Unterricht in religiöser Toleranz?

Luther, Philipp von Hessen und Europa

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 kuratiert das Staatsarchiv Marburg eine Wanderausstellung, die sich zum Ziel setzt, die Reformation als europäische Bewegung in den Blick zu nehmen und daneben insbesondere die Rolle des hessischen Kurfürsten Philipp genauer zu beleuchten. Das ausstellungsdidaktische Konzept beinhaltet neben dem hier thematisierten Begleitband einen Online-Auftritt auf den Seiten des Digitalen Archivs Marburg (DigAM), bestehend aus digitalisierten Quellen und Schüler-Arbeitsmaterialien. Dieses digitale Ausstellungspaket ist auf der Homepage des Archivs unter http://www.digam.net/exposition.php?exp=261 verfügbar.

Ausstellung und Begleitband richten sich nach Aussage der Autoren in erster Linie ausdrücklich an Schule und Unterricht, nebenbei auch an eine interessierte, fachlich nicht einschlägig vorgebildete Öffentlichkeit. Dieses Konzept ist aus mehreren Gründen begrüßenswert: Das Thema Reformation stellt einen zentralen Lerninhalt der Fächer Geschichte und Religion dar und auch im Konfirmandenunterricht werden wenigstens die evangelischen Schüler mit den entsprechenden Inhalten konfrontiert, so dass – fernab der gerade gegebenen Aktualität – eine unbestrittene Relevanz der präsentierten Inhalte für schulisches beziehungsweise anderweitig institutionalisiertes Lernen gegeben ist. Andererseits besteht gerade bei solchen sehr eingängigen Lernthemen die Gefahr, dass ihnen seitens der Schüler (manchmal auch seitens der Lehrkräfte) nur wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, weil sie unhinterfragt als selbstverständlich angenommen werden. Ein schulexternes Angebot, das die Aktualität beziehungsweise den Gegenwartsbezug der Ereignisse betont und neue Sichtweisen auf den bekannten Gegenstand ermöglicht, bietet vor diesem Hintergrund die Chance einer neuen und reflektierten Begegnung mit dem religiösen, gesellschaftlichen und politischen Phänomen Reformation. Dazu kommt, dass im Rahmen der Ausstellung auch Inhalte, die über Lehrplanvorgaben im engeren Sinne hinausgehen und diese sinnvoll ergänzen, präsentiert werden, so dass sich Schülern die Möglichkeit eröffnet, einen alternativen, individuellen Zugang zur Thematik zu finden. Viele Vorteile bietet dabei gerade der Ansatz, ausgewählte Quellen zu diesem Thema in digitalisierter Form anzubieten: Diese Materialien sind auch für Schulklassen verfügbar, die die Ausstellung selbst aus organisatorischen Gründen nicht besuchen können. Digitalisate können zwar nur in vermittelter Form das emotionale Ereignis simulieren, das bei der direkten Begegnung mit einem historischen Dokument entstehen kann, sie bieten aber in idealtypisch zu nennender Weise die Gelegenheit zu wissenschaftspropädeutischem Arbeiten, da hier viele technische Möglichkeiten gegeben sind, die auch von Historikern genutzt werden. Nicht zuletzt kommt dieser Zugang zu historischen Quellen auch den Mediennutzungsgewohnheiten heutiger Schüler entgegen, die Informationen so gut wie immer zuerst online zu suchen – das Kennenlernen von Fachdatenbanken greift insofern ihre bereits vorhandene Recherchekompetenz auf und professionalisiert diese.

Der Begleitband gliedert sich in sieben Themenschwerpunkte, die jeweils unabhängig voneinander gelesen werden können und den Bogen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges spannen. Diese thematischen Kerne bestehen aus einer kulturgeschichtlichen Einführung („Europa um 1500: Die Welt im Umbruch“), zwei Kapiteln, die sich mit der Person Luther, ausgehend von seiner Biografie und seinem Verhältnis zu anderen Reformatoren befassen („Ereignis Luther“; „Luther und die Anderen – Brüche“), einem Teil, der spezifisch hessischen Schwerpunkten gewidmet ist („Der fürstliche Reformator: Philipp von Hessen“) und drei abschließenden Kapiteln, die die Weiterentwicklung der reformatorischen Strömungen darstellen („Die gespaltene Reformation“; „Ausbreitung der Reformation in Europa“; „Europa nach der Reformation“). Für den Einsatz im Unterricht ist dieses Baukastensystem sinnvoll, da je nach Arbeitsschwerpunkt auch nur einzelne Kapitel oder Kapitelteile verwendet werden können; ebenso wird dadurch eine Vertiefung einzelner Aspekte im Anschluss an den Besuch der Ausstellung erleichtert. Ergänzt wird der Band am Ende durch ein zweiseitiges Literaturverzeichnis, das hauptsächlich Forschungstexte aufführt. Mit Blick auf die Zielgruppe der Ausstellung wäre es hier sinnvoll gewesen, getrennt davon auch eine Bibliografie mit Schülermaterialien und Unterrichtsmodellen anzubieten, um so weiteres eigenständiges Arbeiten zum Beispiel im Projektbereich zu unterstützen. Dies wäre besonders deswegen wünschenswert, weil die Autoren sowohl über die fachliche als auch über die didaktische Expertise verfügen, um aus dem in diesem Bereich tendenziell vorhandenen Überangebot gut geeignete Materialien zu empfehlen. Auch ein Stichwortregister oder ein Glossar könnten die Arbeit mit dem Ausstellungsband noch weiter erleichtern.

Die einzelnen Kapitel sind reich illustriert und bieten zusätzlich zu den in der Ausstellung präsentierten Abbildungen weitere Materialien. Die Quellenauswahl ist durchweg abwechslungsreich: Neben Porträts der Reformatoren finden sich auch spätere, bis hin zu zeitgenössischen Darstellungen wie zum Beispiel Tübkes Bauernkriegspanorama, dazu treten Abbildungen früher Drucke, Fotos von Urkunden und Briefen, teils auch solche von Orten bzw. Baudenkmälern, wie eine Aufnahme des Lutherzimmers im Marburger Landgrafenschloss. Auch eine Reihe von Schaubildern, hauptsächlich Geschichtskarten, unterstützen die Darstellung, so dass geografische Verhältnisse und regionale Bezüge gut deutlich werden. Wenn in diesem Bereich etwas zu kritisieren ist, so lediglich, dass die Abbildungen handschriftlicher Quellen teils so klein geraten sind, dass eine Lektüre auch dann nicht gut möglich ist, wenn die notwendigen paläografischen Kenntnisse vorhanden sind – hier muss der Begleitband durch den Online-Auftritt unterstützt werden.

Auffällig ist, dass Textquellen nur sehr vereinzelt zum Einsatz kommen: Der gesamte Band beinhaltet lediglich acht längere Textpassagen, wenn man einige als Einzelzitat gesetzte kurze Aussagen nicht mitrechnet. Dies ist sicherlich auf die Ausstellungskonzeption zurückzuführen – gerade der Begleitband böte aber Platz, zentrale Textquellen, die im Rahmen einer Tafelausstellung nicht gut zu präsentieren sind, mit aufzunehmen. Wichtig wäre dies vor allem auch deswegen, weil die möglichst selbstständige Quellenarbeit einen zentralen Bestandteil des Geschichtsunterrichts in der gymnasialen Oberstufe darstellt, an die sich der Begleitband wohl vornehmlich richtet.

Einem Schülerpublikum der Sekundarstufe II wird der das Quellenmaterial begleitende Darstellungstext gut gerecht: Komplexe Zusammenhänge, wie etwa die Streitigkeit um die Realpräsenz im Abendmahl während des Marburger Religionsgesprächs sind gut verständlich erläutert, notwendiges Hintergrundwissen etwa zum anderen Schulsystem der frühen Neuzeit wird beiläufig mit eingeflochten. In referierenden Passagen ist eine hohe Transparenz dadurch gewährleistet, dass Formulierungen, die als wörtliche Wendung aus Quellen übernommen sind, kursiv gesetzt werden. Einige bildungssprachliche Phrasen sind zwar zu finden, diese gehen aber nicht über das sprachliche Niveau hinaus, zu dem eine Lerngruppe des entsprechenden Alters hingeführt werden sollte.

Insgesamt bieten Carrasco und Neebe also einen gut zusammengestellten Band zum Thema Reformation an, der sich zwar wie dargestellt noch etwas erweitern ließe, sich aber bereits in der vorliegenden Form nicht nur zur Vor- beziehungsweise Nachbereitung des Ausstellungsbesuchs, sondern insgesamt als gelungene, den Themenschwerpunkt vertiefende Ergänzung zum jeweils eingeführten Lehrwerk verwenden lässt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Justa Carrasco / Reinhard Neebe: Luther und Europa. Wege der Reformation und der fürstliche Reformator Philipp von Hessen.
Hessisches Staatsarchiv Marburg, Marburg 2015.
128 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783889642158

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