überliefert ist, sprechen zeitgenössische Aussagen aus höheren politischen und militärischen Kreisen dafür, dass es sich um eine Konstruktion handelt. Tatsächlich habe sich die 5. deutsche Armee seit Jahresende 1914 mit einem möglichen Angriff auf Verdun befasst. 1915 sei der deutschen Seite die Tatsache eines Abzugs der französischen Artillerie nicht bekannt gewesen. Die Heeresführung stieß sich an dem Frontvorsprung bei Verdun, der französischerseits für mögliche Angriffe nutzbar gewesen wäre. Dies sei, so Prost und Krumeich, der eigentliche Grund für die Offensive gegen Verdun gewesen. Der sich ständig steigernde Widerstandsgeist der Franzosen habe also überrascht und sei nicht Bestandteil kühler Kalkulation gewesen. Auch stammte die Idee zur Offensive gegen Verdun nicht von Falkenhayn, sondern vom Generalstabschef der 5. Armee, Konstantin Schmidt von Knobelsdorff.

Die Kämpfe begannen am 21. Februar 1916 mit einer gründlichen Artillerievorbereitung, von der die deutsche Führung annahm, sie werde die Verteidiger ausreichend demoralisieren, um Verdun rasch in Besitz zu nehmen. Eindringlich werden die Grausamkeiten der Kämpfe geschildert. Die Artillerie beider Seiten habe den Sand zu Staub zermalmt. An jedem Frontabschnitt habe der Schlamm den Soldaten zugesetzt. Hier aber sei der pulverisierte Sand schon bei geringen Regenfällen zu unerträglichem Morast geworden. Die verheerende Wirkung des Flammenwerfereinsatzes wird ebenso geschildert wie die demoralisierende Kraft chemischer Kampfstoffe. Aller Sachlichkeit der Darstellung zum Trotz tritt hier die menschenverachtende Grausamkeit des Kriegs ungeschminkt zu Tage. Andererseits darf die Behauptung der Autoren zurückgewiesen werden, eine einzige Flammenwerfergruppe habe mehr zu erreichen vermocht als ein ganzes Regiment. Übertreibungen wirken gleich Superlativen stilistisch mindernd. Auch gerät der Abschnitt über neue Waffentechniken viel zu kurz. Dies ist insofern verzeihlich, als dass die Autoren nicht auf den Schlachtverlauf selbst als auf seine spätere Wahrnehmung zielen. So liegt denn die Stärke der Studie in der Schilderung der Erinnerungskultur beider Kriegsgegner.

Mit großem Interesse wird der Leser die Ausführungen zum 20-jährigen Verdunjubiläum 1936 lesen. Neben Vertretern linker französischer Veteranenvereine waren offizielle Abordnungen der französischen Armee und der deutschen Wehrmacht zugegen. Die Hakenkreuzfahne wurde getragen und der Leiter der deutschen Delegation versicherte, alle Deutschen und mit ihnen Adolf Hitler glaubten an die Möglichkeit, dass sich Verdun niemals wiederhole.

Das französische Gedenken an Verdun speiste sich aus zwei Quellen: dem Stolz auf den siegreichen Kampf und der Trauer um die gefallenen Kameraden. Einen wesentlichen Beitrag zur Mythenbildung besaß das logistische System der Noria. Während deutsche Einheiten durchgehend an der Front blieben, gegebenenfalls Ersatz durch junge Soldaten erhielten und somit also die Unerfahrenen von ihren älteren Kameraden lernten, wurden französische Einheiten erst dann vollständig abgelöst und durch neue Einheiten ersetzt, wenn sie nicht mehr einsatzfähig waren. Während sich die deutschen Truppen also fortwährend professionalisierten, standen die französischen immer aufs Neue den unbekannten Firnissen des Schlachtfeldes gegenüber. Die Noria sorgte zudem dafür, dass ein erheblicher Teil aller überhaupt vorhandenen französischen Verbände bei Verdun zum Einsatz gelangten. Dies erklärt die Bedeutung Verduns in der nationalen Erinnerung.

Der Vergleich beider Arbeiten von Jankowski und Krumeich/Prost erscheint lohnend. Beide sind bemüht, Mythen zu dekonstruieren. Sowohl Jankowski als auch sein deutscher und sein französischer Kollege relativieren die Bedeutung der Schlacht für den Kriegsverlauf und weisen nach, dass auch die zeitgenössischen militärischen Entscheidungsträger Joseph Joffre und Erich von Falkenhayn den Kampf um Verdun nur als einen unter vielen Bausteinen im eigenen operativen Konzept wahrnahmen. Weder die französische noch die deutsche Seite verfolgte eine Strategie des Ausblutens. Weist bereits Jankowski zu Recht darauf hin, dass die Denkschrift Falkenhayns nie gefunden worden sei, so legen Krumeich und Prost schlüssig dar, warum diese Denkschrift nicht existierte. Beide Bücher zeichnen zudem, entgegen der allgemeinen Anschauung, ein sachliches Bild Falkenhayns, der als kühler Denker charakterisiert wird, ganz im Sinne der großen biografischen Studie Holger Afflerbachs. Nun ja, es ist die Aufgabe guter Historiker, Mythen zu dekonstruieren. Dennoch erscheint die Relativierung des Leides unangebracht, die sich bei Jankowski findet. Übertriebene Presseberichte hätten pazifistischen Widerstand befördert, schreibt der in den USA lehrende Professor, die prozentualen Verluste in der Schlacht bei Höchstädt oder bei Waterloo seien ungleich höher gewesen, teilt er mit, wohl wissend, dass dieser und andere Vergleiche unangebracht sind ob der Tatsache, dass Verdun monatelang dauerte, Höchstädt hingegen nur einen Tag.

Im Zuge der Schlacht entwickelte sich Verdun immer mehr zur Nagelprobe für Frankreichs Armee. Die anfänglichen deutschen Erfolge, die in der Eroberung des Forts Douaumont am 25. Februar gipfelten, führen Krumeich und Probst auf zwei Faktoren zurück: zum einen die mangelhafte Vorbereitung der Franzosen, zum anderen die zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen. Sie habe im Verhältnis eins zu drei gelegen. Den Autoren scheint dabei nicht bewusst zu sein, dass ein Verhältnis von drei zu eins in militärischen Kreisen als unabdingbar gilt, um einen Angriff überhaupt mit Aussicht auf Erfolg durchzuführen. Diese noch heute jedem Offizieranwärter vermittelte Grundweisheit war auch damals schon bekannt. Der Angreifer wählt zwar Ort und Zeitpunkt, ist jedoch dem Verteidiger insofern unterlegen, als dieser sich an einem Ort einrichten konnte, der ihm geländemäßig zur Verteidigung am besten geeignet erschien. Hinzu kommt, dass das Verhältnis von zwei zu eins im artilleristischen Bereich bei Verdun gleichfalls eher zu schwach für einen Angriff bemessen war, denn stark genug.

Im Falle beider Werke handelt es sich um hervorragend recherchierte Bücher ausgewiesener Spezialisten auf dem Gebiet des Ersten Weltkrieges. Gerd Krumeich hat sich vermutlich sein ganzes wissenschaftliches Leben mit dem ersten großen ‚Völkerringen‘ befasst. Dennoch oder gerade deshalb bleibt das verwendete militärische Vokabular kritisierbar. Etwa wenn er und sein französischer Kollege von „Regimentsbefehlshabern“ schreiben, dann diesen Befehlshabern Einheiten statt Verbände zuordnen und die Regimenter aus den Transportzügen „absteigen“ lassen. „Als übrigens Joffre später Petain durch Neville […] ablösen ließ, hütete er sich sehr wohl, auch dessen Generalstab zu ersetzen“. Auch dieser Satz erscheint bedenklich. Er unterstellt der militärischen Organisation Verfahren des politischen Systems. Selbstverständlich wurde und wird nirgendwo ein Stab komplett ersetzt. Sowohl Jankowski als auch Krumeich und Prost schreiben kenntnis- und lehrreich. Dennoch vermag eine wissenschaftlich fundierte Arbeit nicht die Anschaulichkeit des Zeitzeugenberichtes zu erreichen. Deshalb sei an dieser Stelle auf eine kürzlich erschienene CD hingewiesen.

Gerd Krumeich kommentiert gelungen die Ausgabe eines im Jahre 1977 gesendeten Features des Deutschlandfunks. „Wie war das mit Verdun“ fragte vor nunmehr fast 40 Jahren German Werth deutsche Überlebende der Kämpfe. Zahlreiche eindrückliche Erlebnisse bietet die nun  im Christoph Links Verlag erschienene Audio-CD. Sie sind umso wertvoller, als dass sich die deutsche Öffentlichkeit und auch Historikerzunft viel zu spät mit den Zeitzeugen der Schlacht um Verdun befasste. Werth gebührt das unvergängliche Verdienst, den Stimmen der Soldaten Gehör zu verschaffen.

„Lass die da ruhig heulen. Wenn wir sie retten, dann erfahren die Franzosen, wie wenige wir sind.“ ruft ein Offizier seinen Soldaten zu, während diese den qualvollen Tod ihrer Kameraden mit ansehen. Die Verwundeten schreien, bitten um Hilfe. Doch niemand eilt ihnen zu Hilfe. Kameradschaft habe es wenig gegeben, bestätigt auch ein ehemaliger Infanterist. „Kamerad schieß mich tot“, ja das hätten sie geschrien, wenn Verwundete litten. Sonst aber hätte man gedacht: Lieber er als ich. Neue Szene. Ein Schwerverwundeter schreit. Neben ihm liegt ein Mann, der ihn anschnauzt: „Halt’s Maul Mensch, sieh mich an.“ Der kaltherzig Erscheinende selbst ist nur noch ein sich windender Oberkörper. Ihm sind beide Beine vom Rumpf getrennt. Er verblutet in kürzester Zeit. Ein fliehender Feind wird erschossen. Er dreht sich um die eigene Achse. Lacht. Bricht zusammen. Dies sei der einzige Heldentod gewesen, den er bei Verdun gesehen habe, berichtet ein Überlebender.

Die Soldaten erhielten eine Vorstellung vom Wandel des Menschen. Aus dem Individuum wurde bloßes Material. Der Mensch verkommt zum Subjekt einer entmenschlichten Kampfesform, in der der Einzelne nur noch Teil des übrigen Materials ist. Dennoch werde nicht das Material sondern der Geist obsiegen, meinte General Wilhelm Groener, 1914 bis 1916 Chef des Feldeisenbahnwesens, sinngemäß in seinem Tagebuch. Werth wendet sich auch dem Nachleben der Schlacht in der Erinnerung zu. So lässt er den Bischof der methodistischen Kirche zu Worte kommen, der sowohl den raschen Fall Verduns 1940 wie auch 1944 schildert.

Kurzum: Jankowski erweitert die Kenntnisse über die Schlacht selbst, Krumeich und Prost zerstören einerseits den Mythos des von deutscher Seite geplanten „Weissblutens“ der Franzosen. Sie schärfen andererseits den Blick für Formung eines Mythos in der Erinnerungskultur. Werth aber zeigt die Schlacht aus dem Blickwinkel deutscher Teilnehmer. Wer sich also mit der „Knochenmühle Verdun“ zu befassen gedenkt, darf getrost alle drei Titel erwerben, ohne befürchten zu müssen, sich zu langweilen.

Titelbild

Paul Jankowski: Verdun. Die Jahrhundertschlacht.
Übersetzt aus dem Englischen von Norbert Juraschitz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
429 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783100363039

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Titelbild

Gerd Krumeich / Antoine Prost: Verdun 1916. Die Schlacht und ihr Mythos aus deutsch-französischer Sicht.
Übersetzt aus dem Französischen von Ursula Böhme.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2016.
272 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783837515701

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German Werth: Wie war das mit Verdun? Teilnehmer der Schlacht erinnern sich.
Mit einer Einführung von Gerd Krumeich.
Ch. Links Verlag, Berlin 2016.
1 CD (55 Min.), 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783861538868

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