Kriminalliteratur

Vorbemerkungen zum Schwerpunkt

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer und der Übung LehrredaktionRSS-Newsfeed neuer Artikel von  der Übung Lehrredaktion

In „Der Tod und der Kompaß“, einer der furiosen frühen Erzählungen des großen Jorge Luis Borges, äußert der Detektiv, als ihm die Lösung eines Mordfalls präsentiert wird, diese sei „möglich, aber nicht interessant“. Zwar habe die Wirklichkeit keinerlei Verpflichtung, interessant zu sein, für Hypothesen gelte aber das Gegenteil. Mit einfachen Erklärungen gibt sich Borges’ Detektiv nicht zufrieden. Er nimmt geradezu die Haltung der Advokaten der Hochkultur vorweg: Das Interesse des Feuilletons und der Literaturwissenschaft an der Kriminalliteratur entzündet sich zumeist an den besonders „interessanten“, weil ungewöhnlichen, die Regeln des als trivial geltenden Genres bereits bewusst verletzenden Produktionen.

Die Kriminalliteratur, deren ökonomisches Kapital weit größer ist als das symbolische, ist so ausdifferenziert, dass das (bei Borges bereits parodistische) Beharren des Detektives auf interessanten Hypothesen nur noch ein Extrem der verschiedenen Spielarten markiert. Zwar liegt das Interesse einer Detektivgeschichte, wie Walter Benjamin schrieb, „in einer logischen Konstruktion“. Aber zum einen umfasst Kriminalliteratur weit mehr als Detektivgeschichten, zum anderen wird diese logische Konstruktion (der wie ein Kunstwerk arrangierten Tat ebenso wie deren Auflösung), die für die klassische Detektivgeschichte bis in die 1930er-Jahre prägend war, längst flankiert durch ein Interesse an der Gesellschaft, in der sich das Verbrechen ereignet. Die in Kriminalromanen erzählte Welt wurde seit dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“ erheblich vielschichtiger, nicht zuletzt, weil die handelnden Figuren keine reinen Logikmaschinen mehr sind, sondern fehlbare Menschen in allerlei lebensweltlichen Zusammenhängen, deren psychologische Disposition teilweise wichtiger erscheint als das aufzulösende Verbrechen.

Bei allen Wandlungen und Ausdifferenzierungen: Kaum ein Genre erfreut sich so dauerhaft (und in solch unterschiedlichen medialen Erscheinungsformen) einer ungebrochenen Beliebtheit wie der „Krimi“. Der physischen Dominanz der Kriminalliteratur in Buchhandlungen entspricht die Präsenz von Krimi-Serien unterschiedlichster Couleur auf allen Fernsehkanälen. Als literarische Stoffe sind Verbrechen so alt wie die Literatur selbst, da Menschen sich seit jeher mit Gesetzesbrüchen, Mord und Raub, Schuld und Sühne auseinandersetzen mussten – von den Ur-Verbrechen des verbotenen Genusses der Früchte vom Baum der Erkenntnis und dem Brudermord Kains an Abel über die schicksalhaften Verwicklungen, die in der klassischen griechischen Tragödie zu Verbrechen führen, bis hin zu den vorrangig anthropologisch motivierten Sammlungen berühmter Rechts- und Kriminalfälle im Zuge der Aufklärung: Verbrechen hatten immer literarische Konjunktur. Aber erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, maßgeblich initiiert durch Edgar Allan Poe, kam es zur Etablierung eines Erzählmodells, das nicht mehr das Verbrechen allein, sondern die Enthüllung des Tathergangs durch Ermittlungen und logische Überlegungen eines Detektivs in den Mittelpunkt stellt. Dieses grundlegende Schema wurde seither in diversen Variationen aufgegriffen und stellt einen der integralen Stützpfeiler der Unterhaltungsindustrie dar.

Die anhaltende Präsenz, nicht minder aber der Facettenreichtum der Kriminalliteratur bildet sich in diesem Schwerpunkt ab, der Rezensionen zu zahlreichen (innovativeren oder konventionelleren) Neuerscheinungen durchaus unterschiedlicher Qualität und zu neuaufgelegten Genre-Klassikern wie etwa Agatha Christie oder Gilbert Keith Chesterton, aber auch zu Kriminalromanen von Vertretern der „Hochliteratur“ wie Ricarda Huch versammelt. Hinzu kommen Besprechungen wissenschaftlicher Neuerscheinungen, unter anderem zur Kriminalliteratur im Allgemeinen sowie zu Subgenres wie dem „Anti-Detektivroman“ oder auf authentischen Fällen beruhenden „Kriminalfallgeschichten“, ebenso zur Figur des von Arthur Conan Doyle erfundenen, seither aber vielfach adaptierten Sherlock Holmes. Darüber hinaus wird die Breite des Feldes dokumentiert von Essays zu den unterschiedlichsten Aspekten: grundsätzlichen Überlegungen zur Gattung (von keinem Geringeren als Jochen Vogt, der sich seit Jahrzehnten große Verdienste um die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Krimi erworben hat), zum im akademischen Umfeld angesiedelten feministischen Krimi, zur Problematik des literaturkritischen Umgangs mit dem Genre, zu einer frühneuzeitlichen Ausprägung des Kriminalromans lange vor seinen gängigen Vorläufern aus dem 18. Jahrhundert, bis hin zur Rekonstruktion einer cause cé­lè­b­re, die den Ursprung der forensischen Phonetik markiert. Von besonderem Reiz sind die Einblicke in Entstehungsprozesse von Kriminalromanen, die das Interview mit der renommierten Krimi-Autorin Gisa Klönne gewährt.

Die Popularität kriminalistischer Stoffe sagt viel (und nicht nur angenehmes) über menschliche Vorlieben, verborgene Ängste und heimliche Begierden aus. Sie beruht nicht zuletzt auf dem offenkundig unstillbaren Wunsch, eine aus den Fugen geratene Welt möge von einer Retterfigur wieder ins Lot gebracht werden, wohl aber auch auf einem Umstand, den schon Johann Wolfgang Goethes Mephistopheles bespöttelt: „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“

Hinweis: Der Schwerpunkt „Kriminalliteratur“ wurde von  den Studierenden der Übung „Lehrredaktion“ im Sommersemester 2016 unter der Leitung von PD Dr. Manuel Bauer an der Philipps-Universität Marburg initiiert und erarbeitet. In der praxisorientierten Übung, die Bestandteil des Master-Studienganges „Deutsche Literatur“ ist, erhielten die Studierenden Einblicke in den Literaturbetrieb, speziell in die Arbeitsabläufe der Redaktion von literaturkritik.de. Sie haben unterschiedliche kulturjournalistische Texte eingeworben (zum Teil auch selbst geschrieben), in Redaktionssitzungen gemeinsam diskutiert, redigiert und zu diesem Schwerpunkt zusammengestellt.