Gegen Anstand und Vernunft

Kô Machidas Trickster untergraben die Ordnungen des Glücks

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer ist dieses vom Alkohol aufgedunsene Individuum, das in einem unaufgeräumten Zimmer zwischen Aschenbecher, Sakeflasche, Spielkarten, Unterhosen und anderem Zeug herumlungert? Ein verlassener Ehemann, den seine Frau für „Sperrmüll“ hält? Ein arbeitsscheuer Faulenzer, der notgedrungen Jobs annimmt, um sein Lotterleben weiterführen zu können? Ein unangepasster Querdenker, der den Autoritäten die Stirn bietet? Oder ein infantiler Tunichtgut? Und was soll man vom Verfechter des „Gabelschlange“- Anstellprinzips denken, der, ganz Menschenfreund, Vernunft und Logistik in einem Kentucky Fried Chicken durchsetzen möchte, in dem alle ohne jede Rücksicht auf den anderen zum Hähnchentrog drängen? Und warum lautet im Nudelsuppen-Stehimbiss, in dem er sich zeitweise verdingt, das wichtigste Gebot „Einklang der Herzen, Geist der Harmonie“? Wie kommt es dazu, dass besagter Nudelkoch einen Affen zu Tode kocht und dann eine Urne mit der Asche eines dubiosen Tätowierten überbringen soll?

Text I: Seltsam und abartig – „Vom Versuch einen Glücksgott loszuwerden“

Da ist zunächst ein Herr Kusunoki, seines Zeichens Protagonist in Kô Machidas Text „Vom Versuch einen Glücksgott loszuwerden“. Als solcher muss er zwangsläufig „seltsam und abartig“ erscheinen, wie es auch seine Nachbarschaft  aus „Glücksgott“ konstatiert. Kusunoki vertritt die Meinung, nichts zu tun, „ist doch das Beste“ und verbringt drei Jahre „eben damit: zu saufen und nichts zu tun“. Nicht nur hat sein einstmals gutes Aussehen unter diesem Alltag gelitten, subobtimal bleiben zudem die leere Geldbörse und der schmerzlich empfundene Alkoholmangel. Diese wenig befriedigende Gesamtsituation findet ihre Widerspiegelung in der traditionellen Figur eines metallenen Daikoku. Bei diesem handelt es sich um einen Glücksgott sino-japanischer Provenienz, den man als einen der populären Sieben Glücksgötter kennt. Dargestellt wird Daikoku meist in Gestalt eines wohlbeleibten, stets lachenden Mannes mit dicken Ohrläppchen und roter Kappe, positioniert auf zwei Reissäcken. In der rechten Hand hält er seinen Glückshammer, in der linken einen Sack mit Reichtümern. Kusunoki empfindet bald Widerwillen gegen die Figur, da man sie mit ihrem offenbar zu schwach geratenen Fundament nicht aufstellen kann, ohne dass sie umfällt. Sein Zorn gegen den „jämmerlichen“ Glücksgott mit dem „dämlichen Grinsen“ kocht so hoch, dass er ihn in den Müll werfen möchte. Das erweist sich allerdings als schwerer als gedacht. Wollte der gammelnde Gatte ihn an der nahen Müllsammelstelle oder als angemeldeten Sondermüll auf der Straße vor der Wohnung absetzen, würden die Hausfrauen aus der Umgebung wieder über den „perversen“ Onkel Kusunoki lästern.

Die Geschichte beginnt also mit dem Plan des Protagonisten, sich der Figur widerrechtlich zu entledigen, das heißt sie von der Müllverordnung her gesehen unerlaubt an irgendeinem Ort zurückzulassen, was sich als relativ schwierig erweist. Kaum meint der ungepflegte Masayuki Kusunoki ein geeignetes Plätzchen entdeckt zu haben, entpuppt es sich doch als ungünstig – denn er erregt den Argwohn eines Schutzmanns in seiner kleinen Polizeistation in Bahnhofsnähe. Prompt durchsucht der junge Gesetzesvertreter das verdächtige Subjekt und mahnt, nicht weiter die öffentliche Ordnung zu stören. Das nächste Mal hindert ihn eine Überwachungskamera an der Durchführung seines Vorhabens, dann ein voller Abfalleimer, in den man offenbar die üblichen Gastgebergeschenke einer Hochzeit geworfen hatte. Kusunokis Vermutung: „Die Frischvermählten mußten bei diesen ihren Gästen dermaßen verhaßt gewesen sein, daß die sich nach der Feier nur so das Maul zerrissen und, in ihren Mietlimousinen am Bahnhof angekommen, um den Abfalleimer versammelt hatten – Dieser Scheiß bringt nur Unglück, was soll ich damit, den schmeiß ich hier rein!!“ Weitere Kommentare: „Kotzen ist zu wenig, ich piß noch drauf!“, „Pisse ist noch zu wenig, ich scheiß noch drauf!“

Unterwegs trifft der Held seinen Freund Motokichi Kikuchi, einen Gleichgesinnten im Widerspruchsgeist gegen „unsägliche Ratio und Moral“, der sich ihm nun auf der Entsorgungstour anschließt. Auch ein „verwahrloster, völlig verwilderter Spielplatz“ wirkt  unpassend für die Endlagerung der Gottheit, der triste Ort lässt bei Kusunoki die Vision einer mörderischen Attacke entstehen: „Ein paar Mütter verbringen mit ihren Kindern auf dem Spielplatz einen friedlichen Vormittag. Aus dem Gebüsch beobachten zwei düster glühende Augen das Treiben. Plötzlich stürzt ein uniformierter Kerl mit einem Hackebeil hervor, brüllt etwas Unverständliches, das Beil saust auf eine Mutter und ihr Kind, die gerade im Sandkasten spielen. Weiß spritzt Gehirn.“ Am Ende des Tages finden Angehörige ein Horrorszenario vor: „grausam zerstückelte Leichen und der kalte Körper des Täters, der sich in einer Zeder nahe beim Spielplatz erhängt hat“. 

Machidas konsequente Anti-Ratio-Schreibstrategie lässt im weiteren Verlauf des Geschehens  noch einen verschollenen, angeblich genialen Künstler auftreten, seines Zeichens Maler von „Octopussen“ (zum Beispiel „Oktopus am Kreuz“) sowie eine exaltierte Regisseurin, die einen Film über das Genie drehen will, mithilfe Kusunokis und Kikuchis. Der abenteuerliche Ausflug endet mit Gelächter am Strand. Eine klare Zukunfts- und Berufsvorstellung stellt sich indes beim Protagonisten nicht ein – vorerst tendiert er zum biederen „Bohnenhändler“.

Text II: Sugawara no Michizane und Marilyn Manson oder der schnelle Tod der Meerkatze  − „Flußbettlibretto“

Der Held des folgenden Texts, in dem ein grüner Affe in einen Topf voll Suppe fällt, ist ebenso ein Außenseiter der Arbeits- und Leistungsgesellschaft. Im „Flußbettlibretto“ müssen der Ich-Erzähler und sein Freund Goro, die eigentlich in einem Nudelimbiss tätig sind, den Nachlass des toten Bauarbeiters und SM-Profis Yukio Tsuyama auflösen. Der gut gebaute Tsuyama besaß „ein bis zu den Oberarmen reichendes Schultertattoo von Tenjin, dem als Gott der Gelehrsamkeit verehrten Dichter Sugawara no Michizane“. Auch dessen Leben zeigt sich im Durcheinander des Zimmers mit den verstreuten Besitztümern: Bierdosen, Aschenbecher, Messingpfeife, Gesichtswasser und Fernbedienung, dazu Krawatten, Spielkarten, Massagegeräte, Hanteln, Krüge, Bleistifte, Handschellen, Stofftiere, Nägel, Flaschen, Spritzen und an der Wand ein Poster von Marilyn Manson. In den Notizen des Verstorbenen drückt sich eine problematische Gesinnung aus: „14. April  Kater  5 Gramm gekauft“, „15. April  Anal mit M & K“ sowie „11. Juni  Keinen Bock auf Baustelle Ganzen Tag gepennt“.

Während es mit dem Kumpel ein lustiges Treiben ist, wird Machidas Held im Nudelimbiss  von einer penetranten Kollegin genervt, die er als selbstgerechte, „dickfellige Ziege“ bezeichnet. Hamako Amada mit ihrem „weißen, platten Gesicht“ und den Schlauchbootlippen ist ihm ein Ärgernis, da sie seiner Meinung nach den Arbeitsablauf durcheinanderbringt, „bei jeder Gelegenheit versucht, den ganzen Laden  zu managen“, „hysterisch Widerrede“ leistet und „Tag für Tag ihr Repertoire an Grausamkeiten“ voll ausschöpft. Nach dem Zwischenfall mit dem Affen trennen sich die Wege von Kusunoki und Amada, die ihm weiter Böses will und die er seinerseits als „asoziale Schlampe“ beschimpft und zum Abschied herzhaft ohrfeigt.

Der Antagonist des „Glücks“ oder Machidas Trickster

Machida schildert in den beiden Texten ein epikuräisch-anarchisches Lebensgefühl der 1990er-Jahre, voll PC-freier männerbündischer Macho-Attitüde und Freiheitsdrang. Dem großen japanischen Nachkriegsnarrativ „Arbeit“ wird subversives Faulenzen oder eine gepflegte Mindestaktivität entgegengesetzt. „Geld“ gilt nur als Mittel zum Zweck, „Familie“ gerät zum Drohszenario, in dem der Mann von bestimmenden, egoistischen Frauen unterdrückt wird. Glück liegt nicht in der Karriere, in der bürgerlichen Existenz, sondern einzig beim Genuss: Essen, Alkohol, Sex, Drogen und Spiel nobilitieren den wahren Mann von Stil. Dazu, wie es der Autor erwähnt, Musik und Kunst.

Die Alltagsnormalität im engen Heimatland kann man nur mit dem Gedanken an die Absurdität der menschlichen Belange ertragen, und deshalb enden manche Texte mit Gelächter. Wenn die beiden Freunde sich vor Lachen am Boden wälzen, assoziiert der in ostasiatischer Ikonographie bewanderte Leser eventuell das Bild der taoistischen Heiligen Han Shan und Shi Te, die die Existenz ganz heiter nur als Illusion wahrnehmen. Sucht man Vorbilder für Machidas Exzentriker, wären Bezüge zu den ängstlichen und zugleich für die Freuden des Lebens empfänglichen Protagonisten des legendären Uchida Hyakken (1889 – 1971) zu entdecken, auch Dazai Osamus (1909 – 1948) Ekel vor der japanischen Hierarchie- und Kontrollgesellschaft scheint hier wohl auf. In der Tradition Dazais stünde zudem die Vorliebe für Drogen. Bei der Erwähnung von „Affen“ – allenthalben präsent in den Texten – schließt man vielleicht nicht zu Unrecht auf die vor allem in den 1980er-Jahren weltweit verbreitete Amphetamin-Droge MDMA, genannt Ecstasy oder eben „Affe“. Im Kontext der genannten chemischen Mischung gewinnt auch die Prägung „Einklang der Herzen, Geist der Harmonie“ eine neue, nicht die nationale Einstellung repräsentierende Deutungsebene: Studien zeigen, dass MDMA die Wahrnehmung positiver Gefühle und prosoziales Verhalten steigert.

Machidas Kunst erschöpft sich aber nicht in pubertären Lobpreisungen des Rausches, unpatriotischen Seitenhieben oder in der Kultivierung eines Macho-Moratoriums. Ihm gelingt – literarisch gesehen – eine neue Version der Tricksterfigur in zeitgemäßen Schelmenstücken. Trickster sind nach C.G. Jungs Die Psychologie des Tricksters (1954) in den Mythen beschriebene „Urwesen göttlich-tierischer Natur“. Als Trickster überschreiten Machidas schillernde Helden die Grenzen und zerstören die Ordnung des „Systems“, wobei der niedrige Trickster, etwa der Schöpfer des „Oktopus am Kreuz“, schnell und in einem selbstreferenziellen Künstlerdiskurs als Scharlatan entlarvt wird, der fortgeschrittene Typus respektlos mit allem seinen Spaß treibt und sich der Erbärmlichkeit der ausweglosen Lage doch bewusst ist. Für die Auslöschung der niederen Tierebene stehen der Tod des Affen, der Mordversuch an einer Katze, das brutale Grillen von Schildkröten (Penissymbol!) und eben die Kreuzigung des ebenfalls für seine amourösen Attacken bekannten Oktopus. Gedankt werden Opfer und Entbehrung dem modernen Trickster kaum, obwohl er im Mythos bekannterweise ein Vorläufer des Heilsbringers ist.

Kô Machida, der mit den vorliegenden sehr gelungenen Übersetzungen, der Titelgeschichte und dem zweiten im Buch enthaltenen Beitrag „Flußbettlibretto“, zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgestellt wird, ist ein in Westjapan geborener Künstler, der das „Widerständige“ schätzt. Er möchte eine japanische Gesellschaft vorführen, die nur das im Sinne von Materialismus und Konsum Vernünftige gelten lässt und eine heuchlerische Moral der Aufrechten vertritt. Erschwerend kommt der Druck des Kollektivs hinzu, das den Einzelnen ausspäht und beurteilt – durch neugierige Hausfrauen und strenge Polizisten, die harmlose Bummler zur Rede stellen, Amokläufer am Spielplatz jedoch nicht aufhalten. Eine gewisse zeitliche Distanz zu den Arbeiten aus den 1990er-Jahren ist zu spüren, Thematik und Tricksterfigur sind aber durchaus aktuell, nicht zuletzt deshalb, weil die listige, ambivalente Gestalt des energiereichen Wandlers eine demaskierende und damit hilfreiche Funktion zur Bewusstwerdung der dunklen Seite ausübt.

Titelbild

Ko Machida: Vom Versuch, einen Glücksgott loszuwerden. Zwei Erzählungen.
Übersetzt aus dem Japanischen von Katja Cassing und Jürgen Stalph.
Cass Verlag, Löhne 2016.
172 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783944751092

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