Angst – Realität und Fiktion

Zur August-Ausgabe 2016 und über den Grund des Vergnügens an erschreckenden Gegenständen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Kurz bevor am vergangenen Freitag um 20 Uhr die ersten Meldungen der Tagesschau neue Informationen über die jüngsten Attentate in Deutschland brachten, war bei der Programmvorschau ein panischer, angsterregender Hilfeschrei zu hören. Und in verlockendem, bestens gelauntem Ton animierte gleich darauf eine Frauenstimme die auf Nachrichten wartenden Zuschauerinnen und Zuschauer, sich einen spannenden Tatort-Krimi zu späterer Stunde nicht entgehen zu lassen.

An das dichte Neben- und Nacheinander der Präsentationen von realen und fiktiven Schreckensszenarien haben wir uns so gewöhnt, dass es uns kaum noch auffällt oder gar problematisch erscheint. Unlängst erst stand eine ganze Stadt noch unter dem Schock des Amoklaufs an einem belebten Tatort mitten in München, der über viele Stunden hinweg als möglicher Terrorakt eingeschätzt wurde, der sich an anderen Tatorten wiederholen könnte, da erreicht unsere Redaktion eine mit spielerischem Witz verfasste Ankündigung anderer „Tatorte“ in der Stadt: Nach dem „Startschuss zum Münchner Krimi-Herbst 2016“ am 10. September präsentieren „hochkarätige internationale Krimi- und Thriller-Stars aus aller Welt […] ihre neuen Romane an verschiedenen ,Tatorten’ in der ganzen Stadt.“ Angeredet werden wir hier mit „liebe Komplizen“, am Ende mit „konspirativen Grüßen“ verabschiedet und mit dem fröhlichen Wunsch: „Viel Spaß bei der Spurensuche an der Isar! Eure SOKO / KRIMIFESTIVAL MÜNCHEN.“

Man mag das gedanken- oder geschmacklos finden, aber vielleicht auch gewitzt und heilsam im psychotherapeutischen Sinn. Erfundene Schreckensszenarien und gespielte Ängste von realen Gefahren und ernsten Befürchtungen zu unterscheiden, gehört zu den Fähigkeiten, die wir täglich brauchen. Wir haben sie eingeübt, um uns selbst und anderen das Überleben zu ermöglichen oder vor Schaden zu bewahren. Wer reale Gefahren für bloß erfundene hält, versäumt Reaktionen, die eine Rettung ermöglichen, und wer erfundene oder eingebildete Gefahren für real hält, wird zu Reaktionen mit potentiell katastrophalen Folgen provoziert.

Am Terrortag in München sprang eine junge Amerikanerin aus dem zweiten Stock eines Hauses und entging nur mit Glück einer Querschnittslähmung. Wie in anderen Städten davor und danach wurde die kriminelle Gewalt in München nicht nur zu einer Herausforderung für die Polizei oder die Notärzte, sondern auch für Psychiater und Psychotherapeuten. Sogar von den Medien wurden diese vielfach konsultiert – im Hinblick auf die Psyche des Täters wie auf die kollektive Angst, die er mit seiner Tat verbreitete. „Seit den Gewalttaten von Würzburg, München und Ansbach greift die Angst wie ein Virus um sich“, konstatierte ein Artikel vom 30. Juli in der Süddeutschen Zeitung. Die Journalistin Christina Berndt berichtet hier über die Erfahrungen, die Peter Falkei, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität München, mit den Reaktionen seiner Patienten machte, bei denen die Fortschritte der Behandlung durch die Ereignisse zunichte gemacht wurden. Auch bei seinen „gesunden“ Nachbarn riefen sie Schlafstörungen und lähmende Aktivitätsblockaden hervor. Der Psychiater empfiehlt Strategien, mit denen rationale Distanz zu den eigenen Ängsten aufgebaut werden kann. „Das Problem der Angst ist ja, dass die kognitive Kontrolle über das eigene Handeln aussetzt“, so wird er zitiert. Die Nervenzellen der Amygdala überfluten das Hirn und deformieren die klaren Gedanken. Man müsse versuchen, die Kontrolle über sie zurückzugewinnen. Einer Patientin erklärte er, so referiert ihn der Zeitungsartikel, „dass vom Straßenverkehr für sie ein viel größeres Risiko ausgeht als von einem Attentat.“

Den Glauben an die Macht aufgeklärter und aufklärender Vernunft bestärken auf andere Weise auch viele Kriminalromane. Etliche Beiträge zum Themenschwerpunkt dieser Ausgabe von literaturkritik.de weisen darauf hin. Im Rahmen des Master-Studiengangs „Deutsche Literatur“ der Universität Marburg haben Manuel Bauer und die TeilnehmerInnen an seiner Lehrveranstaltung, die praxis- und projektorientiert in die Arbeitsabläufe einer literaturkritischen Zeitschrift einübt, diesen Schwerpunkt ausgearbeitet. Er knüpft thematisch an ein ähnliches Projekt im vorangehenden Semester an, dessen Ergebnisse in der März-Ausgabe dieses Jahres unter dem Schwerpunkt-Thema „Das Unheimliche“ veröffentlicht wurden. Der jetzige Schwerpunkt zur Kriminalliteratur hat erklärtermaßen vorrangig ein Erzählmodell im Blick, „das nicht mehr das Verbrechen allein, sondern die Enthüllung des Tathergangs durch Ermittlungen und logische Überlegungen eines Detektivs in den Mittelpunkt stellt.“

Es geht in diesem Genre, so erklärt hier ein langjähriger Spezialist in diesem Forschungsfeld, um die „Aufklärung des Verbrechens durch einen Ermittler.“ Eine Krimi-Autorin wiederum erläutert in einem Interview das Muster mit den Sätzen: „Meistens überleben die Kommissare und die großen Sympathieträger, und am Ende ist die Welt wieder ein bisschen in Ordnung. Das ist im Krimi besser als in der richtigen Welt.“ Der Schwerpunkt zeigt aber zugleich, wie vielfältig dieses Muster variiert, mit ihm experimentiert und auch von ihm abgewichen wird, was die Literaturwissenschaft dazu bisher erkannt oder ignoriert hat.

Von den Ängsten, mit denen die Kriminalliteratur umgeht, ist dabei selten ausdrücklich die Rede, aber sie sind im Hintergrund stets präsent. In der englischen Bezeichnung ,Thriller’ für eine bestimmte Spielart des Krimis ist der erregende Nervenkitzel der in Szene gesetzten Gefahren ausdrücklich benannt. Die Angst vor Mördern ist für die meisten Kriminalgeschichten konstitutiv, aber das literarische Spiel mit Ängsten ist nicht auf Kriminalliteratur beschränkt, sondern für viele andere literarische Gattungen und auch für nicht literarische Künste von dominanter Bedeutung. Friedrich Schiller war zwar auch Autor der Kriminalgeschichte Der Verbrecher aus verlorener Ehre, aber seine ästhetischen Reflexionen über die Faszinationskraft des Angsterregenden tangieren dieses Sujet nur als eines unter vielen anderen. Seine Abhandlung Über die tragische Kunst beginnt mit dem bemerkenswerten Absatz:

Der Zustand des Affekts für sich selbst, unabhängig von aller Beziehung seines Gegenstandes auf unsere Verbesserung oder Verschlimmerung, hat etwas Ergötzendes für uns; wir streben, uns in denselben zu versetzen, wenn es auch einige Opfer kosten sollte. Unsern gewöhnlichsten Vergnügungen liegt dieser Trieb zugrunde; ob der Affekt auf Begierde oder Verabscheuung gerichtet, ob er seiner Natur nach angenehm oder peinlich sei, kommt dabei wenig in Betrachtung. Vielmehr lehrt die Erfahrung, daß der unangenehme Affekt den größeren Reiz für uns habe und also die Lust am Affekt mit seinem Inhalt gerade in umgekehrtem Verhältnis stehe. Es ist eine allgemeine Erscheinung in unserer Natur, daß uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt, daß wir uns von Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen. Alles drängt sich voll Erwartung um den Erzähler einer Mordgeschichte; das abenteuerlichste Gespenstermärchen verschlingen wir mit Begierde und mit desto größerer, je mehr uns dabei die Haare zu Berge steigen.

In der Malerei ist Hieronymus Bosch, dem zwei Beiträge in dieser Ausgabe aus Anlass seines 500. Todestags gewidmet sind, ein besonders markantes Beispiel für die Anziehungskraft des Schrecklichen. Auf der rechten Seitentafel seines Triptychons Der Garten der Lüste werden die menschlichen Seelen „auf jede erdenkliche Weise von teuflischen Monstern unter Verwendung unzähliger, von Menschen geschaffener Folterapparate gequält.“ Mit subtilen Techniken werden hier die Höllenängste allerdings dadurch genießbarer, dass der Betrachter auf Distanz gehalten wird. Zu diesen Kunstgriffen gehören, nicht nur bei diesem Maler, die Mittel der grotesken Komik, mit denen der Schrecken durch Humor überspielt wird und dadurch leichter genießbar ist.

Nicht nur die Literatur, die Malerei oder der Film partizipieren an den lockenden Reizen des Schrecklichen, sondern vor allem auch die Massenmedien mit ihren aktuellen Meldungen, Berichten und Geschichten über gegenwärtige Angstanlässe unterschiedlichster Art. Die Attraktivität der Zeitungen und des Fernsehens lebt von der Attraktivität des aktuellen Schreckens in ganz erheblichem Maße. Und wie die Berichte den Schrecken in Szene setzen, ist zu einem wichtigen Forschungsfeld der Medienwissenschaften geworden. Ein Beitrag in dieser Ausgabe erinnert aus aktuellem Anlass an eine bereits 2008 erschienene Studie mit dem Titel Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Es ist dies auch eine Geschichte der Faszination, die von dieser Form fürchterlicher Gewalttaten beziehungsweise von den Berichten darüber ausging. An dieser Geschichte hatte nicht zuletzt die Literatur Anteil, oft in enger Verbindung mit oder angeregt von Publikationen in Zeitungen. Stefan Zweigs 1922 erschienene Novelle Der Amokläufer ist dafür ein relativ frühes Beispiel. Sie ist bezeichnender Weise zuerst in der Wiener Neuen Freien Presse veröffentlicht worden.

Ein neues Buch zu dem Thema, von zwei Kriminalwissenschaftlern herausgegeben, das in unserer Zeitschrift noch zu rezensieren ist, trägt den Titel Die mediale Inszenierung von Amok und Terrorismus und enthält etliche Beiträge Zur medienpsychologischen Wirkung des Journalismus bei exzessiver Gewalt. Ein Kapitel über die „Wirkung von nicht-fiktionalen Medieninhalten“ liefert das Stichwort für eine Unterscheidung, deren Relevanz im Zusammenhang mit der Faszination des Schrecklichen umstritten ist. Dass die „nicht-fiktionalen“ Geschichten über Amokläufer die fatale Wirkung haben können, davon faszinierte Nachahmungstäter hervorzubringen, wurde zuletzt in München deutlich und ist seither von Zeitungen vielfach selbstkritisch reflektiert worden. Das berühmteste Beispiel dafür, dass aber auch fiktive Figuren in literarischen Texten tödliche Nachahmungen zur Folge haben können, lieferte im 18. Jahrhundert die „Krankheit zum Tode“, von der Goethes Werther erzählt.

Im Hinblick auf positive oder negative emotionale Wirkungen von Texten oder Bildern, die von schreckenerregenden Ereignissen erzählen, ist die Unterscheidung von Fiktion und Realität vermutlich gegenüber anderen Unterscheidungen sekundär. Und oft fällt sie so schwer wie die zwischen Wahn und Wirklichkeit in der Psychopathologie der Angst. Vorstellungen, die von Ängsten generiert werden, haben generell hypothetischen Charakter. Wie Hoffnungen sind Ängste Zukunftsphantasien darüber, was sich in mehr oder weniger ferner Zeit mehr oder weniger wahrscheinlich ereignen könnte. „Spannung“, die von der antiken Rhetorik als eine Mischung von Furcht (metus) und Hoffnung (spes) charakterisiert wurde, entsteht beim Warten darauf, welche dieser Phantasien sich bewahrheiten.

Dass die strikte Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität für die Lust am Schrecklichen zweitrangig ist, zeigt auch die Fragwürdigkeit einer zunächst sehr plausibel wirkenden These, die vor einem halben Jahrhundert Richard Alewyn formuliert hat, von anderen später vielfach aufgegriffen wurde und für die diese Unterscheidung fundamental ist. Alewyn war einer der ersten Literaturwissenschaftler, die sich eingehend mit dem Phänomen der „Literarischen Angst“ befasst haben. Im Blick auf die Vorgeschichte des Kriminalromans entwarf er die Theorie, dass die Angst in der Literatur erst zu einem Zeitpunkt ihre Attraktivität gewinnt, als die Angst im realen Leben zu verschwinden beginnt. Während man noch weit in die Neuzeit hinein Angst vor Dämonen, Gespenstern, Nacht und Gewitter als sozusagen normal belegen kann, werden diese Ängste infolge der theoretischen und praktischen Rationalisierung der Natur zunehmend abgebaut, bis schließlich die alten Angstanlässe zu einer Quelle der Lust werden können. Hatte man bislang Nacht, Wald, Gebirge oder Gewitter literarisch gemieden, so werden sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu bevorzugten Gegenständen der Dichtung. In diese Zeit fällt die Entstehung der Gattung des Schauerromans in England, die um die Jahrhundertwende den literarischen Geschmack in ganz Europa beeinflusst.

Ein Blick auf die Gegenwart zeigt dagegen deutlich, dass sich die literarisch dargestellten und beim Lesen evozierten Ängste von denen, die durch nicht-fiktionale Nachrichten und Geschichten in Zeitungen und anderen Medien angesprochen und verbreitet werden, kaum unterscheiden. Im Gegenteil: Sie ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Beim Schreiben dieser Sätze erreicht die Redaktion unserer Zeitschrift die werbende Ankündigung eines Buches mit dem Titel Die Attentäter.

In „Die Attentäter“ erzählt Antonia Michaelis in meisterhafter Eindringlichkeit die hochemotionale Geschichte eines jungen Mannes, der zum IS-Kämpfer wird. Ein packender, psychologisch dichter Roman zu einem höchst aktuellen Thema mit einem faszinierenden Protagonisten, der den Leser so schnell nicht wieder loslässt. Mit „Die Attentäter“ gelingt Antonia Michaelis ein beklemmender Blick in die Abgründe des Terrors.

Dass es sich um einen „Roman“ handelt, wird hier (anders als in der Verlagsvorschau oder dem Eintrag im Verzeichnis lieferbarer Bücher) ausdrücklich gesagt und damit ein deutliches Fiktionalitätssignal gesetzt. Dass das Erfundene die Realität verarbeitet, wie wir sie sehend, hörend oder lesend von den Nachrichten vermittelt bekommen, erklärt die Autorin in einem Vorwort zu den Leseexemplaren für Buchhändler: „Es gibt keine einfachen Lösungen. / Aber wir müssen so lange hinsehen, bis wir Lösungen finden, und wenn wir die Bildschirme anstarren, bis unsere Augen tränen, wenn wir die Nachrichten hören, bis wir uns übergeben. Und wenn es Jahrzehnte dauert.“

Nur in der Hoffnung auf Lösungen für die Ereignisse und Probleme, die zu solchen Ängsten führen wie der Terrorismus, sind die Nachrichten darüber einigermaßen erträglich – oder sogar faszinierend. Lösungen zu finden, versprechen nicht nur fiktionale Romane oder Filme, sondern auch faktuale Berichte und Geschichten mit angsterregenden Inhalten – oft schon mit den Überschriften. Die Titel-Themen des Spiegel im vergangenen Monat waren symptomatisch für die Befürchtung, die der US-amerikanische Historiker und Holocaustüberlebende Fritz Stern angesichts von Armut, Kriminalität, Terror und autoritären Systemen in der Welt wenige Wochen vor seinem Tod in einem seiner letzten Interviews äußerte: dass ein „neues Zeitalter der Angst“ begonnen hat. Und diese Überschriften geben zumindest in zwei Fällen zugleich Signale der Hoffnung: Sind wir stärker? Wie Deutschland sich gegen den Terror wehren kann (30.7.), Urlaub in Angst. Terror verändert das Reisen. Also was tun? (9.7.), Diktator Erdogan und der hilflose Westen. Es war einmal eine Demokratie (23.7.). So drei dieser Ausgabentitel des Nachrichten-Magazins. Und neben den kürzer gewordenen Meldungen über das Flüchtlingselend und den so beängstigenden wie beschämenden Hass auf Flüchtlinge in einem Land, aus dem nach 1933 viele vor dem Nazi-Terror fliehen mussten, stand in einer weiteren Ausgabe die Titel-Geschichte über eine neuartige Gefahr auch für Deutschland: Das gefährlichste Tier der Welt. Die tödliche Invasion der Mücken (16.7.). Eine Folge des Klima-Wandels? Kann man sich wehren, was kann man tun?

Nach Alewyns These müsste in einer von zunehmenden Ängsten dominierten Zeit die Lust an angsterregenden Romanen oder Filmen erheblich nachlassen. Das ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Und dasswir die Bildschirme anstarren, bis unsere Augen tränen“, und „Nachrichten hören [oder lesen], bis wir uns übergeben“, würden wir uns nicht antun, wenn wir dabei nicht etwas von jenem „Ergötzen“, jenem „Reiz“, jenem „unwiderstehlichen Zauber“ (Friedrich Schiller) empfinden würden, der auch als „Thrill“ oder „Angstlust“ bezeichnet wird. Dass wir uns von „Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen“ (noch einmal Schiller), unterliegt allerdings bestimmten Bedingungen, ohne die uns die Lust an der Angst vergeht. Fiktionale und faktuale Darstellungen des Angsterregenden unterliegen ihnen gleichermaßen und nutzen sie mehr oder weniger bewusst, um für die Rezipienten überhaupt genießbar zu sein.

Was Thomas Mann über Heinrich von Kleist und seine Erzählungen schrieb, um sie den amerikanischen Lesern schmackhaft zu machen, betrifft nicht nur diese und keineswegs nur die Literatur: „Er weiß auf die Folter zu spannen – und es fertig zu bringen, daß wir’s ihm danken“. Wir haben zu danken, weil wir offensichtlich Lust empfinden, auf die Folter gespannt zu werden. Und diese Lust ist keineswegs auf Literatur und andere Künste beschränkt. Ein paradoxes, rätselhaftes Phänomen ist da angesprochen, das immer wieder zu Erklärungen verschiedenster Art herausgefordert hat. Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen reflektiert ein Aufsatz von Schiller. Den Titel leicht variierend, lohnt es sich, der Frage nach den Gründen und Bedingungen des Vergnügens an angsterregenden Gegenständen nachzugehen. Sie wird immer neu gestellt, weil die Antwortversuche nie ganz überzeugen können.

Eben erst ist darüber im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung (11.8.) ein kleines Interview mit dem mexikanischen Schriftsteller Juan Villoro erschienen. Der Schauplatz seines Romans Das dritte Leben (vgl. die Rezension „Gefahr ist das beste Aphrodisiakum“ in unserer Mai-Ausgabe) ist ein Luxushotel in der mexikanischen Karibik, in dem der Geschäftsführer, so erläutert der Autor, „Unterhaltungsprogramme mit ,erholsamer Paranoia’“ anbietet. „Er will die Gäste dazu bringen, an der Angst Vergnügen zu haben.“ Touristen lassen sich tagsüber von einer fingierten Guerilla entführen und betrachten abends am Pool „mit wohligem Schaudern ihre Verletzungen“. Auf diese und andere Weisen „bietet das Hotel ein bedrohliches Paradies. Das ist viel spannender als nur ein simples Paradies.“ Auf die Frage, warum sich Menschen „in den Ferien so etwas antun“ sollten, antwortet der Autor:

Manchmal brauchen wir ein „Extra“ – eine Erschütterung oder eine Gefahr –, um uns lebendig zu fühlen. Warum springen Leute mit Fallschirmen vom Himmel? Zu spüren, dass du sterben könntest, es aber nicht tust, sondern dich wie durch ein Wunder rettest, gibt dir das Gefühl, an die Ewigkeit heranzukommen. Du fühlst dich als Herr deiner Existenz. Es ist leicht, den Unsinn der Gewalt zu kritisieren. Schwierig ist es zu verstehen, dass darin etwas sehr Attraktives liegt.

Die Attraktion findet für die Hotelgäste ihr Ende, als es zum Ort realer Gewalt wird, eines Mordes. Für die Leserinnen und Leser des Romans bleibt sie bestehen. Aber nicht nur, weil auch die „reale“ Gewalt für sie eine Romanfiktion bleibt, sondern vor allem, weil der Roman ihr eine Hoffnung entgegensetzt: „So stellt der Roman auch einen Ausgang aus dem Desaster vor“, erklärt der Autor. „Ich suchte nicht nach einem Happy End, aber ich wollte zeigen, dass es ein anderes Mexiko gibt, ein verborgenes, fast geheimes Land, das jenseits von Gewalt solidarische Netze bildet.“

Signale der Hoffnung zu geben, ist ein bereits erwähntes Mittel, die Angst in genießbaren Grenzen zu halten. Ein weiteres ist, dem Angsterregenden mit Mitteln der Komik zu begegnen und es damit nicht ganz ernst zu nehmen. Auch zu diesem Mittel greift der Roman mit manchen satirischen Elementen. Und ein Beispiel dafür, wie dies in nicht-fiktionalen Nachrichten gelingt, lässt sich der ungeheuren medialen Aufmerksamkeit entnehmen, die seit Monaten dem Wahlkampf in den USA gewidmet wird. Eine Glosse in dieser Ausgabe geht ebenfalls auf ihn ein. Die Medienattraktivität dieses Wahlkampfs verdankt sich wesentlich der Angst vor Donald Trump, über den jetzt sogar aus seiner eigenen Partei zu hören ist, dass er „der gefährlichste Präsident der amerikanischen Geschichte“ wäre. So wie er sich selbst inszeniert und wie er von den Medien in Szene gesetzt wird, wäre er zugleich der lächerlichste Präsident. Er wirkt so lächerlich, dass der Spiegel schon Anfang des Jahres warnte: „Es ist an der Zeit, Donald Trump ernst zu nehmen. Er ist der Anführer einer autoritären Bewegung voller Hass – und der aussichtsreichste Präsidentschaftsbewerber seiner Partei. Sein Amerika wäre zum Fürchten.“ Dahingestellt sei, was erschreckender ist: ein Donald Trump, der die Befehlsgewalt über amerikanische Atomwaffen erhalten könnte, oder die breite Masse der US-Amerikaner, die ihn wählen will. Die Lächerlichkeit des Mannes und die Hoffnung, dass er doch nicht gewählt wird, macht die Berichte über ihn – in Grenzen – zum spektakulären Vergnügen.

Wichtiger als der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist für die Genießbarkeit von Angst wohl der zwischen Nähe und Distanz, auch räumlicher, zeitlicher und kultureller. Wer ,hautnah’ in ein angsterregendes Geschehen involviert oder von ihm sogar körperlich gefährdet ist, kann der dadurch hervorgerufenen Affekterregung schwerlich Lust abgewinnen. Neben und oft zusammen mit Signalen der Hoffnung oder Komik sind Fiktionalitätssignale, die deutlich machen, dass dieses Geschehen nur erfunden ist, nur ein Mittel, Distanz zu schaffen, allerdings ein wichtiges: Zugleich mit dem Genussmittel der Erregung stellen fiktionale Künste der Angsterregung ein weiteres zur Verfügung: das Distanzgefühl der Sicherheit oder der Erleichterung, nicht real davon tangiert zu sein.

In fast keiner Theorie der Angstlust fehlt der Hinweis, dass es zu den Bedingungen dieser Lust gehört, ein Sicherheitsgefühl zu haben. Nur wenn wir fest damit rechnen können, dass die Achterbahn stabil ist, dass der Fallschirm sich öffnen wird, dass das Seil beim Bungee-Jumping nicht reißt, setzen wir uns der Geschwindigkeits- oder Höhenangst lustvoll aus. Der Psychoanalytiker Michael Balint, der 1959 eine noch heute erhellende Studie über „Angstlust“ vorlegte (Thrills and Regressions), beschreibt „drei charakteristische Haltungen“ bei allen Vergnügungen an Angsterregendem:

a) ein gewisser Betrag an bewußter Angst, oder doch das Bewußtsein einer wirklichen äußeren Gefahr; b) der Umstand, daß man sich willentlich und absichtlich dieser äußeren Gefahr und der durch sie ausgelösten Furcht aussetzt; c) die Tatsache, daß man in der mehr oder weniger zuversichtlichen Hoffnung, die Furcht werde durchgestanden und beherrscht werden können und die Gefahr werde vorübergehen, darauf vertraut, daß man bald wieder unverletzt zur sicheren Geborgenheit werde zurückkehren dürfen. Diese Mischung von Furcht, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr ist das Grundelement aller Angstlust (thrill).

Das Sicherheitsgefühl ist auch dann garantiert, wenn das Schreckenerregende sich nur in der literarisch, bildnerisch oder filmisch stimulierten Phantasie ereignet. Der Theaterzuschauer, konstatiert Freud in seinem Aufsatz über Psychopathische Personen auf der Bühne, identifiziert sich in seinen Wünschen und starken Affekten mit dem Helden eines Stückes

nicht ohne Schmerzen, Leiden und schwere Befürchtungen, die fast den Genuß aufheben […]. Daher hat sein Genuß die Illusion zur Voraussetzung, das heißt die Milderung des Leidens durch die Sicherheit, daß es erstens ein anderer ist, der dort auf der Bühne handelt und leidet, und zweitens doch nur ein Spiel, aus dem seiner persönlichen Sicherheit kein Schaden erwachsen kann.

Wie beim Spielen oszilliert beim Lesen oder Schauen die bewegte Psyche zwischen dem Glauben an die reale Präsenz des imaginierten Geschehens und dem Wissen um dessen illusionären Schein. Wir tauchen freiwillig in ihn ein und haben die Freiheit, wieder aus ihm aufzutauchen und Distanz zu gewinnen. Wir können die Augen schließen, das Buch zuklappen und uns sicher im Sessel sitzen fühlen. Die mediale Vermittlung des Schrecklichen ermöglicht in der Regel eine Distanz, die jener gleicht, die man als Zuschauer eines in der Ferne sich ereignenden Katastrophenszenarios hat. Dann kann man sich vom Schrecklichen innerlich erschüttern lassen, ohne von den damit verbundenen Risiken und Schocks real betroffen zu sein. Es gibt einige in diesem Zusammenhang mit dem Stichwort „Schiffbruch mit Zuschauern“ gerne zitierte Verse von Lukrez aus seinem Lehrgedicht Über die Natur der Dinge, die diese Situation thematisieren und dabei eine Theorie der Lust am Schrecklichen formulieren, die später immer wieder aufgegriffen wurde:

Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde
Auf hochwogendem Meer vom fernen Ufer zu schauen;
Nicht als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen,
Sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist.
Süß auch ist es, zu schauen die gewaltigen Kämpfe des Krieges
In der geordneten Schlacht, vor eignen Gefahren gesichert.

Mit dem Titel Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern hat Hans Christoph Buch in einem 2011 erschienenen „Romanessay“ auf diese Verse angespielt. Neben den Kriegen in Afrika hatte er die gekenterten Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer bereits im Blick. In einem dem Essay beigefügten Brief von 2008 an den damaligen Bundespräsidenten schrieb er: „Die Frage stellt sich, wer oder was zynischer war: Bismarck, der die Zivilisierung Afrikas versprach und gleichzeitig den Kontinent mit billigem Fusel aus seiner Schnapsfabrik überschwemmte, oder das salbungsvolle Gerede von Menschenrechten und Demokratie, während Bootsflüchtlinge aus Afrika in Sichtweite Europas ertrinken.“

Angesichts der Realität von Kriegs- und Fluchtszenarien können die Verse von Lukrez und das mit ihnen beschriebene „Ergötzen“ der Zuschauer ebenfalls zynisch wirken. Nach der psychologischen These der Verse  besteht die Lust am Schrecklichen aber nicht etwa in Schadenfreude darüber, dass anderen ein Unglück passiert, und sie schließt das Mitleid mit ihnen nicht aus. Die Angstlust besteht darin, dass man sich in der Distanz des Zuschauers bewusst wird, „von welcher Bedrängnis man frei ist“ oder „vor eignen Gefahren gesichert“ zu sein. Erst in der Konfrontation mit den Schrecken, die andere zu erleiden haben, bemerken wir mit Erleichterung, woran wir uns schon allzu sehr gewöhnt haben: dass es uns vergleichsweise gut geht, wir in einigermaßen gesicherten Verhältnissen leben, dass es uns zumindest besser geht als denen, die in das schreckliche Geschehen direkt involviert sind. Dieses Wissen kann ungemein erleichternd sein. Es gleicht dem Moment beim Aufwachen aus einem Alptraum, in dem man aufatmend feststellt, dass das emotional nicht mehr Erträgliche nur das Produkt der Phantasie war.

Wer, in der Fiktion oder in der Realität, einen Toten vor sich hat oder jemanden sterben sieht, kann neben Angst,Trauer oder anderen Emotionen ein euphorisches Gefühl darüber entwickeln, dass er selbst noch lebt. Elias Canetti hat in Masse und Macht dieses psychische Phänomen als einen „elementaren Triumph“ beschrieben: „Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht. Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in eine Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote“. Goethe griff wiederholt auf ein ähnliches Erklärungsschema der Lust am Schrecklichen zurück. In seiner Novelle wird diese Lust reflektiert. Auf einem Jahrmarkt betrachten der Fürst und die Fürstin ein Gemälde, in dem ein Tier auf einen Mohren losspringt und ihn zu zerreißen droht. Der Fürst kommentiert das Bild mit den Worten: „Es ist wunderbar […], daß der Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. […] Es ist an Mord und Totschlag noch nicht genug, an Brand und Untergang; die Bänkelsänger müssen es an jeder Ecke wiederholen. Die guten Menschen wollen eingeschüchtert sein, um hinterdrein erst recht zu fühlen, wie schön und löblich es sei, frei Atem zu holen“.

Mit solchen Beobachtungen und Überlegungen sind die Fragen nach den Gründen, Arten und Voraussetzungen des Vergnügens an angsterregenden Gegenständen gewiss nur zu einem kleinen Teil beantwortet. Ihnen genauer nachzugehen, gehört zu den Aufgaben der interdisziplinären Emotionsforschung. Bereits im 18. Jahrhundert, in dem die Fundamente der empirischen Psychologie gelegt wurden und in dem die Lehre von der Kunstwahrnehmung, die Ästhetik, die in eminentem Maße Psychologie und tendenziell auch Psychopathologie war, sich als eigenständige Disziplin etablierte, wurde auf bemerkenswertem Niveau reflektiert, dass Unlustgefühle wie Trauer oder Angst auf paradoxe Weise mit Lustgefühlen einhergehen können. Schiller prägte dafür den Begriff „gemischte Gefühle“ und hatte dabei vor allem solche im Blick, die Edmund Burke seinerzeit mit dem Begriff „delightful horror“ kennzeichnete. In der jüngeren Emotionsforschung operiert man bei der Beschreibung solcher Gefühlsmischungen zum Teil mit anderen Begriffen: etwa mit der Unterscheidung zwischen Emotionen erster und zweiter Ordnung oder Primär- und Meta-Emotionen. Eigene (Primär-)Ängste können ein Anlass sein, sich über sie zu ärgern oder Angst zu entwickeln, von ihnen überwältigt zu werden, oder sich für sie zu schämen. Sie können aber auch als aktivierende Stimulanz und Hilfe gegen Langeweile geschätzt werden oder als Bewährungsprobe dafür, was man alles ertragen kann. Und die Angstlust wiederum kann als heilsamer Schutz vor lähmendem Entsetzen bewertet, als nützlicher Anreiz zur spielerischen Einübung des angemessenen Umgangs mit Angsterregendem akzeptiert oder als zynische Mitleidslosigkeit gegenüber den Opfern schrecklicher Ereignisse verachtet werden. An der Emotionsforschung ist die Literaturwissenschaft inzwischen intensiv beteiligt und sie hat, auch in dieser Zeitschrift, seit über einem Jahrzehnt ein bemerkenswertes Interesse auf sich gezogen. Für die September-Ausgabe von literaturkritik.de ist sie erneut als Themenschwerpunkt vorgesehen.

Mit Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, insbesondere an diejenigen, die an der August-Ausgabe engagiert mitgewirkt haben, wünscht unseren Leserinnen und Lesern im Namen der Redaktionen einen spannenden, entspannten und lustvollen Ferien- und Lesesommer

Thomas Anz