Fantastische Jahreszeiten

Ana Blandianas früher Erzählband evoziert eine seltsam beunruhigende Welt

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Kirche schneit es und dennoch fliegen dort auch zahllose Schmetterlinge auf bedrohliche Art umher. Jemand hält eine lange Ansprache an Vogelscheuchen über den Frühling und die Verfolgung durch ein Phantom. Unter heißer Sonne zerfließt eine ganze Stadt nebst Büchern und Menschen. Und ein Bücherlager gerät zu einer labyrinthischen Welt.

Was als normaler Alltag in den vier mit „Winter“, Frühling“, „Sommer“ und „Herbst“ betitelten Erzählungen beginnt, in denen die Ich-Erzählerin an einem Winternachmittag einen Stadtspaziergang unternimmt, auf dem Markt und am Stadtrand sehnsuchtsvoll nach dem ersten Grün des Jahres Ausschau hält, am Meer entlangläuft oder sich dienstlich auf den Weg macht, um Bücher aus einem Lager abzuholen, alle diese Aktivitäten münden in außerordentlich geheimnisvolle, ja verwirrende Situationen. Sie registriert diese halluzinatorisch anmutenden Erlebnisse akribisch und beschreibt sie sehr suggestiv. Kein Wunder, charakterisiert sie sich doch selbst als sehr empfindsame Person, die zwar kein gutes Gedächtnis habe, dafür aber umso besser Details behalte und Stimmungen wahrnehmen könne, woraus später „ein völlig anderes Bild“ entstehe.

Das ist einerseits Erklärung für diese irreale, ja absurde Welt, in die sich die Figur, die immer wieder an ihrem Verstand zweifelt, versetzt sieht. Es geschehen mysteriöse Dinge, die Naturgesetze oder Logik außer Kraft setzen, Zeit und Raum sprengen und sich bis zu apokalyptischem Weltuntergang steigern, dessen einzige Zeugin die Erzählerin zu sein scheint. Letztendlich entkommt sie den beängstigenden Situationen und findet sich im Alltag beziehungsweise in glücklichen Momenten wieder.

Permanent reflektiert die Ich-Erzählerin die eigenen widersprüchlichen Empfindungen, ihre Sinneseindrücke und versucht das Erlebte zu entschlüsseln, dabei zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Ihre wache Selbstreflexion spiegelt Beunruhigung, Angst, Entsetzen und Verzweiflung wider.

Der Verunsicherung setzt sie jedoch eine innere Verfasstheit und Stabilität entgegen, die sie aus moralischen Ansprüchen und philosophischen Gewissheiten nimmt. So entstehen schöne poetische Bilder wie dieses, als sie nach der endlos scheinenden Wanderung durch das Bücherlabyrinth in einem Obstbaumgarten auf der Erde liegt:

Ich spürte die kraftvollen und frischen Säfte der Erde durch mich fließen, vermutlich keimte schon mein Rücken wie Samen, die in feuchte Furchen gesät wurden. Ich konnte mir gut vorstellen, wie aus meinem Rücken unzählige zarte Fäden sprießen, die sich ihren Weg durch die Erdschollen bahnen, um die entzogene Nahrung an den Körper weiterzuleiten, damit er gedeiht und sich stärkt. Die Tatsache, dass diese Verschmelzung mit der Erde auch den Gedanken an den Tod mit einschließt […] erschreckte mich nicht.

Für sie bilden Leben und Tod, die Natur mit ihren Pflanzen und Tieren eine natürliche Einheit, in der sie sich aufgehoben fühlt. Andererseits gibt die Erzählerin wegen ihrer erklärten unzuverlässigen Erinnerungsfähigkeit jedwede Verantwortung für die Richtigkeit ihrer Erinnerungen ab. Hintergrund ist nicht nur das Imaginäre von Literatur, sondern die Autorin konnte auf diese Weise mit ihren Intentionen manövrieren, wurden diese Texte doch bereits 1977 in Rumänien unter Überwachung durch die Zensur veröffentlicht.

Zahlreiche Anspielungen verweisen auf die Realität im Realsozialismus, unter anderem sehr konkret auf die Verfolgung des Vaters in der Kindheit der Erzählerin, der heimlich Bücher verbrannte; aber auch auf apathische Menschen, die von Lebensproblemen erdrückt werden, auf Kinder ohne Eltern oder Umweltverschmutzung.

Die surreale Welt spiegelt die Beklemmungen der realen Welt wider, in der oft genug Ereignisse, Handlungen, Situationen unverständlich erscheinen, bedrohlich sind und denen man ausgeliefert ist. Die damalige Zeit erlebte Ana Blandiana als Nebel, der ihr die Luft zum Atmen nahm beziehungsweise ihr das Gefühl vermittelte, zu erfrieren. Genau diese Atmosphäre findet sich auch in ihren Texten wieder. So, wie die Ich-Erzählerin sich verantwortlich fühlt und ihre Mitmenschen warnen möchte, so verfuhr die Schriftstellerin Blandiana selbst mit ihrem Schreiben.

Von der 1942 in Rumänien geborenen Autorin liegen bereits mehrere Gedicht- und Prosabände in deutscher Übersetzung vor. Nach dem Essayband In einer spanischen Herberge hat nun das engagierte, mit Herausgeberschaft, Übersetzung und Kommentaren befasste Dreierteam Blandianas ersten Erzählband Cele patru anotimpuri in deutscher Sprache herausgebracht.

Die Einleitung mit Ausführungen zur Autorin und den Prosatexten ist stilistisch leider weniger gelungen; so heißt es beispielsweise „Der Blick ist eindringlich, aber er trügt nicht“, „Es wäre anmutend, […]“ „Die aushebenden, langen Beschreibungen […]“. Kritisch anzumerken sind auch die zahlreichen fehlerhaften Seitenangaben im Personenregister.

Unter dem Titel „Schreiben in Ceauşescus Welt des Jahres 1977“, dem Erscheinungsjahr des Bandes, gibt der Aufsatz von Helmut Müller-Enbergs einen guten Einblick in die politische, kulturpolitische und literarische Situation jener Zeit. Den Abschluss bildet neben einem Literaturverzeichnis die literarische Analyse von Viorica Patea, die die Erzählungen ausführlich analysiert und mit ihren Interpretationsangeboten zum besseren Verständnis der nicht leicht zu erschließenden Texte beiträgt.

Das Beispiel Ana Blandianas zeigt sehr gut, dass es im Rumänien Ceauşescus auch kritische Geister gab, die im festgefügt scheinenden System das ihnen Mögliche versuchten. Nicht selten entsteht gute Literatur gerade aus erlebter Bedrängnis und dem Leid eines Autors, das zeigt sich auch an Blandiana, die in der ihr eigenen poetischen Sprache Gedanken und Botschaften kunstvoll zu verpacken versteht. Aber das macht große Literatur eben auch aus, dass sie nicht nur als Reaktion auf aktuell-politische Umstände gelesen werden kann, sondern allgemein-menschliche Aspekte erörtert, so wie sich die Autorin mit Wahrheit und Gewissheit, Schuld und Gewissen, Leben und Tod der menschlichen Beziehung zur Natur auseinandersetzt. Damit bewahrheitet sich Blandianas Aussage, dass die Macht des Schriftstellers in der Dauerhaftigkeit seines Werkes liege, nicht zuletzt mit der späten Übersetzung ihres ersten Erzählbandes.

Titelbild

Ana Blandiana: Die vier Jahreszeiten. Erzählungen.
Herausgegeben von Katharina Kilzer und Helmut Müller-Enbergs.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Maria Herlo und Katharina Kilzer.
Edition Noack & Block, Berlin 2015.
195 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783868130270

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